„Am Abend mancher Tage
Eine Spurensuche in Mitteldeutschland“
als Buch erschienen im Wartburg-Verlag
Weimar, 2008, Hardcover, 208 Seiten, 18,50 Euro, 2 Auflagen, ISBN
978-3-86160-401-3
© Joachim
Krause 2008
© © © © ©
© © © ©
Alle
Rechte liegen beim Autor.
Die Übernahme (z.B. Kopieren, Speichern auf einem PC) und Vervielfältigung des
ganzen Textes oder von Teilen davon oder eine anderweitige Nutzung sind ohne
ausdrückliche Zustimmung NICHT gestattet !
© © © © ©
© © © ©
Im Folgenden können Sie im Text „schnuppern“.
Die Überschriften aller Einzel-Kapitel sind angegeben.
In Abständen sind LINKS eingefügt, über die Sie sich direkt zu bestimmten Textstellen
bewegen können.
Hier
finden Sie einige Informationen zum Autor
Hier finden Sie einige Rezensionen zu diesem Buch
INHALT:
Vorspruch Link
1. Aus den ersten Jahren (1946 bis 1953) Link
Lebenslauf-Skizze I
2. Dorfkinderzeit (1953 bis 1961) Link
Lebenslauf-Skizze
II
Aufbruch
in die Neue Welt
Zwergschule
Link
Sport
mit Hindernissen
Der
große Knall
Fahnenappell
Kirchturmhorizont
Link
Beim
„Bäcke“ Link
Spielplatz
Bauernhof
Besuch
in der „Guten Stube“ und Scheunen-Artistik
Tetzners
Holz und Dietzmanns Sandgrube Link
Kirschen
klauen
Kinderarbeit
Link
Kühe
hüten und Sonnenfinsternis
Federvieh
und Russenjagd
Liesel
von der Post
Zu
Hause leben und sterben
Röntgenreihenuntersuchung
Link
Wirtshaus
Bach
andämmen
Bettel-Kinder
Blasebalg-Treten
Die
Einsamkeit von Straßendorf-Kindern
Umsiedler
Lange
Leitung zum Fräulein vom Amt Link
Himmelhupp
und Gliggser
Rodelspaß
und Zwirnseln
Der
Landfilm kommt
Nasspresssteine
Link
Lebenskunde
Karbid
und Motzen
Weiden-Ernte
Sintflut
Seuchenalarm
Feuerläuten
Der
erste Fernseher Link
Absatz-Reißer
Eulenkinder
Als
es noch Maikäfer gab Link
Für
´n Groschen frisches Brot
Hamsterschreck
Link
Der
Alltag zum Selbermachen: Von Heu-
und
Kartoffel-Anbau, Narzissenbeeten und
Wasserleitungsbau
Link
Leibchen
Der
Postbus
Zwischen
Küche und Keller
Waschtag
Link
Mein
erster Indianer
Geburtstagsrituale,
schwarzer
Streuselkuchen
und Laubsäge-Stress
Sommerfrische
Goldene
Zeiten
Der
Frosch in der Wasserleitung
Autoreparatur
mit Säge und Hobel Link
Karriereknick
Das Dienstfahrrad
Der schreiende Hase
„Pfarrer
Krause lehnt den Frieden ab“
3. Flugversuche (1961 bis 1970) Oberschule und
Studium Link
Um Haaresbreite
Partytime
Der Rock ´n´
Roll – King
Kampfsport
Schnellkurs für Gitarre – fit in drei
Minuten
Twist and Shout Link
Über Heinz Quermann zu den „Meridas“
Mit „Gurkenwurm“ und „Rhabarberschnecke“
auf die große Bühne
Flugversuche
Urlaub in der Leinwandvilla Link
Das Wunder von Stralsund
Studentenleben
Erste Wahl Link
Anders sein als die anderen anderen
Sturz-besoffen
Chemie ist
das, was kracht und stinkt ... (I)
Chemie ist
das, was kracht und stinkt ... (II)
Mutproben
Kohlkopf auf
Nonnevitzens Dünen
4. Das volle Leben – vor der Wende (1970 bis 1989)
Beruf, Familie und Opposition Link
Lebenslauf-Skizze III
Wohnglück mit Schlafbunker
ABC des Lebens Link
„Über mich“
Feindberührung Link
Alternative Konzepte?
Verbotene Welten
Frechheit siegt Link
Unterweltfestspiele
Knast als reale Möglichkeit
Gefährliche Offenheit
Trabant I: Überlebenstraining
Postkontrolle
Tschernobyl und die Folgen Link
Die Macht der Eingaben und der Zitate
Westkontakt
Wunderbare Jahre
Biermann-Abend in Weinberg Link
Rezept zur Bereitung eines köstlichen
PLOW Link
Familie
Schubert
„Unser Schulhof strahlt“
Heißer
Herbst
Wende I (aus
meinem Jahresbrief über das Jahr 1989) Link
Wende II
(aus meinem Jahresbrief über das Jahr 1990)
Hoch hinaus
1991 (aus meinem
Jahresbrief)
1992 (aus
meinem Jahresbrief)
1993 (aus
meinem Jahresbrief)
Vom Kiffen
und Bremsen
1998 (aus
meinem Jahresbrief)
Geschichten
erzählen. Davon berichten, wie das so war, damals. Geschichten, die nur ich
erzählen kann, einfach weil ich dabei gewesen bin. Aber ist das, woran ich
mich erinnere, wirklich so gewesen, wahr auch in einem objektiven Sinne? Oder
ist es wahr nur für mich, so aufbewahrt nur in meiner Erinnerung? Ist
vielleicht vieles in der Wirklichkeit anders gewesen oder hat überhaupt nicht
so stattgefunden, oder an anderem Ort, oder mit anderen beteiligten
Personen? Wie geraten Erlebnisse als „mein Leben“ ins Gedächtnis? Weil ich
etwas als besonders eindrücklich erlebt habe, weil eine Begebenheit, an der
ich beteiligt war, von anderen immer und immer wieder erzählt wurde - mit
Betonung auf bestimmten Details, gefiltert, geglättet, ausgeschmückt, weil
manche Geschichten beim Erzählen „gut ankamen“? Und im Nebel des Vergessens
liegt begraben, was eben nie erzählt wurde und keine Chance hatte, bewahrt zu
werden, oder was unbequem war und schamhaft oder listig verschwiegen blieb?
Ich bin mir im
Laufe der Jahre unsicherer geworden, wo authentische Wahrheit ist und wo die
Erlebnisse und Erzählungen anderer sich mit meinem Erinnern verschmolzen haben.
Ich werde also
versuchen, Geschichten zu erzählen vom Leben, wie ich es erlebt habe, eingebettet
in ein bisschen Geschichte.
Private Dinge aus dem inneren Kreis der Familie sind
dabei weitgehend ausgespart worden.
Als ich anfing
zu schreiben, war ich neugierig, wie viele Geschichten so etwa zu einem - zu
meinem - Leben gehören könnten. Würden es fünfzig, hundert oder noch mehr
sein? Es sind nun knapp zweihundert zusammen gekommen.
(1946 bis 1953)
Ich bin ein
Nachkriegskind. Mein Vater war Pfarrer. Meine Mutter hatte eigentlich den
Beruf einer „landwirtschaftlichen Lehrerin“ erlernt. Aber Pfarrersfrau zu
sein, brachte für sie so viele Verpflichtungen und Verbindlichkeiten mit sich,
dass sie zeitlebens „Hausfrau“ blieb. Wir lebten zunächst sechs Jahre in einer
kleinen Stadt in Südwestsachsen. In dieser Zeit wurden meine beiden
Geschwister geboren, eine Schwester und ein Bruder.
Geboren bin ich
– wenn ich den Berichten anderer Leute und den hierzu vorliegenden Urkunden
trauen darf - mitten im bitterkalten Dezember des Jahres 1946 im
großelterlichen Haus in einem Thüringer Dorf. Ich konnte erst durch heftige
Schläge dazu bewegt werden, überhaupt Luft zu schnappen, und ich muss - als
Kind der Nachkriegshungerzeit - ziemlich mickerig von Gestalt auf die Welt
gekommen sein, sodass meine Überlebens-Chancen zunächst gar nicht rosig eingeschätzt
wurden. Aber ich hielt durch, genährt von Muttermilch. Und ich konnte mich
revanchieren. Meine Eltern bekamen für mich ja zusätzliche Lebensmittelkarten,
die wiederum ihr Überleben erleichtert haben. Im zarten Alter von zwei Wochen
wurde ich in dicke Kissen gepackt und nach Sachsen gebracht. Dort lebte ich
dann fast sieben Jahre lang in einem Mietshaus, das neben der Kirche einer
kleinen Stadt stand. In meiner Erinnerung blieb, dass es dort viele Steine und
Mauern gab, einen klitzekleinen Garten, und dass in jedem Treppenhaus und vor
jeder Haustür viele viele andere Kinder waren.
Was sind
eigentlich so die frühesten Erinnerungen, die für mich zu greifen sind?
Noch Jahrzehnte später wehen manchmal Gerüche oder Töne vorbei, die
irgendwelche Ur-Erlebnisse zum Schwingen bringen, aufgeregt machen, aber das
Graben und Grübeln nach konkret fassbaren und beschreibbaren Erinnerungen
bleibt erfolglos – da war etwas Wichtiges, aber da waren keine Worte und
Begriffe, es festzuhalten.
Dann nehmen einzelne Bilder konkretere Gestalt an. Oft sind solche Erinnerungen
laut und grell und aufregend – Katastrophen merkt man sich einfach besser.
Als meine
kleine Schwester zwei Jahre alt wurde - da war ich schon dreieinhalb -, gab´s
eine Geburtstagsfeier. Ich sehe die Details noch sehr deutlich vor mir: wie
wir in der Küche saßen, wie das Schwesterchen seinen blonden Lockenkopf weit
nach vorn reckte, um die lustig flackernden Kerzen ausblasen zu können, wie
die Flamme ihre Lockenpracht erfasste. Der Vater schnappte geistesgegenwärtig
sein Kind, schleppte es zum Waschbecken, der Wasserhahn ward geöffnet und das
Kind gelöscht.
Irgendwann in diesem Alter turnte meine Schwester auch einmal auf der
Steintreppe in unserem Mietshaus herum, wuselte immer wieder in der Nähe der
Mutter herum, die dabei war, die Treppe zu wischen. Neben ihr stand ein Eimer,
voll mit koch-heißem Wasser. Er war schon für Mutters nächste Tätigkeit
bestimmt, für die Wäsche im Waschhaus. Ein Fehltritt, ein spitzer Schrei – und
Schwesterchen saß mit seinem süßen Po im Eimer. Aufregung, Arzt, Krankenhaus,
sehr gedrückte elterliche Stimmung – und so blieb auch das im Gedächtnis
eingebrannt.
Wenige Monate
später wurde mein jüngster Bruder geboren, zu Hause übrigens, wie es damals
1950 noch weithin selbstverständlich war; auch ich und meine Schwester waren zu
Hause zur Welt gekommen. Man hatte uns Größere an diesem Tag wie immer in den
Kindergarten gebracht, aber als wir nach Hause kamen, war beim Mittagessen
irgendetwas anders, hektische Betriebsamkeit, ungewohnte Geräusche. Kindliche
Vermutungen wurden angestellt, schon meinte die Schwester es zu wissen: „Ein
klein Kindlein ist angekommen.“ Meine boshaft-ironische Antwort geriet in die
Familien-Überlieferung: „Wenn´s kein klein Kindlein ist, dann ist es ein
Quakfrosch.“
Drei Jahre
trabte ich tapfer an Mutters Hand quer durch unsere Kleinstadt in den
Kindergarten Manchmal wurden auch zwei bis drei Kinder gleichzeitig auf einem
Fahrrad hin jongliert. Gemerkt habe ich mir fast gar nichts, außer dem Namen
von „Schwester Hildegard“ – es war noch verwirrender, denn diese „Tante“ war
eigentlich „Diakonisse“.
Aber Heldentaten bleiben doch im Gedächtnis. Wir spielten im Freien an einer
Mauer aus großen Natursteinen, als plötzlich die Mädchen schreiend wegliefen.
Panik. Da war irgend etwas Schreckliches. Ich fasste Mut, nahm meine
Spielzeugschaufel fest in die Hand und wagte mich an den Ort des Grauens. Dort
wartete auf mich ein grimmiges schwarzes Ungeheuer. Es hatte eine nie gesehene
grässliche Gestalt – das musste ein Drache sein. Fairerweise muss ich gestehen,
dass ich kein Feuer aus seinem Maul kommen sah. Ich nahm die Schaufel, stürzte
mich todesmutig - und in Erwartung mädchenhafter Verehrung - auf den Feind und
hieb ihn in Stücke. Wirklich, ich habe den armen Kamm-Molch – ein solcher muss
es gewesen sein – wohl getötet. Das tut mir heute leid, aber den Stolz von
damals kann ich noch immer spüren.
Ein Wunder aus
der Kindergartenzeit war auch bedeutsam genug, um erinnert zu werden. Einmal
im Jahr war dort irgend ein Fest. Geheimniskrämerei,
Warten aller Kinder auf dem dunklen Gang vor dem Zimmer. Dann die offene Tür,
Kerzenschein und – auf den Tischen stand etwas, das nur direkt vom Himmel stammen
konnte. Grün und rot glitzerte ein verführerisches Geheimnis in Glasschälchen.
Götterspeise! Einmal im Jahr. Heiß ersehnt. Und dass die aus dem „Westen“ kam -
dort musste der Himmel seinen Ort haben! -, das habe ich damals schon
mitbekommen.
Ich war vier
oder fünf Jahre alt und war zu Besuch bei den Großeltern. Großer Garten,
Hühner, Neugier. Irgendwann beim Spielen im Hühnergarten war ich wohl dem
stattlichen Hahn in die Quere gekommen, der hier der eigentliche Herrscher war.
Jedenfalls stürzte er sich unvermittelt auf mich, kollerte und kratzte, saß
schließlich auf meiner Schulter und hackte immer wieder auf meinen Kopf ein. In
meiner Erinnerung war das gar nicht so schlimm, ich stand einfach da mit dem
hackenden Hahn auf dem Kopf, wohl schon leicht unter Schock. Aber der
Großmutter gefiel das überhaupt nicht, wie ihr Hahn immer weiter auf den
blutenden Enkel losging. Großes Geschrei, der Enkel wurde gerettet und
gepflegt. Der Hahn wurde gefangen und kam noch am gleichen Tag erst unters Beil
und dann in die Suppe – die ich mit essen durfte!
Irgendwann in
dieser Zeit bin ich der gleichen guten Großmutter im Garten etwas bockig begegnet,
jedenfalls rannte sie dann - nach einer Weile auch lachend ob des absurden
Wettlaufs, weil sie mich nicht einkriegte - kreuz und quer über Wiese und Beet
hinter mir her, und in der Hand hatte sie einen „Ochsenziemer“ oder auch
„Sieben-Riemer“. Das war ein durchaus übliches, kommerziell gefertigtes und
gehandeltes Werkzeug, das aus einem schön gedrechselten Holzgriff bestand, an
dessen oberen Ende sieben halbmeterlange dünne Leder-Riemchen fest angebracht
waren – damit konnte man wirksam Kinder „erziehen“. Zu der Zeit, als Großmutter
damit hinter mir her rannte, war das Ganze wohl nur noch eine Drohgebärde.
An das
familiäre Zuhause der ersten Jahre sind kaum Erinnerungen geblieben. Die eine
heißt: Krank sein. Das Gefühl von Langeweile, das stundenlange Starren an die
Zimmerdecke über dem Bett, in dem man liegen bleiben musste. Die ersehnte
Abwechslung, wenn Mutter endlich wieder kam und den Wadenwickel erneuerte, der
das Fieber herunter treiben sollte. Kaltes nasses Tuch wird um heißes
Kinderbein gewickelt, dazu gab´s irgendeinen Hustentee – so einfach war das damals
mit dem Gesundwerden, Ärzte habe ich als Kind kaum zu sehen bekommen. Und wenn
Nachbars Töchterlein Masern oder „Ziegenpeter“ hatte, dann wurden wir alle zum
Spielen hin geschickt, damit wir uns ansteckten und das, was zum Leben an
Beschwernissen eben dazu gehörte, schnell hinter uns bringen konnten. Ab und
zu wurden wir geimpft, mit der Pieksnadel gegen Pocken und Tuberkulose oder
würfelzucker-schluckend gegen Kinderlähmung. Das geschah als
staatlich-fürsorgliche Selbstverständlichkeit, und ich halte das auch heute
noch für richtig.
Zur frühen
Kindheit gehörten auch Spaziergänge in das nahe „Kirchenholz“. Dort war ein
Teich, an den ich mich erinnern kann, weil beim Liegen auf dem Bauch
Erstaunliches und Wundersames zu Tage trat. Da krabbelte und wimmelte vielerlei
Getier in einer kleinen Unterwasser-Welt. Käfer schwammen durch das Spiegelbild
der Wolken, grimmige Libellenlarven entpuppten sich als gefräßige Räuber.
Höhepunkt der Entdeckungsreise war, dass ich - vorsichtig transportiert in
einem Marmeladenglas - einige seltsame schwarze Wesen mit nach Hause ins
Kinderzimmer nehmen durfte: Froschkinder. Richtig hießen die Kaulquappen, so
wusste ich bald aus dem Bilderbuch. Sie wurden in einem alten Topf
einquartiert, ihre Wohnung mit Pflanzen möbliert, und dann sahen neugierige
Kinderaugen stundenlang zu, wie sie herumtollten, wie ihnen erst hinten,
später dann vorn Beinchen wuchsen, wie der Schwanz zum Stummel wurde. Am
Schluss krabbelten sie in einem angeschlagenen Blechteller auf Steinen herum.
In meinem Frosch-Buch stand, dass sie nun richtige Frösche werden sollten. Sie
wussten das aber nicht, behielten starrsinnig ihre Schwänze, und so trug ich
sie eines Tages zurück zu „ihrem“ Teich.
Herr K. war
mein Freund. Er war Zahnarzt, schon etwas älter, und ich ging gern zu ihm.
Schon der weiße Kittel machte Eindruck, dazu roch es interessant, und geduldig
erklärte er mir die Funktionsweise der technischen Geräte in seiner Praxis. Ich
setzte mich immer gern auf seinen Stuhl und war neugierig, was kommen würde.
Eines Tages
hatte er wieder einmal mit Lampe und Spiegel meinen Mund besichtigt, in allen
Ecken mit seiner Nadel herumgestochert – und dann tuschelte er mit meinem
Vater. Warum konnten die beiden nicht laut reden, es ging doch offenkundig um
mich! Dann kam Herr K., hielt die Hand merkwürdig verkrampft hinter dem Rücken
und forderte mich auf, den Mund zu öffnen. Ich wollte – unter Freunden - erst
wissen, was er vorhatte, ob es weh tun würde. Er verneinte, ich blieb
angesichts der verborgenen Hand misstrauisch – und mein Mund blieb zu. Nach
einer Weile kindlichen Widerstandes riss dem Mann der Geduldsfaden, und er
brüllte mich an. Der Mund ging auf, eine Zange erschien, ein Ruck. Das tat
mehrfach weh. Ich hatte einen Zahn weniger und Tränen in den Augen und von
Stund an Misstrauen gegenüber allen weißen Kitteln.
Menschen haben
zu allen Zeiten davon geträumt, fliegen zu können. Ich auch. Der Traum davon
ist mir das erste Mal im Alter von sechs oder sieben Jahren gekommen, und er
war wohl so wichtig, dass ich ihn später immer wieder einmal geträumt habe.
Hintergrund für die „Urfassung“ war eine Mutprobe, bei der wir im Treppenhaus
einen Wettbewerb veranstalteten. Man musste versuchen, immer eine Stufe höher
zu gehen und von dort bis hinunter zum Treppenabsatz zu springen. Und im Traum
gelang es mir auf einmal, über beliebig viele Treppenstufen hinunterzuschweben,
ich konnte es nicht nur - und war mächtig stolz -, sondern es war auch ganz
einfach: Solange ich die Beine anzog, gab es keinen Bodenkontakt. Endlos immer
weiter schweben können – ein herrliches Gefühl. Am Ende des Traums stand jedes
Mal der feste Entschluss, sofort nach dem Aufwachen der Welt diese Entdeckung
zu offenbaren. Und bisher hab ich das jedes Mal
vergessen ...
Irgendwie muss
auch mich kleinen Kerl die Atom-Bomben-Angst Anfang der 50er Jahre erreicht
haben. Eines Nachts im Traum flog ich durch eine Welt, die vollgestellt war mit
schwarzen militärischen Geräten, durchwogt von kämpfenden, ebenfalls schwarzen
Gestalten, Lichtblitze flackerten durch die Szenerie - das waren wohl meine
Vorstellungen vom Krieg. Ich saß beim Fliegen auf einer Kugel - da spielte
irgendwie Münchhausen hinein - und entdeckte plötzlich: Die Kugel, das ist eine
Atom-Bombe. Schrille Angst, aber dann explodierte die Bombe auch schon. Und
dann - bei jeder Wiederholung dieses Traumes besonders beeindruckend, weil ab
hier in Farbe! - sah ich blau-fluoreszierend mein Gerippe; ich träume heute
noch „Gerippe“, obwohl ich längst weiß, dass das richtiger „Skelett“ heißen
müsste.
Es
waren heiße Tage in meinem letzten Kindersommer in der Stadt. Gedrückte
Stimmung bei den Erwachsenen, die auch uns Kinder beschwerte. Vater drehte
öfter als sonst an dem schwarzen Radiokasten und lauschte den von Pfeifen und
Quietschen (Störsender!) verzerrten Nachrichtensendungen des „Feindsenders“
RIAS („Radio Im Amerikanischen Sektor“ – von Westberlin). Irgendwo – noch weit
weg - war die Welt aufregend und gefährlich in Bewegung gekommen. Aber dann
plärrten auch die rostig-grauen Lautsprecher-Trichter los, die überall in den
Straßen unserer Kleinstadt hingen. Eine blecherne Männerstimme verlas immer
wieder einen kurzen Text mit Meldungen und Befehlen, der dann wenig später
auch in gedruckter Form an die Häuserfassaden geklebt wurde. Ausnahmezustand,
Verbot der Zusammenrottung, abendliche Ausgangssperre, sofortiger
Schusswaffengebrauch. Gesenkte Stimmen auf Treppenfluren, immer neue Nachrichten
und Gerüchte: von Arbeiter-Aufstand, von Konterrevolution, von Terror und von
Toten. Angst stand in den Gesichtern der Erwachsenen, Angst, die auch in mich
hineinkroch. Weglaufen ging nicht. Aber Verkriechen unter Vaters Schreibtisch.
Wenige Tage später war alles vorbei, wie ein schlimmes Gewitter abzieht, aber
es blieb ein Schatten auf dem Alltag, der DDR-Staat hatte in meinem Kindergemüt
einen ersten deutlichen Ein-Druck hinterlassen.
Dieser
17. Juni des Jahres 1953 war meine früheste Erfahrung mit Politik. Ein paar
Wochen später kam ich in die Schule, wir zogen um aufs Dorf. All das Neue ließ
schnell die dunklen Tage vergessen.
(1953 bis 1961)
Kurz nach
meinem Schulanfang übernahm mein Vater eine Pfarrstelle auf einem Dorf. Dort
verbrachte ich meine gesamte Grundschulzeit.
Im Spätsommer
des Jahres 1953 entstand erhebliche Unruhe in der Familie. Wir sollten
umziehen. Möbel wurden gerückt, Kisten gepackt, Teppiche gerollt. Dann eines
Tages emsiges Treiben treppauf und treppab. Die Zimmer leerten sich. Stunden
später wurde ich hinuntergeführt vors Haus, wo ein ältlicher Möbelwagen schon
mit unserem Familienkram bepackt war. Für mich war hinten auf der Ladefläche
ein Plätzchen freigehalten. Ich setzte mich, die Hände hielten krampfhaft das
schwappende Aquarium umklammert, in dem meine geliebten Guppys schwammen. Rings
um mich war ein Urwald aus Grünpflanzen. Und dann setzte sich die Fuhre
schwankend und ruckelnd in Bewegung. Richtung Dorf. Ein fremdes unbekanntes
Land. Da gab es keine verlässlichen Wege, keine vertrauten Gesichter – und so
fuhr eine erhebliche Portion kindlicher Angst und Beklemmung auf dem Möbelwagen
mit.
Meine erste Entdeckung nach der Ankunft war, dass es in der Neuen Welt viel
viel mehr Platz gab als in der Stadt. Der Horizont war unendlich weit weg, und
auf dem Weg dort hin gab es sicher einiges zu entdecken. Alles roch aufregend
neu. Neben meinem Bett stand an diesem Abend auch die Zuckertüte, die mich
daran erinnerte, dass ich am nächsten Tag meine neue Schulklasse kennen lernen
würde. Aufregend.
Es war Mitte
September im Jahr 1953 , als ich zum ersten Mal den Berg hinaufging zur
Schule. Ich wurde als „der Neue aus der Stadt“ vorgestellt und verkroch mich
schüchtern auf der ersten Bank, kritisch beobachtet von dreizehn Dorfkindern.
Schulzeit auf dem Dorf Anfang der 50er Jahre. Der Unterricht fand in der alten
Kirchschule statt. Ein Lehrer nebst Familie wohnte gleich in dem Gebäude. Er
war ein so genannter „Neulehrer“, das hieß, dass er politisch nicht durch eine
Tätigkeit in der Nazizeit belastet war, und deshalb hatte man ihn ohne große
Umschweife oder umfangreiche Ausbildung gleich zum Lehrer ernannt. Es gab
viele Kinder und zu wenig Räume und zu wenig Lehrer. So fand der Unterricht im
Normalfall in einem Raum mit zwei Klassen gleichzeitig statt. Das ging so: Mit
der einen Hälfte löste der Lehrer an der Tafel Rechenaufgaben, die anderen
erledigten inzwischen irgendwelche schriftlichen Arbeiten. Ein andermal
verband der Lehrer das Angenehme mit dem Nützlichen, und dann las ein
Zweitklässler denen aus der „Ersten“ eine Geschichte vor. Zu Beginn und am Ende
jeder Stunde wurde ein Schüler losgeschickt, der mit einer Glocke in der Hand
treppauf und treppab rannte und das Zeitmaß kundtat. Und das Raumproblem fand
eine für uns Pfarrerskinder äußerst günstige Lösung. Der Schul-Unterricht wurde
stundenweise in das Pfarrhaus verlagert, sodass wir vom Frühstückstisch in
Hausschuhen herunterhuschen konnten. Zwergschule. Schlimm war´s nicht. Eher
gemütlich, gemeinschaftsbildend. Und je Klassenstufe nur mit 10 oder 15 Kindern
zu tun zu haben, das wäre heute für manche Pädagogen wohl der Himmel auf
Erden!
Ich erinnere mich an etwas merkwürdige Unterrichts-Fächer. Eines hieß
„Handarbeiten“; auch wir Jungen sollten lernen, mit Stopf- und Häkelnadeln zu
hantieren. Später lernten wir „UTP“, „PA“ und „ESP“ kennen. Das hieß in der
Langform „Unterrichtstag in der Produktion“, „Produktive Arbeit“ und
„Einführung in die sozialistische Produktion“ – letzteres vermittelte uns das
ABC der sozialistischen Betriebswirtschaftslehre.
In der dritten
und vierten Klasse mussten wir jeden Schultag ins Nachbardorf laufen. Das
meinte wirklich laufen, Busse oder gar PKW-besitzende Eltern gab es nicht, und
so marschierte mancher kleine Kerl morgens drei Kilometer hin und mittags drei
Kilometer wieder zurück nach Hause, das Ränzlein tapfer geschultert.
Zu unserer
Standardausrüstung gehörte ein Ranzen - oft schon von Geschwisterkindern
genutzt -, der auf den längeren Fußmärschen zur Schule natürlich auf dem Rücken
getragen wurde. Im Ranzen waren damals nur wenige Bücher und Hefte. Aber immer
darin war in den ersten Schuljahren ein hölzernes Feder-Kästchen. Darin
steckten ein paar Blei- und Buntstifte, vor allem aber ein Feder-Halter und ein
verschraubbares gläsernes Tintenfässchen. Die Schreibfedern aus Metall konnten
ausgewechselt werden; es gab breitere und schmalere, und sie mussten immer
erst eine Weile „eingeschrieben“ werden, ehe sie nicht mehr kratzten. Und dann
galt es, die Feder vorsichtig ins Tintenfass einzutauchen - aber nicht zu tief,
sonst gab es Kleckse im Heft! -, ein Wort oder zwei zu schreiben, erneut einzutauchen
usw. Da die Tinte nur langsam trocknete, war immer ein Block mit Löschpapier
zur Hand und durch Aufdrücken eines Löschblatts wurde der geschriebene Text getrocknet.
Irgendwann
hatte jemand den ersten „Füller“. Zunächst ein unnötiger und unerreichbarer
Luxus. Aber ein solcher Füllfederhalter erwies sich als viel komfortabler und
klecksverhindernd, weil die Tinte hier gleichmäßig floss. Es gab sogar noch
eine weitere Steigerung: Ich wünschte mir ein Jahr lang – und am Ende mit
Erfolg - einen „GEHA-Schulfüller mit Reservetank“. Wenn bei diesem Wundergerät
- „aus dem Westen“ - die Tinte im Füllhalter-Reservoir zu Ende ging, brauchte
man nur einen geheimnisvollen grünen Knopf zu drücken und konnte dann noch
ein paar Minuten weiter schreiben.
Wir saßen auf
altertümlichen Schulbänken, hohe, dunkle Holzmonster auf geschnörkeltem
Eisengestell, mit eingelassenem gläsernen Tintenfass und einer Mulde zur
Stiftablage. Generationen von Schülern vor uns hatten sich darauf mit
Schnitzereien und Malereien verewigt.
Unsere
Sportstunden verbrachten wir in den ersten Schuljahren auf dem Schulhof oder im
Pfarrgarten. Wir spielten „Faules Ei“ oder „Völkerball“ oder „Brennball“, das
war eine kindgerechte Baseball-Variante. Bei schlechtem Wetter blieben wir
gleich im Klassenzimmer. Dann hieß es: Auskleiden bis auf Unterhemd und
Turnhose, alle Mann hinter auf die letzte Reihe, und dann krabbelten wir
paarweise im Wettstreit über die Bänke nach vorn. Eine andere Disziplin hieß:
Herunterrutschen auf schräg gestellten Bänken. Der ältere und an Sport nur
mäßig interessierte Deutschlehrer notierte unkonzentriert die Sieger. Das war
nicht so toll.
Mitte der 1950er Jahre bekamen wir dann einen ausgebildeten Sportlehrer. Nun
wurde im Dorf ein „Sportraum“ gesucht. An der Dorfstraße stand ein kleines
Schuppengebäude, der Raum vielleicht 8 Meter lang, drei Meter breit. Im alten
Gasthof fanden sich - aus früheren Turnvereins-Tagen – einige angestaubte
Matten, ein knarrender Barren, ein Bock, ein Pferd, und wir begannen begeistert
diese Welt zu erkunden. Wenn wir „Bockspringen“ üben wollten, stellten sich
alle Kinder draußen auf der anderen Straßenseite an und liefen dann über die
Straße, durch die Tür in den dunklen Raum, und sprangen über das Gerät. Wenn am
Barren geturnt wurde, stießen größer Jungen schon einmal beim Schulterstand
mit den Beinen an der Decke des Raumes an. Aber jetzt machte Turnen schon viel
mehr Spaß. Der ehrgeizige Lehrer brachte uns etwas tapsigen Dorfkindern
Disziplin und (Körper-)Haltung bei. Stolz traten wir dem Sportverein
„TRAKTOR“ bei, nähten die gelben Embleme auf unsere blauen Turn-Hemden. In
vielen Übungsstunden und mit manchem Muskelkater im Gefolge lernten wir die
Welt von „Schulterstand“ und „Hocke“ und „Flick-Flack“ kennen – und eines Tages
war es dann so weit. Ein wenig zitternd traten wir zu Wettkämpfen an, zu
Stadt- und zu Kreismeisterschaften – und wir gewannen! Viele Jahrgänge von
kleinen Dorfschülern kriegten so Selbstvertrauen und einen Kick fürs Leben.
Der einmal geweckte
sportliche Ehrgeiz trieb manchmal schon merkwürdige Blüten. Ich erinnere mich
an den Federball-Rekord, den ich nach vielen Wochen täglicher Steigerung mit
Nachbarsjunge Götz erzielt habe. Als Spielregel galt, den Federball immer
abwechselnd zu schlagen und ihn zwischendurch nicht auf den Boden fallen zu
lassen. Fast drei Stunden „wanderten“ wir ballspielend kreuz und quer durch den
großen Obstgarten und hörten schließlich nach 2222 Berührungen auf, weil es
inzwischen stockdunkel geworden war. Ein andermal war unter uns Jungen „Stabhochsprung“
als bisher nicht erprobte Sportart in Mode gekommen, und in Ermangelung
besserer Möglichkeiten entwendeten wir zu Hause Mutters hölzerne Wäschestützen
und sprangen damit über die bis zu zwei Meter hoch liegende Latte. So manche
morsche Holzstange brach bei unserem eifrigen Hüpfen einfach mitten durch.
Schule war wohl
so schön normal, dass ich mir aus acht Jahren kaum etwas Besonderes gemerkt
habe. Bis auf den großen Knall. Zwar kennt wohl jedermann den Spruch: „Chemie
ist das, was kracht und stinkt, und was am Ende nie gelingt!“ Aber wir haben
das live erleben dürfen. Unser junger Lehrer machte eines Tages vorn an seinem
Pult ein Experiment. Aus einem Glas wurde ein Brocken Natrium hervorgeholt.
Davon schnitt er ein - wirklich kleines - Stückchen ab und gab es in eine
kleine Wanne mit Wasser, um uns vorzuführen, dass nun eine chemische Reaktion
einsetzt und dabei Knallgas entsteht. Das Natrium-Stückchen begann auf dem
Wasser hin- und herzusausen. Und dann knallte es. Nicht nur der übliche
Knallgas-Sound, so „Pfchiit“, sondern es krachte, richtig heftig. Als wir
Schülerlein verängstigt wieder unter den Bänken hervorkrochen, konnte Bilanz
gezogen werden. Der blasse Lehrer zählte durch – alle waren gesund geblieben.
Aber der ganze Raum und wir Kinder war übersät von feinen Glassplittern, die
zwei Zentimeter dicke Deckplatte des Lehrertischs hatte ein suppentellergroßes
Loch – und wir kriegten für den Rest des Tages schulfrei.
Ich habe später - trotzdem oder gerade deswegen? - Chemie studiert.
Fester
Bestandteil des Schullebens war der „Fahnenappell“.
Zu ihm
versammelten sich an jedem Montag vor der ersten Unterrichtsstunde alle Lehrer
und Schüler auf dem Schulhof. Wir traten im Karree an, dann trat ein „Junger
Pionier“ - das waren die Mitglieder der sozialistischen Kinderorganisation -
vor und schrie „Seid bereit!“, und das Volk antwortete brüllend „Immer
bereit!“. Die blaue Pionier-Fahne wurde feierlich am Mast hochgezogen. Dann
kamen noch ein paar politische Richtigkeiten, die uns der Direktor für die
nächste Woche nahe legte, und danach stürmten alle ins Schulgebäude. Zu diesem
Anlass sollten eigentlich alle „Pioniere“ in ihrer Uniform erscheinen (dunkle
Hose, weißes Hemd), zumindest aber ihr rotes oder blaues Halstuch tragen. So
waren „Abweichler“, wie ich einer war, schon äußerlich klar zu erkennen.
Die Jungen
Pioniere hatten sogar ihre eigenen „Zehn Gebote“. Eines davon hieß zum
Beispiel: „Junge Pioniere halten ihren Körper sauber und gesund!“. So richtig
ernst genommen wurde das aber alles nicht.
Unser Dorf war
in den 50er Jahren noch ein weithin in sich geschlossener Lebensraum. Ältere
Bauersfrauen haben berichtet, dass sie damals in der Regel nur ein Mal im Jahr
in die nur drei Kilometer entfernte Stadt „gereist“ sind – sie hatten keine
Zeit dafür, aber auch keinen Bedarf. Vieles erledigte sich auf kurzen und in
Generationen erprobten Wegen, einer lieferte das, was sein Nachbar brauchte,
die lebens-notwendigen Verrichtungen fanden buchstäblich im Horizont des
heimatlichen Kirchturms statt.
Da gab es in unserem
Straßendorf auf einem Kilometer die Straße hinauf und hinunter in vielleicht
40 Grundstücken:
·
einen
Schuster; der nähte noch richtig selbst Schuhe nach Maß aus großen
Lederstücken; weiter unten im Dorf gab es eine zweite Schuhmacherwerkstatt
Vieles machten
die Leute noch selbst: Auf den Bauerhöfen gab es nicht nur intensiv genutzte
Gärten - mit fruchtbarer dunkler Erde und gesäumt von akkurat geschnittenen
Buchsbaumhecken - für den eigenen Gemüsebedarf, da wurde selbstverständlich
auch geschlachtet, Vorräte an Obst und Wurst eingekocht, aus Äpfeln Saft
gemostet, und man buk selbst Brot, große runde Sechs-Pfünder.
Wir
Nicht-Bauern hatten auch Brot zu essen. Das gab´s beim „Bäcke“ zu kaufen. Immer
ofenfrisch, und das war schon das Verhängnis. Da wurde ich schnell noch
losgeschickt, um ein Drei-Pfund-Brot zu holen, betrat das betörend duftende
Ladengeschäft neben der Backstube, legte meine 78 Pfennige auf die Ladentafel,
klemmte den Laib unter den Arm und verließ unter dem Gebimmel der Glocke den
Laden. Und dann auf der Straße überwältigte mich jedes Mal ein Gefühl aus
Hunger und Sucht, die Finger brachen eine Ecke aus dem Brot heraus oder puhlten
ein Loch an unverdächtiger Stelle. Unübertrefflich, dieser Geschmack von
richtig frischem Brot! Die Mutter zu Hause hatte nicht immer Verständnis für
die Löcher. Was ein Brot kostete, hätte einem in den 60er Jahren jeder auf der
Straße sagen können. Zum einen war Brot in den Nachkriegsjahren noch ein
Wertgegenstand - damals gab eine Familie in Deutschland die Hälfte ihres
Einkommens für Nahrungsmittel aus - und zum zweiten hielt die DDR aus Prinzip
über Jahrzehnte die Preise für Grundnahrungsmittel konstant.
Meine Mutter
machte auch gern Kuchen. Einen eigenen Herd besaßen wir nicht, nur eine
elektrische Backform für kleine runde Kuchen. Das „Abbacken“ von „richtigen“
Kuchen war Sache des Bäckers. Zu Hause wurde der Teig gerührt und geknetet, auf
einem runden Blech ausgebreitet und mit Früchten belegt oder mit Streuseln
bestreut. Das Blech wurde in den Hof getragen, vorsichtig auf dem Handwagen
verstaut, und ich durfte zum Bäcker wandern. Dann stand ich in der Backstube,
verwies auf den von Mutter bestellten Termin, und das Kuchenblech verschwand in
der tiefen Höhle des heißen Backofens. Unser Kuchen blieb dort nicht allein,
zum gleichen Termin lieferten auch andere Leute ihre Backware ab, und in jeden
Kuchen wurde zur genauen Kennzeichnung eine Blechmarke eingestochen. Ein paar
Stunden später holperte ich wieder mit dem Wagen das Dorf hinunter „zum Bäcke“,
die duftenden Kuchen wurden anhand ihrer Marken den jeweiligen Besitzern
zugeordnet, ich bezahlte 30 Pfennige fürs Backen und trat den Heimweg an. Auch
von den frisch duftenden, noch warmen Kuchen hat keiner je unser Haus
erreicht, ohne dass es Knabberspuren gab.
Ein richtiges
Back-Festival fand jedes Jahr im Advent statt. Da tauchte zunächst ein großer
Trog in der Küche auf, die „Backmulde“, die nur zu diesem Anlass zum Einsatz
kam. Darin wurden kiloweise Mehl und Zucker, Butter und Schmalz, Hefe und
Milch verrührt und verknetet. Mandeln kamen dazu und Nüsse und Rosinen und
Zitronat. Die letzteren Zutaten gab´s manchmal nur sehr sparsam. Das war davon
abhängig, ob „Vater Staat“ dem Volk gütigerweise eine Weihnachts-Extra-Ration
zukommen ließ oder ob die Westverwandten rechtzeitig an die stollenbackende Ostverwandtschaft
gedacht hatten. Der mehlbestäubte Trog wanderte zunächst auf den Kachelofen,
damit der Teig richtig „gehen“ konnte. Und dann gab es wieder den Weg mit dem
Handwagen zum Bäcker. Der Termin war Wochen im Voraus bestellt. In der
Backstube wurden aus dem großen Kloß in der Wanne ordentliche Stollen geformt
und mit dem obligatorischen blechernen Namensschild gekennzeichnet. Dann
konnten wir zunächst wieder nach Hause gehen. Manche misstrauischen Kundinnen
blieben stundenlang beim Bäcker sitzen und behielten die Ofentür fest im Blick,
um ganz sicher zu gehen, dass es wirklich „ihr“ Stollen war, der da später aus
dem Ofen geholt wurde. Es hätte ja sein können, dass irgendwas vertauscht
wurde und man einen Stollen ohne seine wertvollen Westrosinen oder seine
Westmandeln kriegte ... Bei uns zu Hause lagerten dann zwölf und mehr braunkrustige
Laibe auf Regalen und Schränken. Einige davon gingen als Weihnachtsgeschenk
auf Reisen, manche in Richtung Westen, woher die Zutaten stammten. Einmal wurde
ein vergessener Stollen zur Osterzeit gefunden – und er erwies sich als „gut
durchgezogen“ und durchaus noch essbar.
Bauer zu sein
bedeutete einen harten Alltag. Früh zeitig ging es los mit Füttern und Melken,
dann raus auf das Feld, mittags zurück – jetzt waren zwei Stunden Pause für
Mensch und Pferde -, nachmittags noch einmal raus, dann war Dämmerstunde, aber
danach war noch einmal Arbeit angesagt bis spät in den Abend. So etwas wie
Freizeit oder Urlaub war unbekannt. Und die ganze Familie war fest in die
Arbeitsrhythmen eingespannt.
Manche armen
Bauern pflügten mit einem Ochsen. Die meisten besaßen aber Pferde für die Feldarbeit.
Selten tuckerte auch ein Traktor durchs Dorf, z.B. eine Lanz-Bulldog aus
Vorkriegszeiten.
In der Mitte
der Vierseithöfe befand sich fast immer ein großer Misthaufen, umkreist von
Schwalben, die nach Fliegen schnappten und in den überall vorhandenen
Lehmpfützen reichlich Baumaterial für ihre Nester fanden. Im düsteren Kuhstall
war die Wand schwarz von Fliegen, deren sich die Kühe durch heftiges
Schwanzwedeln zu erwehren versuchten. Neben der Kuh hockte auf einem dreibeinigen
Holzschemel die Bäuerin und molk das nervöse Tier; ein Ertrag von einem Eimer
Milch am Tag war damals schon eine ordentliche Menge für eine Kuh. Die große
zerbeulte Aluminium-Kanne mit der Milch für die Ablieferung (das „Soll“ für den
„Staat“) kam dann raus auf die „Rampe“ an der Straße. Auf dem Hof wurde der
Kartoffeldämpfer angeheizt. Darin garten gleich eimerweise Kartoffeln, die für
das Viehfutter bestimmt waren, aber auch uns Kindern köstlich mundeten. Wir
halfen, mengten gequetschte Getreidekörner in den Futterbrei, und manchmal
wurde er auch mit „Siede“ gestreckt, das war die Spreu, die Getreidespelzen,
von denen immer ein Haufen hinter der Dreschmaschine lag. Damals wurde das
Getreide auf dem Feld noch vielfach von Hand mit der Sense gemäht und
anschließend zu „Garben“ zusammengebunden. Später übernahm diese beiden
Arbeitsgänge eine Maschine, die „Mäh-Binder“ hieß. Mehrere Garben wurden dann
in Handarbeit zu „Puppen“ aufgestellt – die sahen aus wie kleine Häuschen und
eigneten sich wunderbar zum Versteck-Spielen! Ausgedroschen wurde das
getrocknete Getreide später auf dem Hof, in den ersten Jahren nach dem Krieg
manchmal noch von Hand: Auf der Scheunen-Tenne schlugen vier Leute im Takt
reihum mit Dreschflegeln die Körner aus den Garben. Mit der Schaufel wurde hin
und wieder das Gemisch hochgeworfen, wobei der Wind die Spelzen wegtrug und
sich so die „Spreu“ vom Weizen trennte. Als ich mich dafür interessierte, wurde
aber meist schon mit der Dreschmaschine gedroschen. Dann legte der Bauer den
ledernen Treibriemen auf das Schwungrad der Dreschmaschine, das Ungetüm
ratterte los, die Körner rieselten in den Sack und hinten stiebte die „Siede“
heraus.
Die Oma fegte derweil mit einem Reisigbesen die „Heiste“, das war der mit
Ziegeln gepflasterte Hofteil vor dem Eingang zum Wohnhaus. Beim Spielen in der
Scheune sammelten wir Kinder nebenbei auch die Eier ein, die die Hühner
irgendwo (ab-)gelegt hatten; manchmal fanden wir auch ein gut verstecktes
Gelege nicht, dann stolzierte drei Wochen später eine aufgeregte Glucke mit
einer Schar gelber Küken auf dem Hof herum.
Die Bauern
produzierten mit strengen staatlichen Auflagen und unterlagen ständiger
Kontrolle. Sie hatten für alle erzeugten Produkte (Getreide, Kartoffeln, Rüben,
Milch usw.) ein „SOLL“ zu erbringen, eine Pflicht-Menge, die an den Staat
„abzuliefern“ war. Wenn sie etwas darüber hinaus erwirtschafteten, konnten sie
das als „freie Spitzen“ auch selbst vermarkten.
Zur
Landwirtschaft gehörten die Pferde. Und die Pferde mussten immer mal zum Schmied
geführt werden. Dort bekamen sie neue „Schuhe“ angemessen, Hufeisen. Die
Schmiedewerkstatt war eine düstere Höhle, in der immer das Schmiedefeuer
glimmte. Das Pferd wurde hineingeführt in die Werkstatt und stand ergeben
zwischen Zangen und Rohren und Hämmern und Blechen. Der Schmied nahm den Huf in
die Hand, suchte mit fachmännischem Blick aus vorhandenen Rohlingen ein
passendes Hufeisen aus. Dann wurde das Koksfeuer mit einen Handblasebalg zu
heller Glut entfacht. Darin wurde das Eisen hellglühend erhitzt, auf den
Amboss gelegt und dann sprühten unter den Schlägen des schweren Hammers die
Funken. Das Eisen wurde immer mal wieder an den Pferdehuf gehalten, bis es
endlich die richtige Form hatte. Dann wurde es - noch heiß, wodurch es nun ganz
fürchterlich nach verbranntem Horn stank - auf den Huf gepresst und mit
besonderen Hufnägeln angenagelt. Manches Pferd ertrug das alles in stoischer
Ruhe und ging dann klirr-klappernd die Dorfstraße hinunter. Manchmal musste
aber auch ein zweiter Mann das nervöse Tier während der ganzen Prozedur
festhalten und beruhigen.
Besuch bei
Bauern. Erste Regel: Wenn das Hoftor offen steht, darf man rein. Zweite Regel:
Eine Klingel gibt es nicht – wenn die Haustür offen steht, nur immer gerade
aus und weiter durch bis in die (Wohn-)Küche. Dort fand das Leben statt. Meist
waren das Mehrzweck-Räume, stets gut geheizt, mit einem Sofa für die
Mittagsruhe und einem großen Tisch für die Mahlzeiten. Ziemlich geheimnisvoll
war in allen Bauernhäusern ein gleich daneben gelegener, viel größerer Raum,
dessen Fenster oft dunkel verhangen waren und der nur selten betreten wurde,
die „gute Stube“. Als Ende der 50er Jahre die ersten Fernsehgeräte Einzug in
den Bauernhöfen hielten, bekamen sie – ihrem Wert entsprechend - ihren Platz
in der guten Stube, die von da an auch regelmäßig von den Familien genutzt
wurde. Ich als Kind aus einer nicht-Fernseher-besitzenden Familie war natürlich
auch scharf auf das schwarz-weiße Geflimmer. Also schlich ich manchen Abend -
gegen die ausdrückliche Weisung meiner Eltern - in die verdunkelten Stuben der
Familien befreundeter Bauernkinder und genoss Freud und Leid irgendwelcher
amerikanischer Familienserien. Zu Hause gab´s dann zur Strafe kein Abendbrot.
Für uns als
Kinder viel attraktiver als die Wohnzimmer waren die großen Scheunen der
Bauern. Dort gab es nicht nur Eier zu finden, die die Hühner überall fallen
ließen, da lagerte vor allem in riesigen Haufen goldenes Stroh. Man konnte ins
Gebälk hochklettern und sich dann wohlig fallen lassen, Mutsprünge vorführen,
vielleicht auch einen Salto-Sprung tief hinunter riskieren; manchmal fiel man
dabei auch eine Etage tiefer bis auf die harte Tenne hinunter. Das war ein
kratziges und durchaus lebensgefährliches Vergnügen.
In den 50er
Jahren war die dörfliche Welt noch recht übersichtlich, kleinräumig
strukturiert und gerade deshalb sehr abwechslungsreich. Das Land gehörte den
Bauern, die es auch als Familienbetriebe selbst bewirtschafteten. Es gab noch
immer Standesunterschiede. Ein „Vierspänner“, d.h. ein Bauer, der vier Pferde
einspannen konnte, war etwas Besseres als ein Zweispänner oder gar ein Landwirt,
der nur mit einem Ochsen pflügte. Viele Bauern hatten nicht nur ihre Felder,
sondern besaßen auch ein eigenes Stück Wald. Am Ende von Tetzners Feld war dann
eben „Tetzners Holz“. An anderen Stellen gab es Lehmgruben für die Gewinnung
von Lehmziegeln oder Sandgruben, die dann auch nach ihren Besitzern benannt
waren („Junghannsens“ oder „Dietzmanns Sandgrube“). In diesen Gruben, die nur
bei Bedarf betrieben wurden, gab es herrliche - und gefährliche - Spielplätze
für Kinder, oft haben wir dort Höhlen gegraben und als Indianer vielerlei
Abenteuer bestanden.
Es gab
zusätzlich noch namenlose Hecken und Waldstückchen, die die Landschaft
auflockerten; eine kleinere Baumgruppe in Dorfnähe hieß „Maiglöckchenwäldchen“,
weil dort im Frühjahr Tausende der kleinen weißen Trauben blühten. Und
zwischen den Feldstreifen lagen überall Feldwege, oft nur im Abstand von
hundert Metern, bestanden mit Holunderbüschen, Pflaumenbäumen oder
einzelnen Eichen. Manche waren seit Jahrhunderten genutzte Verbindungen ins
Umland, zum Beispiel der „Marktsteig“, auf dem die Bauersfrauen früher ihre
Kiepen zum Markt in die Nachbarstadt geschleppt hatten.
In Senken der Landschaft begegneten uns herumstreifenden Jungen immer wieder
kleine Teiche, die von Weiden gesäumt waren und bei Sturzregen das Wasser
aufhalten sollten. Dort versuchten wir uns als Angler oder beobachteten Wiesel.
Beliebter Ort
für Spiele aller Art war „die Bach“. Der Dorfbach ist bei uns bis heute
(grammatisch) weiblich. Die Bach konnte man in stundenlangen Bemühungen
versuchen „anzudämmen“. Man konnte Angeln bauen und versuchen, kleine Fische
zu fangen (Elritzen oder Schlammpeitzger – die wir „Schlammbeißer“ nannten).
Man konnte sich von den älteren Dorfbewohnern berichten lassen, dass es zu
ihrer Kinder-Zeit hier noch Krebse gegeben hatte. Mutproben fanden statt, zum
Beispiel galt es, Bachwasser zu trinken, obwohl einige Meter weiter oberhalb eine tote Ratte im Wasser lag, oder wir versuchten,
an einer besonders breiten Stelle über die Bach zu springen.
Beginnend mit
der „sozialistischen Umgestaltung“ in der Landwirtschaft sind viele von diesen
Elementen aus der Landschaft verschwunden. Bachläufe und Teiche wurden zugeschüttet,
unter der Erde fortgeleitet oder mit Stall-Abwässern buchstäblich „versaut“.
Feld- und Flurwege wurden zur Gewinnung größerer Flächen überackert,
Feldgehölze und Wäldchen störten die Geradeausfahrt moderner Großtechnik und
verschwanden. Und mit ihnen verschwanden auch Rebhühner, Hamster, Elritzen –
und spielende Kinder.
In den 1950er Jahren wurde noch alles Stroh nach der Getreideernte geborgen und
in den Scheunen eingelagert, um später als Einstreu in den Vieh-Ställen zu
dienen. Als später die Mähdrescher Einzug hielten, wurde immer öfter das Stroh
auch direkt auf dem Feld zu großen Ballen gepresst und aufgestapelt. Diese
„Strohfeimel“ waren herrliche Abenteuerspielplätze, geeignet zum Burgenbau und
für Sprungartistik.
Wir hatten
selber Kirschbäume im Garten. Aber fremde Kirschen sind erstens meist eher reif
als die zu Hause, und sie schmecken einfach viel besser. Und frisch auf dem
Baum sollten sie sowieso verzehrt werden!
Es war ein bisschen Sport dabei. Da waren auf der einen Seite die Bauern, denen
die Kirschbäume gehörten. Meistens hatten sie mehrere davon, oft außerhalb der
Grundstücke gepflanzt an Wiesen- und Wegrändern. Und die Bauern wollten ihre
Kirschen eigentlich auch selbst ernten, die wurden auf den Markt gebracht oder
für den Winter eingekocht. Aber auch wir Kinder hatten Appetit - auf eben
diese Kirschen. Vorsichtig wurde ein weiter Anmarsch von hinten übers Feld eingeleitet,
vom Dorf aus durften wir nicht gesichtet werden. Wir machten uns an die Bäume
heran, die am wenigsten Einblick ermöglichten, schwangen uns hinauf und
begannen zu futtern. Einer stand Schmiere. Und das war notwendig, denn die
Gegenpartei passte gut auf. Manchmal war richtig jemand aus der Besitzerfamilie
zum „Stare-Hüten“ abkommandiert, und dazu gehörte neben dem Vertreiben der
Stare eben auch, das schändliche Treiben von Dieben zu melden. Dann schnaufte
wenig später ein brüllender Bauer den Weg herauf – oder er schlich sich leise
heran, stand plötzlich unter den Bäumen und griff sich einen der jugendlichen
Diebe, der nicht schnell genug das Weite gesucht hatte, und das tat dann
„handfest“ weh! Einmal rannte uns sogar Bauer Schnabel mit der Mistgabel
hinterher – zum Glück hat sein Wurfgeschoss nicht getroffen!
Kirschbäume
waren ein wertvoller Besitz. Auf halbem Weg hinüber zum Nachbardorf stand
direkt an der Straße, die von Kirschbäumen gesäumt war, das so genannte
„Kirschhäusel“. Das war ein kleines gemauertes Gebäude, einzig und allein zu
dem Zweck errichtet, um die mit Kirschen oder anderem Obst gefüllten Kisten in
der Erntezeit lagern und vor dem Zugriff Fremder schützen zu können.
Manchmal beneidete
ich die „richtigen“ Bauernkinder. Es gab Zeiten im Jahr, da erschienen sie
gleich für ein paar Tage überhaupt nicht zum Unterricht. Auf den Entschuldigungs-Zetteln,
die sie von zu Hause mitbrachten, stand, dass sie für Arbeiten auf den heimatlichen
Höfen gebraucht wurden. Die Bauernwirtschaften waren im Wesentlichen Familienbetriebe.
Und die Kinder waren Arbeitskräfte, auf die in Stoßzeiten nicht verzichtet
werden konnte.
Ich bin
ziemlich bald und ganz freiwillig zur Arbeit mit auf die Felder gezogen. Im
Herbst ging´s zum „Kartoffeln-lesen“. Vornweg der Bauer mit dem Pferd, der
zunächst einen „Damm“ Kartoffeln freilegte. Dahinter wir Kinder: Gebückt oder
auf Knien rutschend sammelten wir die gelben Knollen zusammen und warfen sie
in große Körbe. Erwachsene trugen die vollen Kiepen weg und entleerten sie in
einen Wagen am Feldrand. Zwischendurch gab es kurze Pausen, in denen man den
schmerzenden Rücken gerade machen konnte und zusah, wie der Bauer das Pferd
durch die nächste Kartoffelfurche trieb, wobei rotierende Gabeln die leuchtend
gelben Knollen auswarfen. Dann galt es wieder, sie schnell in unsere Körbe zu
sammeln, ehe Bauer und Pferd schon die nächste Reihe freilegten. Der schönere
Teil des Kartoffellesens nahte punkt vier Uhr nachmittags. Die Bauersfrau
tauchte am Feldrand auf, schleppte auf dem Feldweg eine Kanne heran - sie hieß
richtig „Lase“ -, in der köstlicher, mit Milch und Zucker versetzter Malzkaffee
schwappte, und in einem Korb brachte sie die Vesper-Brote, riesige vom
Sechs-Pfünder-Brot geschnittene Scheiben mit gesalzenem Schmalz oder
Leberwurst oder Blutwurst. So mit den anderen am Feldrain zu sitzen und zu
schwatzen und dazuzugehören – das war es wert, zuvor einige Stunden den
Rücken zu krümmen! Am Ende des Arbeitstages brannten dann manchmal noch Feuer
aus getrocknetem Kartoffel-„Krätsch“ (= Kraut), in deren Aschglut köstliche
angekohlte Bratkartoffeln geröstet wurden.
Im Frühsommer
stand auf den Entschuldigungs-Zetteln der Bauerskinder als Grund des Fernbleibens:
„Rüben verziehen“. Rüben wurden zunächst in lückenlosen Reihen ausgesät. Dann
zogen Gruppen von Frauen mit Hacken über die Felder und hackten Unkraut und
überzählige Rübensaat aus. Anschließend krochen wir - Kinder und Frauen - auf
Knien über den Acker und rissen von Hand aus, was jetzt noch den Aufwuchs der
zarten Rübenpflänzchen störte. Da gab es in glühender Sonne und bei steinhartem
Boden manchmal Anlass zum Stöhnen, aber auch zum Staunen, wenn plötzlich mitten
auf dem nackten Boden ein paar winzige Eier lagen und hoch oben eine Lerchenmutter
sorgenvolle Ablenkungs-Gesänge erklingen ließ. Und spätestens beim Vesperbrot
war die Welt wieder in Ordnung. Und die 60 Pfennige Arbeitslohn je Stunde, die
prompt am Ende jedes Arbeitstages ausgezahlt wurden, waren auch nicht zu verachten.
Übrigens gab es
damals noch eine und zwei Mark nur als Geld-Scheine und 50 Pfennige kursierten
nicht nur als Messing-Münzen, sondern es gab sie zusätzlich als kleine blaue
Banknoten.
Es gab noch
mehr Arbeiten auf dem Bauernhof, für die Kinder eingespannt wurden. Eine
davon war „Kühe-Hüten“. Jeder Bauer hatte einige Kühe, die sommers täglich
hinaus auf die Weide mussten. Feste Zäune um die Wiesen anzulegen lohnte nicht,
elektrisch geladene Zäune gab es noch nicht, aber Kinder hatte jeder Bauer.
Und so saß ich dann mit meinem Freund Lothar viele Nachmittage lang auf Wiesen
herum, wir bliesen Pusteblumen aus, zählten Ameisen oder beobachteten den Flug
von Schäfchenwolken, immer ein halbes Auge auf die fünf Kühe habend, die träge
vor sich hin käuten, dann aber manchmal urplötzlich zielstrebig in Nachbars
Feld strebten, weil es dort im prallen Rübenblättergrün viel besser schmeckte.
Dann trieben wir die störrischen Biester zurück auf unsere Wiese und träumten
im Liegen weiter. Beim „Vesper“ wurden wir auch hier nicht vergessen, wir
machten eine richtige, notwendige Arbeit und die war ihres Lohnes wert - in
Gestalt von Schmalzbroten.
Beim Kühe-Hüten haben wir einmal auch eine totale Sonnenfinsternis erlebt.
Irgendwas hatte in der Zeitung gestanden. Wir hatten Glasscherben über einer
Kerzenflamme mit Ruß geschwärzt, und dann saßen wir auf unserer Wiese und
warteten. Dann kam sie, beziehungsweise er kam, der Schatten, der die Sonnenscheibe
Stück für Stück auffraß. Die Kühe wurden unruhig, die Vögel schwiegen. Immer
dunkler wurde die Welt. Und wir guckten gebannt durch unsere Gläser. Und dann
war´s vorbei, viel zu schnell - ich hatte mir ein Drama von mehrstündiger
Dauer vorgestellt, das in Ruhe zu genießen war. Also Schluss mit der
Grusel-Romantik, die verstörten Kühe kümmerten sich wieder um das Gras.
Beim
Herumstöbern in Feld und Flur begegnete uns allerhand Getier. Manchmal piepste
es aufgeregt im Getreide. Rebhühner stoben mit einem typischen pfeifenden
Geräusch im Tiefflug davon. Und wenn wir dann aufmerksam weiter gingen, saßen
bald am Boden zwischen den Halmen vor uns winzig kleine Federbällchen und
stellten sich tot. Rebhuhnküken! Man konnte sie sogar anfassen und hoch
nehmen. Sie wurden stets wieder frei gelassen und wuselten dorthin, wo die
Alten lockten. Fasane stolzierten auch viele Jahre lang als regelmäßige Gäste
auf der heimischen Wiese bei uns zu Hause am Hang herum, krakeelten und
posaunten im dichten Gebüsch und schliefen hinten im Garten im Geäst der
großen Eiche. Und Hasen - richtige Feldhasen, keine Kaninchen - begegneten
einem immer und überall. Wer sommers oder winters über ein Feld stiefelte,
stöberte bald einen dieser Springer aus seinem warmen Loch-Lager auf.
Es gab auch
gezieltes Hasen-Stöbern. Irgendwann an einem klaren kalten Wintertag tauchten
jedes Jahr „die Russen“ auf. Zwei, drei Lastwagen voller aschgrau gekleideter
Soldaten rollten ins Dorf. Die jungen frierenden Muschkoten wurden losgeschickt
und zogen in breiter Reihe über die kahlen Felder, unlustig Krach schlagend.
Ihre Offiziere luden die Jagdgewehre, stellten sich auf der Höhe auf und
ließen sich die Hasen zutreiben. Dann knallte es hin und wieder, mal schlug einer
der braunen Läufer einen letzten Salto und blieb liegen, mal raste einer trotz
der wütenden Rufe der Treiber quer durch ihre Linie in die Freiheit. Wir Kinder
zogen neugierig hinter den Soldaten her. Und manchmal sahen wir auch, wie
heimlich einer der Uniform-Bemützten einen toten Hasen nicht zum Sammelplatz
trug, sondern ihn unter der Jacke versteckte, gezielt irgendeinen Busch am Feldrand
ansteuerte - dort fand er dann eine Wodkaflasche, die als Tauschäquivalent von
einem Dörfler deponiert worden war. Es gab auch Leute im Dorf, die in ähnlich
funktionierenden „Geschäfts“-Beziehungen von den Russen Benzin ertauschten,
manchmal gleich fässerweise.
Wer wissen
wollte, was im Dorf los war, musste auf die Postfrau warten. Jeder Ortsteil
hatte seine eigene Postfrau. Bei uns war das lange Zeit „Bergers Liesel“. Zu
uns kam sie – weil wir am Ende des Dorfes wohnten – immer erst gegen Mittag.
Die dicke Amts-Tasche am - natürlich gelben - Postfahrrad war da schon fast
leer. Und während Zeitungen und Briefe hervorgekramt wurden, sprach man über
dieses und jenes und über diese und jenen – und war dann auf dem Laufenden,
wer mit wem, und wo ein Kind geboren war, und wie es Schmidts Dorchen ging ...
Manchmal gab´s auch einen - natürlich selbstgemachten - Eierlikör zum Abschied.
Und jeden Sonnabend nahm die Postfrau ein Beutelchen mit getrockneten Brotkanten
mit, die wir während der Woche gesammelt hatten - für ihre „Karnickel“ zu
Hause.
In den Häusern
rundum spielte sich das Alltagsleben der Menschen ab – in voller Breite.
Die meisten
Kinder wurden in den 1950er Jahren noch zu Hause geboren. Und genauso selbstverständlich
fand dort auch das Sterben statt. Es gab keine Kühlzellen beim Bestatter, keine
Leichenhalle auf dem Friedhof. Verstorbene blieben zu Hause, wurden von den
Angehörigen zurechtgemacht und einige Tage aufgebahrt. So waren Besuche
möglich, man konnte von dem Verstorbenen Abschied nehmen und mit den
Hinterbliebenen reden. Am Tag der Beerdigung wurde der Sarg am Sterbe-Haus
abgeholt. Er rollte im offenen Wagen – von Pferden gezogen - aufgebahrt durchs
Dorf, manchmal kilometerweit. Vornweg gingen der Pfarrer und der
„Kreuzträger“, ein Kind im schwarzen Umhang. Hinter dem Wagen schritten die
Trauernden, die älteren Bauern trugen damals noch schwarze Anzüge und Zylinder.
Die
Lungenkrankheit „Tuberkulose“ hatte in der Nachkriegszeit verheerend gewütet.
Nach und nach wurden Schilder an den bäuerlichen Ställen angebracht mit dem
Hinweis „Tuberkolosefreier Rinderbestand“ und machten so deutlich, dass die
Krankheit allmählich eingedämmt werden konnte. Um aber erkrankte Menschen
rechtzeitig ausfindig machen und behandeln zu können, wurde in der DDR ein
gigantisches Früherkennungs- und Vorsorgesystem eingeführt.
Einmal im Jahr
war deswegen das ganze Dorf auf den Beinen. Jeder Bürger musste antreten, um
seine Lunge röntgen zu lassen. Dann stand ein großer bauwagenähnlicher weißer
Wagen auf dem Platz vor dem Dorfgasthof, auf der Seitenwand stand in großen
Lettern geschrieben: „Röntgenzug“. Die Leute standen Schlange, Karteikarten
wurden verglichen, dann hieß es: „Bitte den Oberkörper freimachen“, dann war
man allein in der großen Maschine, presste seine Brust an eine kalte Platte,
„Luft anhalten“, es rasselte und war irgendwie unheimlich, und dann war der
nächste dran. Wir Kinder gingen gleich in Schulklassenformation während des
Unterrichts dorthin.
Einmal im Jahr
kam der Zahnarzt in die Schule und inspizierte die Gebisse aller Kinder. Und
auch der Dorfarzt kam jedes Jahr und kontrollierte den Gesundheitszustand aller
Kinder gleich im Klassenzimmer. Wir wurden „abgehört“ und abgeklopft, bei
Auffälligkeiten zur Behandlung in die nächste Sprechstunde bestellt. Und wir
wurden gleich klassenweise in der Schule geimpft, z.B. gegen Pocken,
Tuberkulose oder Kinderlähmung; Impfen war Pflicht, und das war gut so!
Da eine
vollwertige Nahrungs-Versorgung für viele Kinder in der Nachkriegszeit zu
Hause nicht gewährleistet war, gab es für alle Kinder jeden Tag kostenlos einen
Viertelliter „Schulmilch“. Und an der „Schulspeisung“ - als Mittagessen
angeboten zu sehr moderaten Kosten - nahmen fast alle Schüler teil.
Die
medizinische Versorgung wurde staatlich organisiert. Im Nachbardorf gab es ein
„Landambulatorium“, in dem ein vom Staat gegen Gehalt angestellter Arzt
täglich Sprechstunden hielt. Einmal in der Woche kam auch ein Zahnarzt dorthin.
Dem Arzt zugeteilt waren „Gemeindeschwestern“ in den einzelnen Dörfern, die in
den Gemeindeschwesternstationen kleinere Versorgungsfälle selbst „verarzten“
konnten. Hier hielt der Arzt auch regelmäßig Sprechstunden ab.
In der
Dorfkneipe hatten wir Kinder eigentlich nichts zu suchen, höchstens gab´s da
mal Limonade zu holen. Aber weils manchmal am Wochenende dort hoch her ging,
schlichen wir doch hin und wieder in der Dämmerung hin. Durch die offenen Türen
drangen die rustikalen Klänge der Tanz-Kapelle nach draußen. Paare knutschten
an der Hecke des Kneipengartens. Besoffene entleerten sich. Schlägereien
gehörten (leider) auch zu einem „richtigen“ Tanzabend. Erst gab´s Rempeleien
aus nichtigem Anlass, dann krachte ein gläserner Liter-Bierkrug auf den
Tresen. „Komm mal mit raus“, hieß es, und dann war Remmidemmi.
Viel
interessanter für mich als 13-jährigen war ein Geld-Spiel-Automat, der in der
Wirtsstube an der Wand hing. Da konnte man Spielmarken kaufen und dann
versuchen, sie mit Geschick in die richtigen, gewinnträchtigen Löcher zu
schnipsen. Ich war ein paar Wochen lang richtig süchtig, und habe alles Geld,
das ich zu Hause in meiner Sparbüchse - und anderswo - fand, in diesem Kasten
versenkt.
Durch unser
Grundstück floss ein kleines Rinnsal, auf der anderen Straßenseite war der Dorfbach
- genug Verlockung für tagelange bauliche Unternehmungen. „Bach andämmen“ hieß
das Stichwort, das ganze Gruppen von Jungs beflügelte. Wir rückten mit
väterlichen Spaten an, erweiterten das Bachbett zu kleineren Seen, schleppten
Bretter und Steine heran, um daraus Dämme und Sperrmauern zu errichten. Mit
Schlamm und Grasbüscheln versuchten wir, die Bauwerke abzudichten. Das Wasser
stieg, die Tümpel füllten sich, man konnte Schiffchen fahren lassen ... und
was eigentlich noch? Irgendwann zogen die Bautrupps ab, am Ende siegte immer
das Wasser, das unsere Dämme durchbrach und die errichteten Barrieren wieder
wegriss.
Einmal im Jahr
brach im Dorf die „große Armut“ aus. Betroffen waren vor allem Kinder, kleinere
zumal. In Lumpen und Decken und großväterliche Jacken gehüllt zogen sie
klagend von Haus zu Haus. „Ich bin dr gleene Geenich, gebbt mr nich zu weenich,
lasst mich nich zu lange schdehn, ich will e Heisel weidergehn.“ Und was der
Sprüche mehr waren. Wenigstens ein „Gedicht“ dieser Art musste jeder
aufsagen können. Denn erst nach dieser Mühe kriegten wir was. Faschingsdienstag
war Betteltag. In kleinen Gruppen zogen die Kinder verkleidet von Haus zu Haus,
rumpelten an den Türen, warfen Konfetti in die Hausflure und zogen erst ab,
wenn Bonbons oder extra gebackene „Kräppelchen“ - aus Pfannkuchenteig - oder
auch kleine Geldmünzen in ihre Beutel gefüllt wurden. Abends wurde die klebrige
Beute zu Hause bilanziert.
Eine weitere
Gelegenheit zum Betteln waren Hochzeiten. Während ein Paar in der Kirche
feierlich vermählt wurde, sammelten sich heimlich am Weg den Kirchberg
hinunter kleine Wegelagerer. Hier, wo das Brautpaar auf jeden Fall vorbei
kommen musste, wurde ein Seil quer über den Weg gespannt. Oft waren einige
schnell gepflückte Blumen hineingebunden. Und dann erschien der würdevolle
Brautzug. Wehe dem Bräutigam, der solche Spiele nicht kannte. Mancher war vorbereitet
und hatte eine Tasche mit Kleingeld gefüllt, das er nun mit Schwung über das
sperrende Seil warf. Auf der anderen Seite wartete eine Kinderschar, die sich
jauchzend auf den Geldregen stürzte und zum Dank anschließend das Seil losband.
Manchmal hatten wir besonderes Glück, wenn nämlich der Bräutigam sich in der
Aufregung oder in Unkenntnis nicht mit Kleingeld eingedeckt hatte und nun erst
einmal selbst bei den Hochzeitsgästen betteln gehen musste – da war unter den
anschließend geworfenen Geldstücken auch manches Mark- oder Zwei-Mark-Stück.
Ganz böse Buben haben manchmal auch zwanzig Meter weiter noch ein zweites Seil
gespannt.
In jeder Kirche
in unseren Dörfern war eine Orgel zur Begleitung der sonntäglichen Gesänge im
Gottesdienst. Meist gab es schon ein elektrisch getriebenes Gebläse, das Luft
in die Orgelpfeifen blies und sie zum Klingen brachte. Aber in unserem
Nachbardorf Pfaffroda war das noch wie vor hundert Jahren. Dort musste, wenn
der Kantor Orgel spielen wollte, ein zweiter Mensch da sein und den Blasebalg
treten. Manchmal war ich dieser Blasebalgtreter. Der Gottesdienst begann, ich
hockte auf der Treppe zum Glockenturm - in Bereitschaft. Dann bekam ich ein
Signal vom Kantor, dass jetzt Luft nötig sei. Ich rannte eine Etage höher in
den Turm. Dort war eine Extra-Kammer. Darin befand sich ein großer Kasten, in
zwei Teilen aus Holz gefertigt und mit Ziegenleder abgedichtet. Der obere
Kastenteil war beweglich. Man konnte ihn mit einem Tretbalken als Hebel nach
oben drücken, dadurch wurde Luft angesaugt, und dann hatte man ein
Luftreservoir, aus dem mit gleichmäßigem Druck ein regelmäßiger Luftstrom in
die Orgel gehen konnte; der Blasebalg war also ein Luft-Vorratsgefäß, in der
Funktion ähnlich wie ein Dudelsack. Zum „Luftpumpen“ stellte ich mich auf zwei
Balken, die im Wechsel nach unten getreten werden mussten, um den
Blasebalg-Kasten ständig neu mit Luft zu füllen.
Misslich war
es, wenn man – weil das Orgelspiel weit weg stattfand – das Blasebalgtreten zu
zeitig beendete: Dann erstarb der Choral in einem jämmerlichen Gewimmer der
Orgel.
Unser Dorf zog
sich an einer Straße hin. Häuser und Gehöfte waren fast durchweg nur auf einer
Seite errichtet worden. Einen richtigen Dorfkern gab es nicht. Das führte dazu,
dass die Leute weit auseinander wohnten, dass es wenig Nachbarkinder gab, denen
man einfach mal so über den Weg lief und die man zum gemeinsamen Spielen
mitschleppen konnte. Wenn man überhaupt einen Freund hatte, dann war es der,
der zufällig am nächsten wohnte - und das konnte schon bei Klassenkameraden
einen Kilometer weit sein. Man musste sich richtig verabreden für irgendwelche
Lausbübereien, und deshalb saß ich oft dann allein in der Wohnung und las
Indianerbücher.
Eigentlich
sprachen alle im Dorf sächsisch. Aber manche Leute sprachen ganz anders. Wir
bekamen mit: Das waren „Umsiedler“. Praktisch in jedem Haus waren in den
Nachkriegsjahren solche Familien einquartiert. Sie waren nach dem verlorenen
Krieg aus ihrer Heimat vertrieben worden, stammten aus Dörfern, die jetzt zu
Polen oder der Tschechei gehörten. Meist waren sie ohne Hab und Gut gekommen
und lebten recht ärmlich; wie schlecht es bei ihnen zu Hause wirklich aussah,
merkten wir in der Schule an der geflickten Kleidung und den fehlenden
Schulbroten.
Ich habe erst
später begriffen, dass es im Dorf doch ein Unterschied war, ob eine Familie
schon immer dort lebte, oder ob jemand ein „Zugereister“, ein „Eingeheirateter“
oder eben ein „Umsiedler“ war – die gehörten so ganz richtig nie „dazu“. Vier
Jahrzehnte DDR-Zeit hatten eigentlich vieles im Sozialgefüge nivelliert. Die
ehemaligen Bauern und deren Kinder waren in dieser Zeit Traktoristen,
Schlosser, Viehpfleger, Agraringenieure, eben gleichberechtigte „Kollegen“
geworden. Aber doch feierten noch immer nur die Familien miteinander
Geburtstage und Kindstaufen, deren Großväter „Vierspänner“ oder „Sechsspänner“
gewesen waren, die also vier oder sechs Pferde anschirren konnten; Leute mit
nur einem Pferd oder gar ohne eigenen Grund und Boden lebten in einer anderen
(Preis-)Klasse.
In den 60er
Jahren ein Telefon zu haben, war ein großes Privileg. Die meisten Leute mussten
andere Wege beschreiten, um Mitmenschen eine Nachricht zukommen zu lassen. In
dringenden Fällen rief man dann bei jemandem an, der in der Nähe der Zielperson
wohnte und von dem man wusste, dass er ein Telefon besaß, und bat ihn, doch
einmal bei den Großeltern vorbeizugehen und ihnen folgendes auszurichten ...
Oder man schickte ein Telegramm, das per Formular-Vordruck am Postschalter „aufgegeben“
wurde oder auch übers Telefon. Dann rief man das „Fräulein vom Amt“ an, das den
Text entgegennahm. Die Nachricht wurde dem Empfänger von einem Telegrammboten
überbracht und handschriftlich oder in Form ausgedruckter schmaler
Textstreifen, die auf ein größeres Formular-Blatt aufgeklebt waren,
ausgehändigt. Da stand z.B. VERGISS NICHT KOMMA DEN KUCHEN MITZUBRINGEN STOP
MUTTER. Man konnte auch Telegramme mit bezahlter Rückantwort aufgeben, die
Antwort war dann auf eine bestimmte Anzahl von Worten beschränkt. In diesem
Fall wartete der Bote und nahm die Antwort gleich entgegen.
Bis in die
1970er Jahre hinein war freies Telefonieren nur im eigenen Ortsnetz und in der
unmittelbaren Umgebung möglich. Alle anderen Gespräche wurden von Hand
vermittelt, das bedeutete, man rief das Fernamt an, bekam, wenn man Glück
hatte, eine nette Dame an den Apparat, sagte ihr, dass man ein Gespräch
anmelden wolle, in welchen Ort und zu welcher Rufnummer. Manchmal konnte die
gewünschte Verbindung gleich hergestellt werden, aber oft legten beide Seiten
erst einmal den Hörer wieder auf, und 10 Minuten oder auch zwei Stunden später
rief das „Fräulein“ vom Amt (die wurden wirklich so angesprochen) erneut an und
konnte nun endlich den gewünschten Kontakt herstellen.
Die Post hatte
es in jenen Jahren auch nicht leicht. Wenn z.B. jemand aus Pirna an uns
schrieb, konnte auf dem Brief stehen „Familie Krause, Schönberg bei Meerane,
Pfarre“. Keine Postleitzahl, keine Hausnummer (obwohl unser Haus eine hatte).
Oder wir waren zu suchen unter „Schönberg/Sa.“, wobei es Sachsen in den 50er
Jahren in der DDR offiziell gar nicht mehr gab.
Mit etwas
Abstand habe ich – als Junge - die komplizierten Spiele beobachtet, mit denen
sich die Mädchen vergnügten. Eines davon hieß „Himmelhupp“. Ein gern genutzter
Platz dafür war die Mitte der Straßenkreuzung vor unserem Grundstück. Erstens
kam da nur höchst selten ein Gefährt schneller als im Pferdeschritt daher, und
zweitens hatte die Straße noch keine Asphaltdecke, sondern bestand einfach aus
festgefahrenem Kies und Sand. Für das Spiel mussten zunächst viele rechteckige
Felder auf den Boden geritzt werden. Dann wurden kleine Porzellanscherben geworfen,
die bestimmte Felder treffen mussten. Diese Steinchen hießen „Gliggser“ - das
bedeutete vielleicht so etwas wie „Glückser“, Glückssteine. Und dann hopsten
die Mädchen, mal auf einem Bein und mal auf zweien, mal vorwärts und mal
rückwärts, und dabei sammelten sie die Steine wieder ein. Ohne auf eine Linie
zu treten, verstand sich. Dann war die nächste dran.
Einmal habe ich dann aber doch bei so einem Mädchen-Wettbewerb mitgemacht.
Plötzlich hatten alle Kinder in der Nachbarschaft ein „Strickliesel“. Die
kleinen bunten Püppchen gab´s zu kaufen, aber es tat auch eine große hölzerne
Garnrolle, in die vier kleine Nägel geschlagen wurden. Mit einem solchen
Gerät, mütterlicher Wolle und etwas Geschick war es möglich, einen bleistiftdicken
hohlen Schlauch zu stricken. Daraus ließen sich zum Beispiel Topflappen
fertigen. Uns aber hatte der Ehrgeiz gepackt, wer den längsten Strick
produzieren konnte. Und so sah man wochenlang überall im Dorf Kinder, die in
jeder freien Minute strickten und meterlange bunte Woll-Schlangen mit sich
herum schleppten.
Richtiger
Winter war früher natürlich jedes Jahr! Und wenn es dann endlich knackig kalt
war und der Schnee die Landschaft weiß bedeckte, dann gab es kein Halten mehr.
Nach der Schule flog der Ranzen in die Ecke und wir trabten, den Rodelschlitten
hinter uns her ziehend, übers Feld. Rechts und links stoben die aufgeschreckten
Hasen davon. Unser Ziel waren die Hügel und Wiesen-Hänge im Dorf, an denen
sich auch die anderen Kinder sammelten. Und dann stapften wir stundenlang
immer wieder zur Höhe hinauf, um die kurze Seligkeit des Hinabgleitens zu
genießen. Manchmal „kettelten“ wir auch zwei oder mehrere Schlitten fest
zusammen und fuhren „Bob“, jeweils der auf dem hinteren Schlitten steuerte den
vorderen. Eine dicht gedrängte Kinderschar hockte auf dem Schlitten-Wurm, der
mit Schreien und Quieken zu Tale schoss und - nicht ganz unbeabsichtigt -
unterwegs oft alle Insassen im tiefen Schnee abkippte. Später hatten wir
manchmal auch Schneeschuhe an den Füßen. Da wurden fachkundig Sprung-Schanzen
aus Brettern und Schnee errichtet, über die wir kühn hinuntersprangen ins Tal
- manchmal auch tollkühn, nach 10 Metern Flug gab´s da schon mal einen
verstauchten Knöchel, oder das Leben eines Ski-Bretts endete im
„Spitzen-Salat“.
Auch der
schönste Wintertag ging irgendwann zu Ende. Müde und hungrig schlappten wir
über die Felder nach Hause. Und erst dort – in der Wärme der Stube – tauten
die klammen Finger und frierenden Füße langsam wieder auf, begleitet von
einem typischen Schmerzgefühl, das „Zwirnseln“ genannt wurde und erst langsam
nachließ, wenn die Füße auf mütterlichen Befehl in heißes Wasser gesteckt
wurden. Heißer Tee - natürlich Marke „Doktor Hungers Kräutertee“ - und viele Wurstschnitten
brachten den Abend dann wieder endgültig ins Lot. Und vorsichtshalber wurden an
kalten Tagen vor dem Schlafengehen auch noch die Bettdecken am Wohnzimmer-Ofen
aufgewärmt.
Im Winter hatte
auch der Schulweg seine besonderen Reize. Am Straßenrand gab es tiefe
Schneewehen. In diese konnte man sich hinein fallen lassen, dann die Arme
ausbreiten, und am Ende sah der hinterlassene Eindruck aus wie ein Vogel, der
sein Gefieder ausgespreizt hat. Wir waren voller Schnee, schön nass, und eine
überzeugende Ausrede für die Verspätung in der Schule war auch noch fällig.
Den ersten Film
meines Lebens habe ich zu meinem sechsten Geburtstag gesehen. Feierlich schritten
Eltern und Tanten mit mir als Ehrengast in eines der zwei Kinos, die in der
Kleinstadt nebenan existierten, und bewunderten „Das doppelte Lottchen“.
Wenige Jahre später gehörte Kino auch auf dem Dorf zum Alltag. Aller 14 Tage
hingen neue Plakate am Kötheler Gasthof: „Der Landfilm kommt“. Und drunter
stand noch, welchen Film für Erwachsene und welchen für Kinder er im Gepäck
hatte. Der Landfilm war für uns Kinder ein Mann, der mit einem klapperigen
Auto vorfuhr, eine beeindruckende Menge an Gerüsten und Technik und Kisten
auspackte und auf einer Seitenfläche des großen Tanzsaales Leinwand und
Kino-Projektor installierte, ständig beobachtet und unterstützt von einer neugierigen
Kinderschar. Der Landfilm spielte für Kinder zum Preis von 25 Pfennigen,
abends für die Erwachsenen wollte er 80 Pfennige Eintritt. Als Gegenleistung
brachte er Kultur zu uns, manchmal heitere und unterhaltsame, meist aber
revolutionär-belehrende Filme. Wiederholungen waren häufig; einige Jungen aus
meiner Schulklasse hatten in kurzer Zeit das bedeutsame Werk „Schüsse an der
Grenze“ fünfmal gesehen und sprachen die Dialoge mit. Aber da es noch kein
Fernsehen gab, bot der Landfilm willkommene Abwechslung und die Vorstellungen
waren gut besucht. Wichtiger Bestandteil des Programms war die Wochenschau
„Der Augenzeuge“, die zwangsweise zum Start gezeigt wurde, zwar immer schon Monate
alt war, aber ein Stück Information - und Agitation - über die große weite Welt
draußen ins Dorf brachte. Kino war auch im kältesten Winter. Dann wusste das
Publikum Bescheid, jeder klemmte ein paar Scheite Holz oder einen Beutel mit
Braunkohlen-Briketts unter den Arm, in der Saalecke bullerte rotglühend ein Eisenofen,
und dort herum scharte sich das Volk.
Die Städter hatten´s besser. Im kleinen Nachbarstädtchen gab es zwei Kinos, die
in den noch weithin fernsehfreien Zeiten der 50er, 60er und auch 70er Jahre
guten Zulauf hatten.
Ein Stück
außerhalb des Dorfes gab es eine „Kohlengrube“. So richtig was von Grube war
eigentlich nicht zu sehen, wenn man von den ständigen Einbrüchen und
Absenkungen der Straße absah, die dort vorbei führte. Aber es war tatsächlich
ein Braunkohlen-Schacht, meines Wissens der südlichste im Mitteldeutschen
Revier. Man merkte das am Inhalt von einer Art großen Regalen, die die Straße
säumten. Dort lagerten ordentlich gestapelt ziegelgroße dreckig-dunkle Quader.
Sie bestanden aus sehr minderwertiger Braunkohle - eher von
Blumenerde-Qualität -, die gepresst worden war, und sollten an der Luft trocknen.
Nasspresssteine hießen sie amtlich und waren in den Nachkriegsjahren das
einzige käufliche Heizmaterial in unserer Region. Gewonnen wurde der Rohstoff
in etwa zwanzig Metern Tiefe, untertage, in mühsamer und gefährlicher
Handarbeit mit Hacken und Schaufeln. Bei uns zu Hause wurden die Torfsteine im
Keller gestapelt und zusammen mit Holzabfällen im Kachelofen verbrannt. In den
60er Jahren wurden sie von Braunkohlebriketts abgelöst. Vom Braunkohlebergbau
im Dorf zeugen heute nur noch Bergschäden in Gestalt einer - durch Einbrüche -
ungewöhnlich gewellten Straße.
Mit Braunkohle
zu heizen war eine richtige Kunst. Zunächst mussten die im Keller gebunkerten
Briketts mit Eimern in die Wohnung geholt werden. Der Kachelofen hatte zwei
Türchen. Im oben liegenden Feuerraum des Ofens wurde auf einem Eisenrost aus
Zeitungspapier und dünnen Holzscheiten ein kleines Nest gebaut und zum Brennen
gebracht. Wenn der Schornstein richtig „zog“ und das Holz Feuer gefangen
hatte, wurden vorsichtig und mit System Briketts darum und darüber
geschichtet. Die Ofentür wurde geschlossen, und nun konnte über die offene Tür
des darunter befindlichen Ascheraums richtiger „Zug“ entstehen. Die Intensität
des Brennvorgangs konnte durch das Öffnen oder Schließen der unteren Klappe
geregelt werden. Wenn nach einer halben oder einer Stunde die Briketts
„durchgebrannt“ waren – d.h. nur noch helle weißrote Glut zu sehen war -,
konnte der Ofen „zugeschraubt“ werden; jetzt waren also beide Ofentüren fest
verschlossen. Die durch kleine Fugen und Spalten neben der Tür weiter einströmende
Restluft reichte aus, um den Brennvorgang langsam zu Ende zu bringen. Wenn man
den Ofen zu zeitig schloss, bestand die Gefahr, dass nicht vollständig
verbranntes giftiges Kohlenmonoxid in den Wohn-Raum zurückströmte!
Da das Anheizen
ein recht mühsamer Prozess war, wurde das Verfahren manchmal abgekürzt. Dann
wurde mit einer Schaufel direkt aus dem Feuerraum eines „durchgebrannten“ Ofens
ein Teil der Glut entnommen und vorsichtig zum nächsten Ofen getragen und
bildete die Grundlage für ein neues Feuer. Im eisernen Aschekasten unter dem
Feuerraum sammelte sich die weißlich-graue Asche, die später durchs Haus
hinunter zur Aschengrube getragen werden musste. Die Asche fand auch als Dünger
im Garten und auf winterglatten Wegen als Streumittel Verwendung.
Unterricht für
wesentliche Dinge, die man fürs Leben wissen muss und brauchen kann, gab´s gratis
und nebenbei. In fast jedem Haushalt gab es mehr oder weniger gut gezimmerte
Bretterkisten, in denen Stall-Hasen - die ja eigentlich Kaninchen sind -
hausten. Hin und wieder wurden die weiblichen Tiere in eine Ledertasche
gepackt. Dann ging es ab zum Nachbarn, der einen Rammler hatte. Die beiden
Tiere wurden zusammengesperrt, beschnupperten sich ein Weilchen, dann saß das
männliche Tier kurz obenauf, knurrte und „rammelte“, und das war´s schon. Ein
paar Wochen später „warf“ „die Alte“, und es gab junge Hasen zu besichtigen.
So war das also mit dem Kinderkriegen. Der Hahn und die Hühner in Kirbachs
Garten machten es ähnlich.
Eine Katze -
manchmal war´s auch ein Kater - gehörte natürlich auch all die Jahre zu unserem
Haushalt. Und Katzen begnügten sich nicht mit ihrem Job, Mäuse zu fangen,
zweimal im Jahr ließen sie sich auch von Katern umwerben. Im Ergebnis der
lautstarken und nervtötenden Gesänge in den Hochzeitsnächten kamen regelmäßig
kleine Katzen zur Welt, und einmal fand die Geburt ganz öffentlich auf dem Sofa
im Wohnzimmer statt. Also war auch das klar.
Tiere gehörten
zum Haushalt. Gehörten auch irgendwie zur Familie. Umso schlimmer, wenn dann
einer unserer Hausgenossen starb. Manche Katze hat ein richtiges Begräbnis
erhalten, mit Sarg (Schuhkarton), Blumenkreuz und Gedenkstein.
Tiere zu haben
war nicht nur Lust, es brachte auch Pflichten. Das „Katzenklo“ – bei uns ein
eiserner Kasten, gefüllt mit Braunkohlenasche - musste täglich geleert und neu
befüllt werden, die „Hasen“ hockten auf schnell wachsenden Mistbergen, die
irgendwann ausgeräumt werden mussten, natürlich von mir, dem stolzen Besitzer.
Das ist einer
der Gerüche, die ich nie loskriegen werde: faule Eier, etwas Rettich ...
Karbid hatte jeder ordentliche Mann zu Hause, jedenfalls, wenn er nachts Rad
fahren wollte. Da wurde nämlich die Karbidlampe angezündet. Dazu war zunächst
ein Behälter mit trockenen Karbid-Brocken zu füllen. Darüber befand sich ein
kleines Gefäß mit Wasser. Aus diesem tropfte - vorsichtig zu regulieren mit
einem Hahn - Wasser ins Karbid. Durch eine chemische Reaktion wird ein Gas freigesetzt
(Azetylen), das man anbrennen kann. Das so erzeugte flackernde Licht half dem
Mann, den Weg von der Männerchor-Probe nach Hause zu finden.
Auch wenn der Schmied schweißen wollte, benutzte er Karbid zur Herstellung von
Schweiß-Gas.
Und wir Jungens hatten noch ganz anderes gehört: Wer Karbidpulver in eine Blechdose
oder Glasflasche füllt, gleich richtig viel Wasser reintut, das Gefäß schnell
fest zudeckelt und in einen Fischteich wirft, der hat - nach einer ordentlichen Explosion - zu
Mittag Fisch in der Pfanne. Geredet haben wir viel, getraut hat sich´s keiner.
Aber die größeren halbwüchsigen Jungen ließen es schon manchmal schrecklich in
den Sandgruben krachen.
Jedes Jahr im
Frühling frönten wir Kinder - und auch manche Erwachsene - einem anderen
zweifelhaften Vergnügen. An Wiesenhängen und Wegrändern fanden sich überall
schwarze Brandstellen und glimmende Grasreste. Wir gingen „motzen“ (mit
„langem“ o zu sprechen). Mit der Begründung, dass das gut sei für den Neuaustrieb
des Grases im Frühling, wurde alles alte Gras abgefackelt. Und wenn sich die
Flämmlein züngelnd durch dicht und dünn vorwärts fraßen, dann hatte das einen
verführerischen Reiz, dem wir jahrelang einfach nicht widerstehen konnten.
Jedes Jahr
einmal stand ein Mann vor unserer Tür. Er fragte artig meinen Vater als
Grundstückseigentümer, ob er unsere Weiden schneiden dürfte. Er durfte
natürlich. Und dann ging er hin an den Dorfbach, wo die Kopfweiden standen.
Aus ihren Stümpfen war im letzten Jahr ein Schopf einzelner, dünner, langer
Ruten hervor geschossen. Und die brauchte er. Der Mann war nämlich Korbmacher.
Er flocht aus den Ruten, nachdem er sie getrocknet hatte, allerlei nützliches
Gerät und Korbartiges. Und er pflegte gleichzeitig durch den regelmäßigen
Schnitt unsere Weiden und sorgte dafür, dass sie nicht ins Kraut schießen konnten.
Aller paar
Jahre gab´s eine Überschwemmung. So etwa im Sommer des Jahres ´54. Nach längeren
Regenperioden oder in der Folge katastrophaler Gewittergüsse konnte der
Dorfbach die Wassermassen nicht mehr fassen. Eine wilde lehmig-braune
Sturzflut schoss im Bachbett hinunter und trat bald über die Ufer. Kisten und
Balken und allerlei Unrat aus den oberhalb gelegenen Grundstücken trieb in
schneller Fahrt vorbei, bestaunt von neugierigen Kinderaugen. Das Spektakel
dauerte nur ein oder zwei Stunden. Dann wurden wir zu Katastrophen-Touristen.
Gummibestiefelt wanderten wir das Dorf hinauf. Und da war wirklich was los:
Manche Grundstücke lagen deutlich tiefer als das Bachbett und hatten bei überlaufendem
Wasser keine echte Chance. Zwar gab es Vorrichtungen, die dem Wasser den Weg in
die Wohnstuben versperren sollten, aber oft saßen dann doch hilflose Nachbarn
neben ihrem tropfnassen Hausrat. Für uns Kinder war es interessanter, dass nun
auch der Sportplatz tagelang unter Wasser stand und dort Fische herumschwammen.
Einmal, als nach einem Gewitterguss das Wasser quer durch unseren Garten gestürzt
war, lagen zappelnde Fische sogar direkt vor unserer Haustür.
Alle paar Jahre
brach große Hektik aus. Plakate hingen an den Häuserwänden und warnten vor der
„Maul-und-Klauen-Seuche“. Quer über die
Dorfstraße wurden am Dorf-Ein- und Ausgang „Seuchenmatten“ errichtet,
flache Holzkästen, mit Sägespänen gefüllt und mit einem Desinfektionsmittel
getränkt – und da mussten unter Kontrolle alle Pferde und Fuhrwerksräder und
Fußgänger durch, um die Krankheitserreger nicht weiterzutragen.
Ich habe mir
meine erste Uhr mit 14 Jahren zur Konfirmation gewünscht. Uhren brauchte man eigentlich
nicht im Alltagsleben, die Rhythmen des Tages waren klar, und bei Notwendigkeit
wurde daran erinnert. Den Pulsschlag der Zeit gaben die Kirchenglocken an. An
Werktagen wurde früh um sechs Uhr - winters um sieben - geläutet: Der
Arbeitstag begann. Dann ertönten die Glocken wieder mittags um 11: Das war das
Signal an die Bauern auf den Feldern, damit sie rechtzeitig zu Mittag wieder
auf dem Hof waren, um zu essen und sich selbst und den Pferden zwei Stunden
notwendige Pause zu gönnen. Das dritte Mal läutete es abends um 6 Uhr -
winters um 5 -, alle kehrten jetzt heim, und auf vielen Höfen gab es zunächst
eine „Dämmerstunde“ im wahrsten Sinne des Wortes. Man wartete ab, bis es
richtig dunkel wurde und „dämmerte“ zur Erholung vor sich hin, ehe die
abendlichen Arbeiten in Haus und Stall begannen.
Das Läuten -
alle im Dorf sagten: „Lauten“ - der Kirchturmglocken war eine wichtige und
höchst amtliche Tätigkeit. Jahrzehnte lang stieg „Thiemes Ida“ dreimal täglich
auf unseren Turm, schwenkte die Glockenseile und zog durch Drehen mächtiger
Kurbeln die Gewichte der Turmuhr auf. Die lebendige ältere Frau hatte nicht nur
das Alltags-Geläut zuverlässig zu besorgen, da gab es noch eine Menge weiterer
sehr differenzierter Läute-Regeln.
Einmal
schreckten uns Schulkinder unbekannte, bedrohliche Schläge der „großen“ Glocke
- die Schule stand unmittelbar neben dem Kirchturm. Thiemes Ida war eben auch
für den Feueralarm zuständig. Im Nachbardorf brannte „Dietzmanns Scheune“.
Frau Thieme war durch einen Boten alarmiert worden – ein Telefon hatte
praktisch niemand im Dorf. Nun stand sie unmittelbar unter der großen Glocke
und bewegte mit der Hand den schweren Klöppel, der gegen die Glocke schlug. Das
war „Feuerläuten“ und klang ganz anders, als wenn die Glocke mit dem Seil in
Bewegung gebracht wurde. Der Alarm ward im Dorf gehört, die Mitglieder der Freiwilligen
Feuerwehr sammelten sich und rückten aus, und wir kriegten schulfrei, rannten
mit Schulranzen zum Ort des Geschehens und lauschten angesichts von rauchenden
Trümmern den gruseligen Berichten und Vermutungen der anderen Schaulustigen.
Es ging Mitte
der 50er Jahre wie ein Lauffeuer durchs Dorf: In der Stadt gibt es einen
Fernseher! Wir Jungen machten uns sofort mit dem Fahrrad auf den Weg, um dieses
Weltwunder zu besichtigen. Mit vielen anderen Schaulustigen drückten wir uns
die Nasen platt an der Schaufensterscheibe eines Rundfunkladens und staunten.
Eine kleine, rundliche Mattscheibe - vielleicht 20 Zentimeter in der Diagonale
- zeigte verschwommene, schwarzweiße, aber eben bewegliche Bilder. Zunächst
nur für ein oder zwei Sende-Stunden am Tag. Schnell hielten die neuen Geräte
Einzug in die ersten Bauernstuben. Wir guckten alles an, was kam, das
Flimmerbild machte süchtig. Bald kam ein wichtiger Unterschied hinzu. Es gab
nämlich Ost- und West-Fernsehen. Um letzteres zu empfangen, brauchte man etwas
Geschick, um provisorische Antennen aus aufgespannten Drähten zu basteln. Die
„Tagesschau“ wurde fester abendlicher Programmpunkt, der „Weltspiegel“ oder
Werner Höfers sonntäglicher „Frühschoppen“ machten fortan die Welt etwas
größer.
In der DDR war West-Fernsehen politisch nicht erwünscht. Die Antennen wurden im
Dachgebälk versteckt. Fast jeder guckte, aber man redete nicht drüber.
Gleich vor
unserem Haus lag der „Pfarrteich“. Zum Baden war die schlammig-trübe Brühe
weniger geeignet, obwohl wir auch das, genau so wie das Kahnfahren mit alten
Badewannen oder das Flößen auf schwimmfähig gemachten alten Haustüren versucht haben.
Aber paradiesisch wurde es im Winter. Kaum gab es einige Tage Frost, schon
standen wir Kinder zunächst angstvoll-sinnend vor der lockenden silbrigen Eisfläche,
stießen bald Stöcke durch das Eis, um seine Stärke zu erkunden, und wenig
später lag der erste mutig auf dem Bauch und robbte hinüber zur Insel in der
Teichmitte. Wenn das gelang, ohne dass einer von uns einbrach, durchs eisige
Wasser waten und zu Hause einiges erklären musste, dann ging die frohe Kunde
durchs Dorf: „Es hält!“. Und bald tobten viele Kinder auf der manchmal noch
immer warnend knackenden Eisfläche herum. Einige brachten Schlittschuhe mit,
die sie in heimatlichen Bodenkammern gefunden hatten. Die Schlittschuhe wurden
mit krallenförmigen Backen von der Seite her an die Sohle von Schuhen angeschraubt.
Und als Schuhe war uns Kindern dabei alles recht, was wir gerade an den Füßen
trugen. Aber bei den wilden Jagden, die dann auf dem Eis stattfanden,
strauchelte immer wieder mal einer. Die Schuhsohlen oder noch öfter die Absätze
überlebten die heftigen Prüfungen nicht und rissen einfach komplett ab.
Manchmal haben wir heimlich die Schuhe - es waren ja in der Regel unsere
einzigen Winterschuhe - selbst wieder zusammengenagelt, aber der Verschleiß
war für die Eltern wohl ziemlich ruinös.
„Kinder - wollt
ihr mal mit hoch auf den Kirchturm?“ Keine Frage, wir wollten! Das war ein
Privileg für uns Pfarrerskinder und das war auch immer ein besonderer Tag. Es
ging viele steile, staubige Stufen hoch, die übersät waren mit Tausenden toter
Fliegen, noch eine Etage und noch eine. Vorbei am Kirchenboden - wurmstichige
Stühle und alte Kisten mit zerflederten Büchern im Halbdunkel -, weiter zur
tickenden Uhr, danach kam das Stockwerk, auf dem die drei Glocken hingen, und
dann wurde es ganz dunkel. Es galt, eine Leiter zu ertasten, die sehr steil in
totaler Finsternis nach oben führte. Der erste, der ganz oben ankam, musste
eine schwere Abdeckplatte anheben und wegschieben, und dann konnten wir hinauskriechen
auf die „Aussicht“, eine mit Sicherheitsbarriere umgebene Plattform, von der
aus sich ein weiter Rundumblick auftat. Als Sahnehäubchen eines solchen Ausflugs
stiegen wir manchmal ganz vorsichtig noch eine Ebene weiter hinauf. Durch ein
enges Loch gelangte man in den Turmkopf. Wenn sich die Augen an das Dunkel
gewöhnt hatten, tauchten merkwürdige Wesen auf, gefiederte graue, weißliche und
später braune Wollbälle, alle unterschiedlich groß. Da saßen stumm junge
Schleiereulen und wunderten sich über den Besuch. Auf dem Weg wieder hinunter
vom Turm steckten wir uns dann immer einige unscheinbare grauschwarze Klumpen
in die Hosentaschen. Wenn man diese Gewölle, die die Eulen als unverdauliche
Reste ihrer Verdauung – wieder durch den Schnabel - auswürgen, vorsichtig
zerlegte, fanden sich säuberlich abgenagte Schädel von Mäusen oder deren diverse
Gebeine – solche Funde zierten dann monatelang den Tisch im Jungenzimmer.
Eigentlich gab
es die Maikäfer immer - irgendwann im Mai ... Man ging hinaus, nahm sich einen
beliebigen Baum vor, kurzes Schütteln an einem Ast, es machte KLACK, und unten
lag ein Maikäfer, oder auch zwei oder drei. Tagsüber schliefen die Käfer im
Geäst, um dann in der abendlichen Dämmerung brummend auf Brautschau zu
fliegen. Dabei konnte man die schwerfälligen Tiere auch mit der Hand
„abditschen“, das hieß zu Boden schlagen. Die Krabbeltiere wurden in Kartons
mit Löchern gesammelt. Sie wurden fachkundig in Kategorien eingeteilt. Es gab
nicht nur Männchen und Weibchen, wir unterschieden, je nach Farbe und Behaarung
des Rückenpanzers, „Kaiser“, „König“, „Bäcker“, „Schornsteinfeger“, „Müller“.
Sie mussten Wettrennen austragen. Sie mussten im Gespann Nussschalen ziehen.
Wir hielten die Hand in die Höhe und beobachteten, wie sie auf die höchste
Stelle des Fingers stiegen, dort erst einmal „pumpten“, dann zunächst die
äußeren harten braunen Flügel entfalteten und danach noch die darunter liegenden
durchsichtigen zarten, und dann durften sie starten. Maikäfer gehörten einfach
zu jedem Mai dazu.
Einmal gab es eine Plage: Auf allen Bäumen, Eichen wie Linden und Kirschbäumen,
knisterte, knackte und kackte es - da krümelte es wirklich ständig. Die Obstbäume
- damals noch wichtiger Vitaminlieferant für den Winter - wurden täglich
kahler unter der Invasion. Die Eltern riefen den Notstand aus. Das hieß,
täglich eine Stunde früher als sonst aufzustehen, um noch vor Schulbeginn die
schlafenden Käfer zu überraschen. Mit System schüttelte die ganze Familie einen
Baum nach dem anderen, die kältestarren Krabbeltiere fielen zu Tausenden
herunter, wurden schnell eingesammelt, in einen Eimer verfrachtet, und wenn
der Eimer voll war, wurde kochendes Wasser hineingegossen. Die Brühkäfer durfte
ich anschließend zu Bauer Wiegner tragen, wo sie als willkommenes eiweißreiches
Zusatzfutter den Hühnern zum Fraße vorgeworfen wurden. Als Dank dafür, dass
ich da mehr als eine Woche lang täglich mit einem Eimer erschienen war, gab´s
ein Körbchen Eier. Das war durchaus willkommen als Zusatz-Futter für meine
Familie. Aber wir erlebten auch eine Überraschung: Durch die tagelange
Fütterung der Hühner mit Maikäfern rochen und schmeckten die Eier penetrant
nach gekautem Laub und Maikäferkacke!
Für die
Sonnentage im Sommer gab es das Sommerbad. Zu dem in der Nachbarstadt wäre es
auf der Straße vier Kilometer weit gewesen. Aber einen Bus gab es noch nicht,
und ein Fahrrad hatte auch kaum eines der Kinder. Also Fußmarsch! Quer übers
Feld war´s etwas kürzer. Früh morgens wurden zu Hause Beutel gepackt:
Dreiecksbadehose, Bademantel und ein Glas gezuckerte Johannisbeeren für
Mittag. Mütterliche Ratschläge und Eintrittsgeld entgegen genommen und dann
begann eine Wanderung - mit Pausen. Da war hier ein Mauseloch zu besichtigen,
dort lag ein großer Strohhaufen, auf dem man herumspringen konnte, in einem
Waldstück knackte es einmal Neugier weckend und ein andermal bedrohlich.
Irgendwann war in der Ferne der typische Lärm eines Sommerbades zu vernehmen,
dann wurde an der Kasse bezahlt - 10 Pfennige für „ein Mal Kind ohne Garderobe“
- und ein langer Tag lag vor uns. Rumliegen, necken, untertauchen, schubsen,
springen vom „Dreier“ (Drei-Meter-Brett), rumstehen im Bademantel mit Zittern
und blauen Lippen, und dann wieder hinein in die trübe braune Brühe; wenn man
sich beim Tauchen auf den Grund legte, konnte man von oben nicht mehr gesehen
werden. Irgendwann waren die mitgebrachten Vorräte aufgebraucht, aber der
Magen meldete sich trotzdem. Dann wurde in den Tiefen des Badebeutels der
Not-Groschen gesucht, jemand wurde ausgeguckt und marschierte los hinaus zum
Bäckerladen. Da lag das Objekt der Begierde im Regal: frisch gebackene duftende
Brote. „Bitte für´n Groschen Brot“ – da gab es eine dicke Scheibe, die meist
schon auf dem Weg ins Bad zurück angeknabbert wurde, und über den Rest fiel
die zurückgebliebene Kinderschar gierig her. Das gab Kraft für den Rest des
Nachmittags. Gegen Abend zogen müde-gespielte Kinder schnatternd wieder zu Fuß
über die Felder gen Heimat.
Im Sommerbad
bekam ich auch im zweiten Schuljahr die Chance, „richtig“ Schwimmen zu lernen.
Elterliche Anmeldung des zitternden Knäbleins beim Bademeister, eine knappe
theoretische Einführung, ein paar Übungen „Trockenschwimmen“ auf einem
speziellen tischartigen Gestell, und dann wurde ich schon das erste Mal zu
Wasser gelassen. Ich baumelte an einer Art Angel: Von einem galgenartigen
Gestell am Beckenrand hing ein Seil herunter, an dem ich mit einem Gurt
angebunden wurde und nun prustend zu den Anweisungen des Bademeisters
herumruderte.
Mutter nähte umgehend aus Leinenstoff zwei „Schwimmkissen“, die über ein Band
miteinander verbunden waren – wenn der
Stoff angefeuchtet wurde, konnte man über die Nähte Luft einblasen, die
blasigen Beutel an der Brust befestigen und sich im Wasser tragen lassen.
Einige Wochen später durfte ich mich dann „freischwimmen“. Das hieß, sich eine
Viertelstunde lang schwimmend im „Tiefen“ - dem Becken für Schwimmer -
aufzuhalten, ohne den Beckenrand anzufassen – und danach gab´s als Belohnung
eine amtliche Urkunde in die nasse und zitternde Kinderhand. Ein Jahr später
war der Ehrgeiz wieder so weit gekräftigt, dass es nun heißen konnte, die
Prüfung für das „Fahrtenschwimmen“ abzulegen, was bedeutete, diesmal eine
Dreiviertelstunde lang im Kreis herum zu schwimmen und mutig vom
Dreimeterbrett zu springen.
Die
Sommerferien hatten zwei erfreuliche Höhepunkte. Der eine war natürlich der
erste Ferientag und die Aussicht auf acht endlos lange Wochen Pause. Der zweite
wichtige Termin war der Tag, an dem die Bauern ihre Getreideernte endlich
eingebracht hatten und gelbe stoppelige Felder hinterließen. Jetzt war
Hamsterzeit! Da inzwischen Feldhamster aus unserer Landschaft so gut wie verschwunden
sind, eine Kurzerklärung: Das ist ein braun-schwarz-gelb-weiß gemustertes
Nage-Tierchen, ausgewachsen etwa 20 Zentimeter lang, freches breites Gesicht
mit großen Backentaschen, sammelt emsig Körner-Vorräte für lange Winter – und
die holt es sich von den Feldern. Auch wir als Kinder hatten schon abenteuerliche
Geschichten gehört, wie dieser grimmige Schädling riesige Kammern gräbt, dem
armen Landwirt zentnerweise Getreide klaut und dort tief unter der Erde versteckt.
Das wollten wir genauer wissen. Also wurden die Hamster einfach ausgegraben.
Aber so einfach war das gar nicht. In langjähriger Sommerferien-Beschäftigung
wurde die Technik immer mehr verfeinert. Da zog ein Trupp von Kindern los,
bewaffnet mit einem oder auch zwei Spaten, Körben oder Beuteln (für die
erhofften Körnerschätze) und mit mehreren Zwei-Liter-Einweck-Gläsern (als
Transport-Gefängnis für eventuell erbeutete Tiere). Zunächst pirschten wir im
Abstand von mehreren Metern in gerader Linie über das Feld, Ausschau haltend
nach den typischen Erdhügeln. Fand sich nun auch ein Loch, aus dem die krümelige
Erde ans Tageslicht befördert worden war, dann wurde erst einmal im Umkreis
von 5 Metern nach weiteren Löchern gesucht. Ein richtiger lebenserprobter
alter Hamster gräbt schon mal einen Bau, der ein ganzes System von Röhren
umfasst, die jede mehrere Meter lang und alle miteinander verbunden sind. Da
gibt es mehrere weit im Umkreis verteilte Eingangslöcher und auch
„Noteinfahrten“ für die schnelle Flucht; das sind senkrechte Fallrohre, die 50
bis 80 Zentimeter in die Tiefe reichen und in die sich der Hamster auf der
Flucht hineinstürzt; ich habe oft die stummelschwänzigen dicken Hinterteile
dort als letztes verschwinden sehen. Wenn alle Ein- und Ausgänge des Baus
enttarnt waren, wurden alle bis auf einen fest mit Erdklumpen zugestopft. An
dem einen verbliebenen Loch begann die Grabung, die bei größeren Bauen
durchaus zwei Stunden dauern konnte. Mit dem Spaten folgten wir Stich um Stich
dem Tunnelsystem. Jede Verzweigung wurde markiert, um dort eventuell später
weiter zu graben, wenn Gang Nr.1 sich doch als Sackgasse erwies. Manchmal war
ein Gang auch nur scheinbar zu Ende, weil der verfolgte Hamster von der anderen
Seite her den Gang fest verstopfte und dabei emsig neue Wege grub. Irgendwo in
den Röhren weiteten sich die Gänge zu Wohnstuben, ausgepolstert mit feinem
trockenem Stroh oder zu Vorratskammern. Mehr als eine Handvoll Körner haben
wir darin nie gefunden. Manchmal stießen wir beim Vorantasten im Dunkel auch
auf Kinderstuben, ausgelegt mit noch feinerem Stroh-Verbiss und bewohnt von 8
oder auch 12, in den ersten Lebenstagen noch blinden, in der Gestalt an kleine
rosa Nilpferde erinnernden Hamster-Jungen. Die gewichtigeren Hamster-Väter wohnten
übrigens nie mit ihren Familien zusammen, sondern unterhielten persönliche
Tunnelanlagen. Die plump wirkenden erwachsenen Tiere waren außerordentlich
gelenkig. Das merkte man schmerzlich, wenn man einen Hamster endlich am Ende
seines Ganges erwischt hatte, er in einer Sackgasse feststeckte. Man sah nur
das Stummelschwänzchen, fasste ihn daran und zog ihn aus der Röhre. Manchmal
machte der Hamster eine blitzschnelle Drehung - und er hing mit seinen scharfen
Nagetier-Zähnen am Kinder-Daumen! Und Hamster waren auch schnell, im Freien
mussten wir ganz schön rennen, um mit ihnen Schritt zu halten. Fangen ließen
sie sich dann kaum noch, mit wütendem Fauchen wehrten sie sich, und mancher von
ihnen hat sich, wenn er mit Kinderschuh oder Spatenblatt gestoppt wurde, eine
blutige Nase geholt; die Nase ist das empfindlichste Körperteil des Tieres, und
auch vorsichtige Fangversuche endeten so für die Hamster oft tödlich. Mit
zunehmender Jagderfahrung kriegten wir später jeden Hamster lebend; sie
knurrten wütend im Einweckglas und wurden im Triumphzug nach Hause gebracht.
Und weil wir nach einiger Zeit richtige Profis waren, wurden nach erfolgreicher
Grabung die bis zu 60 Zentimeter tiefen Gruben fachmännisch wieder verfüllt;
sie wären sonst eine gefährliche Fallgrube für Pferde gewesen. Die Hamster
lebten die nächsten Tage und Wochen weiter in Aquarien oder Kisten, bis sie
irgendwann entkamen oder wieder freigelassen wurden.
Einige von
ihnen sind zu Trophäen geworden, die jahrelang die Wand des Kinderzimmers
schmückten. Den gefangenen Tieren wurde vom Kammerjäger des Dorfes
fachmännisch das Fell über die Ohren gezogen, richtig konserviert, auf
Drahtgestellen aufgespannt und getrocknet und hing dann wie ein kleines Wildschweinfell
im Kinderzimmer an der Wand.
Bauer Schnabel
kam manchmal auf einem kleinen Wagen, gezogen von seinem Ochsen, das Dorf
herauf in unser Grundstück gefahren. Er hatte sich überall etwas Land
zusammengepachtet, und so schwang er auch am steilen Hang gegenüber von
unserem Haus die Sense und fuhr ein paar Tage später das ärmliche dünne Heu
nach Hause. In unserem großen Garten pflügte er ein Stück Wiese zwischen den
Obstbäumen um und baute dort Kartoffeln und Getreide an. Überhaupt wurden
anfangs noch viele Flächen selbstverständlich genutzt, die in den Flurkarten
eigentlich als „Unland“ eingetragen waren.
Selbst der 90-jährige
Bauch-Alwin bestellte hinter dem Pfarrteich ein kleines Gärtchen, aus dem er
sich mit Gemüse versorgte.
Jedes Eckchen
Land wurde bearbeitet. Meine Mutter baute viele Jahre über im Garten als Kleingewerbe
Narzissen an. Die Beete wurden im zeitigen Frühjahr mit Folien abgedeckt,
damit die Knospen ein paar Wochen früher als im Freien erschienen. Gepflückt
und in 50er-Paketen gebündelt wanderten die noch geschlossenen Blüten per
Moped-Kurier zum Gärtner in die Nachbarstadt oder wurden in kleinen Körbchen
per Eisenbahn auch weiter weg verschickt. Das gab ein – allerdings kärgliches
und mühsam erarbeitetes - Zubrot in die Familienkasse.
Im Herbst galt es, etwa 50 Obstbäume in zwei großen Gärten abzuernten. Jeder
Apfel wurde von hohen Holz-Leitern aus geborgen, nach Güteklassen sortiert,
im Keller zwischengelagert und im Herbst und Winter an Verwandte und Bekannte
verschenkt oder verkauft. Ein Teil der Apfelernte wurde mit der „Gütertaxe“ in
die Mosterei gebracht und kam einige Monate später als kostbarer Apfelsaft in
den Keller. Ein Teil wurde auch zu Apfelwein vergoren – das war der einzige
Wein, den meine Eltern viele Jahre lang getrunken haben; und das geschah nur
selten, zu hohen Festtagen. Manchmal haben wir auch als größere Kinder eine Flasche
für „Mutproben“ unter „Männern“ stibitzt. Die schöne Sache mit dem
Apfelsaft-Vermosten funktionierte allerdings nur, wenn Vater rechtzeitig die
nötigen „Most-Berechtigungs-Scheine“ ergattert hatte. Monate vor der Apfelernte
musste man schriftliche Anträge abschicken oder sich zu bestimmten Terminen
in lange Warteschlangen einreihen, um die Berechtigung für die Abgabe von ein
paar Zentnern Mostäpfeln zu bekommen.
Im Sommer
begann die „Einkochzeit“. Von der Kirschen-, Birnen- und Beeren-Ernte sollte möglichst
viel in die vitaminarmen Wintermonate hinüber gerettet werden. Vom Dachboden
wurde der große Einkochtopf mit dem halbmeterlangen Thermometer geholt.
Dutzende von Einweckgläsern - 1 oder 2 Liter Inhalt - wurden noch einmal sorgfältig
gereinigt. Die zu verarbeitenden Früchte wurden gewaschen, wenn notwendig auch
geschält oder entkernt, und in die Gläser gefüllt. Eine zur Keimfreiheit aufgekochte
konzentrierte Zuckerlösung wurde zugegeben, dann kam der Glas-Deckel drauf,
abgedichtet mit einem roten Gummiring und festgehalten von einer
Metall-Klammer. Anschließend wurden mehrere Gläser in den großen Topf gestellt
und für längere Zeit auf 75 bis 90 Grad erhitzt, Dauer und Temperatur waren
dabei von der Art der Früchte abhängig. Und dann standen die Gläser reihenweise
zum Abkühlen in der dampfgefüllten Küche, bis ein Test ergab, dass sie
wirklich „zu“ waren. In unserem Keller fanden sich manchmal Gläser mit
Kirschen, die auch nach 10 Jahren noch gut essbar waren. Auch leckere
Gewürzgurken, saure Bohnen und Schnittbohnen - die wir vorher „geschnippelt“
hatten - wurden so konserviert.
Einmal im Jahr
rührte Mutter Eierlikör, weil es den im Laden auch selten zu kaufen gab.
Frische Eier von Nachbars Hühnern, Puderzucker, Vanille-Pudding-Soßenpulver und
„Primasprit“ - reiner Alkohol, „unterm Ladentisch“ aus dem Konsum besorgt -
wurden nach erprobten Rezepten zusammengerührt, fertig war die köstliche gelbe
Tunke; es gab sie auch, mit Kakao versetzt, in schokoladig-brauner Variante.
Um auch uns
Kinder rechtzeitig auf die Selbstversorgung einzustimmen, bekamen wir
frühzeitig jeder ein Beet in persönliche Verantwortung, um dort irgendwas
Nützliches für den Haushalt zu erzeugen. Mein Beet war immer sehr klein und
sehr voller Unkraut.
Selbstversorgung
war überall gefragt. Als das Dorf endlich eine Wasserleitung bekommen sollte,
fehlten wieder einmal „offizielle“ Firmen oder Arbeitskräfte, die das
eigentlich hätten erledigen können. So griffen eben die Einwohner selbst zu
Hacke und Schaufel, jeder hob die nötigen Gräben im Gelände oder quer durch
seinen Garten selbst aus, die Rohre wurden unter sachkundiger Anleitung des
Schmiedes verlegt, und wenige Wochen später floss das köstliche Nass aus dem
Wasserhahn. Leider hatte niemand Pläne gezeichnet, wo die Leitungen nun genau
in der Erde lagen, was bei späteren Rohrbrüchen oft zu abenteuerlichen
Suchaktionen führte.
Man wäre heute
sicher gerührt von dem ärmlichen Eindruck, den wir damals beim Gang in die
Schule gemacht haben müssen. Ich trug im Sommer Lederhosen, weil die praktisch
und spielfest waren, dazu Kniestrümpfe, die wir endlich – und darauf wurde
sehnlichst gewartet – anziehen durften, nachdem es dreimal gedonnert oder der
Kuckuck dreimal gerufen hatte. Irgendwann gab es dann auch die Erlaubnis,
barfuss zu gehen. Wenn es im Herbst kalt wurde, kamen manche Bauernkinder monatelang
in Gummistiefeln zur Schule.
Wir Jungen trugen immer noch kurze Hosen, aber jetzt steckten die Beine in
langen Strümpfen, ausgebeult und Falten schlagend, grob gewebt und vielfach
gestopft. Befestigt wurden die Strümpfe an Strumpfhaltern, die grau-rosa aus
den Hosenbeinen hervorlugten. Die Strumpfhalter wiederum waren Bestandteil
eines Kleidungsstücks, das „Leibchen“ hieß, es war eine Art kurzes Unterhemd.
Ich habe das alles als eine peinliche und auch - weil die Strumpfhalter ständig
aufgingen und dann das braune Gebammel am Bein herunter rutschte -
anstrengende Veranstaltung im Gedächtnis.
Die vielen
Strümpfe, die wir lebhaften Kinder beim Spielen im Gelände ständig zerrissen
und durchwetzten, waren der Grund für häufigere Besuche der 80-jährigen Frau
Gentzsch in unserem Hause. Frau Gentzsch kam mit dem Postauto. Das war damals
das einzige so zu nennende öffentliche Verkehrsmittel, das auch ländliche
Regionen erreichte. Die alte Dame bestieg, beladen mit Korb und Tasche, morgens
in aller Herrgottsfrühe in der Stadt, wo sie wohnte, das „Postauto“. Das war
ein klobiges, rundliches Gefährt. Darin lagen zunächst in vielen Kästen und
Kasten wohlsortiert die Briefe und Zeitungen für mehr als dreißig Dörfer. Und
es gab vorn beim Fahrer ein paar freie Sitze für abenteuerlustige Reisende.
Nun begann für Frau Gentzsch eine kleine Weltreise. Da wir am etwa in der
Mitte der Route wohnten, juckelte der Bus zunächst durch 15 Dörfer, ehe sie
nach zwei Fahrtstunden aussteigen konnte und den Weg in unserem Grundstück
heraufwackelte. Dann – nach ausgiebigem Frühstück und Schwatz über den Lauf der
Welt – breitete sie auf dem Nähtisch ihre Utensilien aus, Garnrollen und
Nähseide und Stopfkissen und Schere, und arbeitete sich geduldig stundenlang
durch Berge von Socken und Strümpfen und Hemden und Leibchen und Schürzen und
Bettwäsche. Löcher wurden kunstvoll gestopft, Träger geflickt und Knöpfe
befestigt. Der Wäscheberg nahm langsam ab, die regenerierten Nützlichkeiten
stapelten sich daneben. Frau Gentzsch musste über Nacht da bleiben. Am nächsten
Morgen erledigte sie schnell noch ein paar letzte Nadelstiche, dann wurde
allerlei Dörflich-Nahrhaftes in den Korb gepackt, der Lohn ausbezahlt - nach
damaligen Tarifen so 80 Pfennige pro Stunde - und sie tippelte wieder auf die
Straße hinaus, bestieg das bullige Postgefährt und rollte nun durch die
restlichen 15 Dörfer der Tour der Heimatstadt entgegen.
In der Küche
fand ein wesentlicher Teil des Familienlebens statt. Hier war es auch im Winter
immer erträglich warm; in den Schlafstuben wurden die Öfen praktisch nie
geheizt. Im gemauerten Küchenherd bullerte immer ein Feuerchen. Der Herd hatte
an der Seite einen eingebauten eisernen Wasserbehälter, der dick mit Kalk
verkrustet war und als eine Art Wasserboiler diente. Aus der eisernen
Deckplatte des Herdes konnten einzelne ringförmige Teile entnommen werden –
auf die offenen Stellen wurden dann Töpfe gesetzt, die so direkt vom Feuer
erreicht wurden. Zum Essenkochen stand zusätzlich noch ein kleiner Elektrokocher
mit zwei Platten bereit, und für die Zubereitung von kochendem Wasser gab es
einen elektrischen Tauchsieder. Da dieser des öfteren
ohne Aufsicht blieb, verkochte manchmal das Wasser, dann glühte die Heizspirale
sehr eindrucksvoll und brannte durch. Es stank gewaltig in der Wohnung - und wieder einmal war Ersatz fällig.
Ein Bad hatten
wir nicht. In der Küche gab es nur die Wasserpumpe an der Wand und darunter einen
gusseisernen Ausguss. Daneben befand sich noch ein kleines Handwaschbecken aus
bräunlichem Porzellan. Gebadet wurde freitags in einer Wanne in der Küche,
die mit heißem Wasser vom Herd befüllt wurde. In der übrigen Woche trugen meine
Eltern kaltes Wasser mit einer Kanne in ihr Schlafzimmer und wuschen sich dort
in einer großen Porzellanschüssel. Ob und wie ich mich gewaschen habe, daran
habe ich keine Erinnerungen, so als Junge ...
Unsere Toilette
– mit dem Begriff hätte ich damals nichts anfangen können - war ein Plumps-Klo.
Es existierte noch bis Anfang der 90er Jahre. Wenn man auf der Brille hockte,
zog es manchmal ganz heftig von unten aus dem Fallrohr, und die Gerüche waren
auch nicht ohne. Zum Nachspülen gab es einen großen Krug, meist gefüllt mit
bereits gebrauchtem Wasser aus der Küche oder vom Waschen. Auf dem Klo stand
auch ein schöner Ständer mit einem mit Wasser gefüllten Handwaschbecken und einem
Handtuch für die kleine Hygiene. Und zum „Abwischen“ lag da immer ein Stapel
Zeitungspapier, akkurat gerissen in postkartengroße Blättchen; das bot zwar
Gelegenheit, die Zeit mit Lesen zu überbrücken, aber oft fehlte dann das Blatt
mit der Fortsetzung des Textes.
Technische
Geräte gab es kaum im Haushalt. Um verderbliche Nahrungsmittel aufzubewahren,
dafür hatten wir – je nach Jahreszeit – den „Fliegenschrank“, mit feiner Gaze
bespannt, auf dem Dachboden oder einen Platz unten im kühlen Keller. Viele
Bauern nutzten Gewölbekeller, die außerhalb des Hauses in einen Erdhang
gegraben waren.
Der erste Kühlschrank,
den ich gesehen habe, enthielt einfach ein Fach, in das große Eisstücke
eingelegt wurden. Solche Eisstücke konnte man vom Eismann kaufen, der mit einem
tropfenden Auto und einer Klingel regelmäßig die Straße entlang fuhr. Später
habe ich einmal in einem Nachbardorf zugesehen, wie solches Eis gewonnen
wurde: Als bei knackigen Temperaturen der große Dorfteich tief zugefroren war,
kam der Eismann und sägte große balkenförmige Stücken Eis heraus, die er dann
wohl irgendwo zwischenlagerte.
Wir hatten
keinen Kühlschrank, und deshalb stand im Sommer öfter „saure Milch“ mit auf dem
Speiseplan. Wenn die Milch am Abend eines gewittrigen Tages schon einen „Stich
hatte“, wurde sie in Suppenteller abgefüllt, einen Tag lang auf den
Küchenschrank gestellt, und kam dann als dicke saure Milch mit einer gelben
Sahneschicht bedeckt auf den Tisch – mit Zucker und Zimt bestreut war das eine
Köstlichkeit. Weitere solche Genüsse waren Holunderbeersuppe mit Zwieback,
Kaltschale oder der sonnabendliche Mittags-Kakao mit Butterbrötchen, natürlich
mit der Verlockung, zu „ditschen“ (= eintauchen, stippen).
Einmal in der
Woche wurde beim Fleischer eingekauft. Das bedeutete, dass einer aus der
Familie sich freitags aufs Rad schwang und fünf Kilometer weit in die Stadt
radelte. Bei Fleischer Pfau wurde die Wunsch-Liste hervorgekramt und
vorgelesen: Ein paar Bockwürste für das „schnelle“ Mittagessen am Sonnabend,
ein Stück Fleisch für den Sonntags(!)braten, ein paar Knochen für Eintöpfe und
Suppen, manchmal Kassler für „saure Kartoffelstücke“ oder auch – gut sortierte
– „Flecke“. Nicht alles war vorrätig („hamm wer leider nich“), und mit guten
Wünschen an die Frau Mutter und dem kleinen Päckchen mit dem Erworbenen im
Beutel ging´s wieder nach Hause.
Unser Dachboden
war riesig. Das brachte die Versuchung mit sich, dass alles, was im Moment im
Haushalt störte, erst einmal dorthin wanderte – man würde später in Ruhe
sortieren und wegwerfen. Die ruhigen Zeiten kamen nie, und so sammelte sich im
Laufe der Jahre allerlei dort an. Für uns Kinder war der Dachboden ein
Paradies für mancherlei Spiele und eine gründliche Untersuchung der Kisten mit
den abgelegten Sachen.
Im Keller war
es etwas gruselig. Da lagen die Kohlen für den Winter - ordentlich gestapelt -,
da gab es geräumige Regale, gefüllt mit der Apfelernte des Herbstes, in einem
anderen Raum drängten sich große Gläser mit von Mutter natürlich selbst
eingekochten Köstlichkeiten: Kirschen, Birnen, Marmeladen, Beeren, Gewürzgurken,
Bohnen. Aber dann wohnte da unten im Winter hin und wieder auch eine
Bisamratte; sie kam vom nahe gelegenen Teich durch das Abwasserrohr und
schätzte die Apfelvorräte sehr, und gelegentliche Begegnungen mit diesem
schwarz-gelben zottigen Ungetüm waren doch recht ungemütlich.
In unserem Haus
gab es einen Raum im Kellerbereich, der über eine Extra-Treppe von außen her
erreichbar war, und der „Waschhaus“ hieß. Eine feuchte dunkle Höhle. Irgendwo
hinten stand ein riesiger schwarzer Kessel, eingelassen in einen gemauerten
Herd. An den Wänden stapelten sich große hölzerne Wannen, die von Eisenreifen
zusammengehalten wurden. Ab und zu, im Abstand von einigen Wochen, kam emsiges
Leben in diese Düsternis: Die Tage der „großen Wäsche“ standen bevor. Schon in
den Tagen zuvor wurden die Wannen ins Freie befördert und dort gewässert. Erst
durch Befeuchten bekamen die einzelnen, kunstvoll gebogenen Bretter die
beabsichtigte Form wieder, quollen auf und drückten mit der Festigkeit aneinander,
die notwendig war, um darin das Wasser zu halten. Am Waschtag rückte zur
tatkräftigen Mithilfe eine ältere Frauen aus der Nachbarschaft an.
Dampfschwaden zogen ins Freie. Seit dem frühen Morgen kochte im Kessel das
Wasser; dieses musste mühsam in Eimern aus dem benachbarten Keller herüber
geschleppt werden. Stets feucht verklumpte Pappschachteln mit FEWA und PERSIL
standen bereit, daneben stapelte sich in Stücken die gelbliche Kernseife. In
Wannen und Bottichen war die (weiße) „Kochwäsche“ schon am Vortage
„eingeweicht“ worden. Nun wurden die einzelnen Wäschestücke mit dem „Wäschestampfer“
gewalkt, auf einem Waschbrett intensiv gerubbelt, bei Bedarf gebürstet, gespült
und herumgeschwenkt; Socken und stark verschmutzte Buntwäsche wurden bei Bedarf
noch einmal eingeseift und zusätzlich behandelt. Dann kamen die triefenden
Teile in die „Wringmaschine“, eine Anordnung aus zwei Walzen, die mit einer
Handkurbel gedreht werden konnten und das Wasser auspressten. Im Sommer wurden
die weißen Wäschestücke zunächst zum Bleichen auf der Wiese ausgelegt und hin
und wieder mit Wasser aus der Gießkanne befeuchtet. Das benutzte heiße Wasch-
und Spülwasser aus der ersten Runde wurde in Wannen aufbewahrt, denn nach der
Kochwäsche wurden darin nacheinander helle und dunkle Buntwäsche, Strümpfe und
Arbeitskleidung gewaschen. Wollwäsche kam extra dran. Dann endlich flatterten
die großen weißen Bettlaken und die vielen Leibchen und Strümpfe ordentlich
aufgereiht im Winde. In den nächsten Tagen wurden dann die getrockneten großen
Wäsche-Stücke exakt zusammengelegt. Das begann bei den Bettlaken damit, dass
sie nach dem Abnehmen von der Leine „gezogen“ wurden, das heißt, dass die
steifen und aus der Form geratenen Tücher von zwei einander gegenüberstehenden
Personen an den Ecken gefasst und mit maximal möglicher Kraft längs und in
diagonaler Richtung gezerrt und so wieder in Rechteck-Form gebracht wurden.
Alles wurde in einen großen Wäsche-Korb verpackt, auf den Handwagen verfrachtet
und ab ging die Fahrt zur „Rolle“ (anderenorts auch Wäschemangel genannt). Das
war eine große Maschine, die in einem Haus einen Kilometer entfernt stand und
stundenweise gemietet werden konnte. Dort wurden die Wäschestücke in ein
spezielles „Rolltuch“ gelegt und auf einer runden Holzrolle - etwa einen Meter
lang und 10 Zentimeter dick - aufgewickelt. Anschließend wurde unter
Beschwerung mit einem Kasten voller Steine die Rolle hin- und herbewegt, das
Rolltuch wickelte sich ab und wieder auf und die Wäsche wurde dabei geglättet.
In der zweiten
Klasse wagte ich mich auch an dickere Bücher heran. Indianer wollte ich
sowieso werden, im elterlichen Schrank stand der abgegriffene braune Band mit
dem in altertümlichen Lettern gesetzten Titel „Lederstrumpf“, und nachdem ich
die ersten Seiten verschlungen hatte, war ich in einer anderen Welt. Ich zog
durch kanadische Urwälder, lenkte Kanus durch wilde Strudel, befreite
hilfsbedürftige junge Damen aus dem Griff wilder Feinde. Und ich konnte nicht
mehr gut schlafen. Wochenlang ließ ich, wenn ich mal musste, sogar die Klo-Tür
offen, weil ich mir nicht sicher war, ob nicht hinter dem Becken doch plötzlich
ein Indianer auftauchen würde und schnelle elterliche Hilfe erforderlich sein
könnte.
Indianer haben
mich immer begleitet. Da waren einmal jene kleinen Spielfiguren, innen mit
einem Drahtgerüst, außen aus einer tonartigen brüchigen Masse gestaltet und
farbig bemalt. Die standen jährlich auf der geburtstäglichen Wunschliste. Sie
wurden mit Nadeln ausgestattet, die aus Mutters Nähmaschine entwendet waren.
Abgebrochene Spaghetti-Stückchen ließen sich zum Speer umwandeln oder mit
Knetmasse zum Gewehr vervollständigen. Die gipsernen Kämpfer mussten dann im
Garten zwischen Grashügeln und Gesteinsbrocken Heldentaten begehen. Wenn das
Wetter schlecht war, wurden auch schnell mal die notwendigen Grasbrocken und
Steine nebst den mitspielenden Kindern - mit schön dreckigen Schuhen - ins
Wohnzimmer verfrachtet, und die Abenteuer fanden dort ihre Fortsetzung.
In
leibhaftige Indianern
verwandelten wir uns auch manchmal selbst – natürlich regelmäßig in der
Faschingszeit. Und als alle meine Klassenkameraden sich durch Bücher wie
„Lederstrumpf“ und „Die Söhne der großen Bärin“ gelesen hatten, sprachen wir
uns von Stund an nur noch mit „Schwarzfalke“, „Unkas“, oder „Tokei-ihto“ an,
schritten feierlich umher, redeten merkwürdig gebrochen miteinander, bastelten
Pfeil und Bogen, schnitzten Friedenspfeifen, und dann trafen wir uns
nachmittags – streng geheim verabredet - in der nächstgelegenen Sandgrube.
Indianerbücher
gab´s leider nicht bei Bedarf, sondern immer erst zu feierlichen Anlässen. Ein
solcher geschenkträchtiger Tag war der Geburtstag. Geburtstage begannen immer
mit dem feierlichen Einzug der Familie ins Wohnzimmer. Dort stand ein runder
Tisch, festlich weiß gedeckt, auf dem in hölzernen Reifen Kerzen brannten, ein
großes Lebenslicht in der Mitte und drumherum noch für jedes Lebensjahr eine
kleine Kerze. Neben dem Kerzenreif waren die geheimnisvoll verpackten Geschenke
aufgestapelt. Nun sang als erstes die Familie das traditionelle
Geburtstagslied, den Kanon „Glück und Segen, Fried und Freude ...“. Dann war
persönliche Gratulation angesagt, es folgte das öffentliche Auswickeln der
Geschenke, anschließend wurden die Kerzen ausgeblasen und alle ließen sich zum
Frühstück nieder. Der Teller am Platz des Geburtstagskindes war – je nach
Jahreszeit - von Blumen oder grünen Zweigen umrankt. Danach war in der Regel
erst einmal normaler All-, das heißt Schultag. Nachmittags kamen eingeladene
Freunde zu Besuch. Es gab zu meinem Geburtstag traditionell extra „schwarzen“
Streuselkuchen; schwarz hieß, dass er mit dunklem Kakao gebacken war. Danach
fanden Spiele statt: Topfschlagen, Eierlaufen, Murmelbahn-Bauen, Mikado, Domino.
Manchmal saß ich auch mit roten Ohren über dem neuesten Buch und meine Eltern
durften sich um die Gäste kümmern. Wenn mein Vater Lust und Zeit hatte, wurde
Kasper-Theater gespielt, im Garten unter der Teppichstange. Das waren lange,
anspruchsvolle Aufführungen mit Episoden aus der deutschen Märchenwelt, die
unter reger Anteilnahme von weiteren hinzuströmenden Nachbarskindern stattfanden.
Mit Geschenken
wurden wir nicht gerade überschüttet, um so größer war aber auch die Freude
über lang Ersehntes. Mein erstes eigenes Fahrrad – es war ein gebrauchtes –
konnte ich mit 14 Jahren besteigen.
Bei Omas und
Onkels und Tanten haben wir uns für erhaltene Geschenke natürlich auch revanchiert
– nicht mit gekauften, sondern mit selbstgemachten Präsenten. Das war
manchmal erheblicher Stress, in den vorweihnachtlichen Wochen Papiersterne zu
flechten, Topflappen zu häkeln, mit der Laubsäge kunstvolle Untersetzer
auszuschneiden und was der nützlichen Taten mehr sind.
Dieses Wort
hätte damals kaum jemand im Dorf verstanden. Urlaub war für die Bauersfamilien
ein Fremdwort, man hatte ohnehin zu Hause rund um die Uhr genug zu tun, und
dann vielleicht noch wegfahren in fremde Gefilde – das war einfach nicht üblich
und teuer war´s noch dazu! Meine Eltern kannten das Wegfahren in die „Sommerfrische“
aus ihrer Kindheit. Aber leisten konnten sie sich das eigentlich auch nicht.
Zum Glück hatten wir großzügige Großeltern, die als Sponsoren das Finanzielle
regelten, und so konnte unsere Familie jedes Jahr drei Wochen auf Reisen
gehen. Wir kraxelten in der Sächsischen Schweiz herum, wanderten durch den
Thüringer Wald oder sonnten uns am Ostseestrand. Beim Heimkommen blieb bei
mir immer ein zwiespältiges Gefühl, wenn ich die daheimgebliebenen
Klassenkameraden traf – ich kam mir unverdient privilegiert vor. Aber wenige
Jahre später konnten auch in unserer Schule Lehrer Aufsätze zum Thema „Mein
schönstes Ferienerlebnis“ schreiben lassen. Manche Kinder fuhren in staatlich
organisierte Ferienlager, andere konnten nun gemeinsam mit ihren Eltern
verreisen, für die die Kollektivierung der Landwirtschaft erstmals eine
geregelte tägliche Arbeitszeit und die Möglichkeit für einen Jahresurlaub
brachte.
Meine Eltern luden jeden Sommer Stadtkinder aus der weitläufigen Verwandtschaft
für ein paar Wochen zu uns aufs Land ein.
Probleme mit
Abfall waren in jener guten alten Zeit noch kein Thema. Es gab kaum Abfälle.
Brennbares wanderte als willkommener Brennstoff in den Küchenherd. Für
Altpapier gab´s Geld. Manche alte Zeitung beendete ihre Laufbahn auch auf dem
Plumpsklo. Marmeladen- und Gurkengläser, Bier- und Weinflaschen – alles
brachte gutes Pfandgeld und ging in den Kreislauf der immer knappen Rohstoffe
zurück. Verpackung war weithin ein Fremdwort, wenn schon, dann lagen auch dafür
im KONSUM alte Zeitungen. Trotzdem blieb natürlich allerlei übrig. Die Abwässer
des ganzen Dorfes flossen ungeklärt in den Dorfbach, damals allerdings noch
ohne die Lauge von Waschmaschinen oder die braune Brühe aus dem großen
Schweinestall. Das Plumpsklo entleerte sich in die geschlossene Jauchegrube
vor dem Haus, die einmal jährlich geleert wurde. Und wohin kamen die festen
Haushaltsabfälle? Ein Müllauto habe ich all die Jahre nicht gesehen. Nur bei
großen Abbrucharbeiten oder für Umzugsreste bestellte man sich jemanden und
ließ abfahren. Die Abfälle, die es natürlich in unserem großen Haus trotzdem
gab - vor allem handelte es sich um Heizungs-Asche - wurden in einem recht
kleinen Bunker vor dem Haus gesammelt und dann einmal im Jahr abgeholt. Und
wenn dort im Bunker der Platz knapp wurde, fand sich immer irgendeine Ecke im
Garten, wo noch was abgelegt oder vergraben werden konnte. Manche Nachbarn
gingen auch jeden Morgen im Winter mit dem Asche-Eimer zur nahegelegenen
alten Sandgrube. Die Gewissensbisse hielten sich in Grenzen.
Wenn wir zu
Hause Wasser brauchten, gab es keinen Wasserhahn. Wir hatten eine Pumpe. Die
hing im ersten Stock in der Küche an der Wand, ein zylindrischer
halbmeterlanger Körper mit einem Schwengel zum Pumpen. Manchmal musste zunächst
etwas Wasser oben in die Pumpe gegossen werden, als Quellmittel, weil
irgendwelche Dichtungen eben doch nicht ganz dicht waren. Und dann wurde ein
Eimer ins darunter befindliche Ausgussbecken gestellt und - gepumpt. Nebenan
in Vaters Arbeitszimmer waren die quietschenden Geräusche nicht zu
überhören, und regelmäßig fiel auf seiner Seite der Putz von der Wand.
Das Saug-Rohr
der Pumpe führte gerade hinunter in den Keller. Dort endete es in einem gemauerten
Behälter, der als Speicherbecken diente. In diesen Behälter wiederum mündete
ein Rohr, das 30 Meter weit aus dem hinteren Teil des Gartens das Wasser
heranführte. Dort hinten gab es einen zweiten, aus Natursteinen gesetzten
Wasser-Speicher – eingegraben in den Berg und mit Tür und Schloss gesichert -
der von einer Quelle aus dem Hang gespeist wurde. Von seinem Grund ging die
Leitung zu unserem Haus ab, das Rohr war übrigens aus Eichenholz gefertigt.
Und manchmal gab die Pumpe in der Küche trotz gefüllter Speicher kein Wasser
her, dann hieß es suchen und stochern. Einmal hatte sich einfach ein
Fröschlein in die Leitung verirrt und war dort eingeklemmt verhungert.
Bei derart
kompliziertem Zugang zu Wasser war Sparen selbstverständlich für uns. Einmal in
der Woche, freitags, wurde das Brett, das die große Bade-Wanne in der Küche abdeckte,
entfernt. Auf dem unter der Brennhitze von Holzscheiten glühenden Küchen-Herd
brodelte Wasser in allen verfügbaren Töpfen. Einer nach dem anderen ward in
die Wanne ausgegossen, dazu kam eimerweise kaltes Wasser. Und dann stiegen die
Kinder in die Wanne, eins nach dem anderen wurde geschrubbt - das Wasser blieb
immer das gleiche ... Die Eltern badeten in einer zweiten Runde.
Meine Eltern
hatten ein Auto geerbt. Es war ein „P 70“, Vorgänger und eine Art älterer und
größerer Bruder des späteren TRABANT, welcher am Anfang ja auch schlicht „P 50“
hieß. Mit dem grauen Papp-Auto sind wir ein paar Jahre durch die Gegend
gejuckelt, bis meine Eltern ihn aus Kostengründen abgeben mussten. Denn an
solch einem Auto war immer mal etwas kaputt. Eines Tages waren handwerkliche
Fertigkeiten ganz besonderer Art gefragt. Die Seitenholme des Autos, an denen
die Türen befestigt waren, bestanden innen aus Kanthölzern. Im Laufe der Jahre
war Feuchtigkeit eingedrungen und sie begannen zu faulen. Die Suche begann,
nach passendem Holz und nach einem Holz-Fachmann, der sich das zutraute.
Schließlich landete das Fahrzeug beim örtlichen Stellmacher, der die Karosse
... ja, wie sagt man, klempnerte stimmt ja nicht, also „holzte“?
Die Handwerker
mussten überhaupt Alleskönner sein: Als meine Eltern, die sich gern
winterwandernd betätigten, neue Schneeschuhe brauchten, fertigte der Tischler
selbstverständlich Skier an; die Bretter maßen stolze 2,20 Meter. Der Tischler
war auch für die Särge zuständig.
Der Schmied konnte nicht nur Pferden fachmännisch hufeiserne Maßschuhe auf die
Sohlen brennen und nageln, er musste auch Ersatz für jedes erdenkliche
Eisenteil in Küche oder Stall herstellen.
Und als mein Vater eine stabile Bretter-Bühne in der Kirche für
Theatervorführungen brauchte, nahm sich dessen eben der Böttcher an, genauso
wie dieser die Holzsäulen an der Haube des Kirchturms ausbesserte und mit
verlöteten Zinn-Blechen vor Wind und Wetter sicherte.
Wenn Geburtstag
war oder Weihnachten, reisten wir zu Oma und Opa in die Stadt. Mein Großvater
war seit 1913 Lehrer gewesen, aber wegen seiner (Mitläufer-)Mitgliedschaft in
der NSDAP war er nach dem Krieg aus dem Schuldienst entlassen worden - da war
die DDR ziemlich konsequent - und fristete sein Dasein erst mit einer
Anstellung im städtischen Heimat-Museum und lebte später von einer kärglichen
Rente.
In der
großelterlichen Wohnung war vieles noch „wie früher“. So war das Schlafzimmer
1913 das erste und einzige Mal tapeziert worden, und die schwarze (!) Tapete
mit roten Rosen darauf gab es noch Anfang der 90er Jahre. Bei Festen saßen wir
feierlich in der „guten Stube“. Von der Decke hing eine Lampe herab an goldenen
Ketten und mit Schnüren feiner Perlen unten rings um den Stoffschirm; sie
stammte sicher auch noch aus späten Jugendstiljahren. Es gab - wie immer an
Festtagen im Randgebiet zu Thüringen! - dunkles Fleisch in reichlich dicker
dunkler Soße und mit Rotkraut und natürlich mit Klößen. Serviert wurde auf
riesigen Tellern mit Goldrand. Und neben den Tellern lagen für die Erwachsenen
Servietten, in silbernen Ringen gerollt, und es gab für alle „Messerbänkchen“,
auf denen man benutztes Besteck hochlegen konnte.
Solcher Glanz blieb aber auf Feiertage beschränkt. Im Alltag trank mein
Großvater seinen Früh-Kaffee – Malz, für mehr reichte es nicht - aus einem
Blech-„Dippel“ (= Töpfchen), und wenn mich die Oma mal zum Einkaufen schickte,
wurde das Geld vorher abgezählt und nach besorgter Erledigung das Restgeld noch
einmal nachgeprüft.
Einmal im Jahr
war richtig Kultur. Da fuhren die Eltern mit den Kindern zum Weihnachtsmärchen
nach Altenburg. Weltreise. 12 Kilometer mit der Eisenbahn, dritte Klasse - die
gab es wirklich noch-, jedes Abteil hatte seine eigene Tür nach draußen, man
saß auf Holzbänken. Und die Aufregung stieg. Dreimal hatten wir schon
gehalten, in Lehndorf, Paditz und Nobitz, und dann – lange angekündigt und
ersehnt – kam der Tunnel! Irgendein Herzog von Altenburg hatte sich mangels
echter Berge „seinen“ Tunnel eben in der Ebene künstlich bauen lassen. Es
wurde dunkel, kein Licht ging an, man konnte die Luft anhalten, Angst haben,
seinen Nachbarn ärgern, ohne erwischt zu werden. Dann nach endlos lang erscheinender
Finsternis wieder fahles Licht, Bäume flogen am Fenster vorbei, dann der
Bahnhof von Altenburg. Im Theater gab´s jedes Jahr „Peterchens Mondfahrt“.
Aber der Tunnel war noch besser.
Vor unserem
Haus war ein Teich, der aber dorfauf dorfab nur „Pfarrteich“ hieß. Das lag
daran, dass er zum Grundeigentum der Kirchgemeinde gehörte. Der Teich war
verpachtet, und darin wurden Fische gehalten. Im Herbst war „Abfischen“. Fässer
und Wannen standen aufgereiht am Ufer. Schau- und Kauflustige standen herum.
Der „Ständer“ des Teiches wurde geöffnet. Das war ein normalerweise
verschlossener Abfluss, bei dem nun gewissermaßen der Stöpsel aus dem Teich
entfernt wurde; der Teich begann leerzulaufen. In den übrig bleibenden Tümpeln
und Pfützen zappelten die Fische. Männer in Gummihosen wateten durch den Schlamm
und füllten ihre Kescher. Nach Inspektion wanderten die Fänge in unterschiedliche
Behälter, je nachdem, ob sie schon die nötige Größe hatten zum Schlachten oder
ob sie wieder - für ein weiteres Jahr - im Teich ausgesetzt werden sollten.
Karpfen und Schleien und Karauschen wuselten in den Wannen, hin und wieder war
auch ein Hecht oder sogar ein Aal dazwischen. Nasse Hände verpackten Fische in
Zeitungspapier. Geldscheine wanderten in die Hosentasche des Pächters. Und ein
Ritual wurde nie vergessen. Weil es eben der „Pfarrteich“ war, bekam der
Pfarrer - also mein Vater – symbolisch und kostenlos, als Deputat wie in alten
Zeiten „seinen“ Karpfen. Das Tier wurde im Eimer zu uns nach Hause getragen,
und dann schwamm es wochenlang in einem Brunnenloch hinten in unserem Garten
herum; oder - wenn es nur noch kurze Zeit war bis zum Karpfenessen - dann
schwamm der Fisch auch mal ein paar Tage in der Badewanne in der Küche.
Karriereknick
Mein Vater hatte in seiner Kindheit eine Internats-Schule besucht, und nun
hatten meine Eltern solche Pläne auch mit ihrem Erstgeborenen – das betraf also
mich. Ich wurde im fünften Schuljahr zu einem förmlichen Gespräch ins
väterliche Amtszimmer geladen und erfuhr, wie mein Lebenslauf weitergehen
sollte. Thomaner in Leipzig sollte ich werden, gesanglich gebildet, schlau und
ein gesitteter Mensch. Ich hörte mir die Planung meiner Karriere an –
verstockt hinter dem väterlichen Schreibtisch auf dem Boden sitzend und mit
recht gemischten Gefühlen. In mein Dorfkind-Weltbild passte mir das alles gar
nicht. Folgsam bin ich dann aber doch ein paar Wochen später mit zur
Aufnahmeprüfung gefahren. Zum Glück - so fand ich - kam ich zu spät. Ich war
für den Chor wegen schon beginnenden Stimmbruchs nicht brauchbar. Und so
durfte ich nun weiter zu Hause durch die Dorfflur streunen und Mäuse ausgraben.
Mein Vater war
als Pfarrer zuständig für drei Kirchen, zu denen acht ehemals eigenständige
Ortsteile gehörten. Er war also ständig zu Veranstaltungen unterwegs. Sein
Vorgänger – einige Jahrzehnte früher – hatte nur zwei Kirchen zu betreuen, und
er war entweder zu Fuß gegangen, ehrgeizig, immer mit Schrittzähler, oder
hatte sich aufs Pferd geschwungen. Zu seinem Pfarrhaus gehörte damals noch ein
richtiger Vierseithof mit 13 Hektar Land – das sicherte materiell die Existenz
des Pfarrers und seiner Familie.
Mein Vater
bekam für seine Dienstfahrten von der Kirchenbehörde als Dienstfahrzeug ein
Fahrrad genehmigt, mit dem er viele Jahre bei Wind und Wetter unterwegs war.
Das Fahrrad wurde später durch einen Kleinroller KR50 ersetzt, mit dem er
nicht schneller, aber etwas komfortabler voran kam.
Erst in den 70er Jahren – da ging er schon auf die Rente zu – wurde ein Trabant
bereitgestellt.
Meine Mutter
kam manchmal mit ihren vielen Aufgaben im Management eines großen Haushalts,
beim Bewirtschaften zweier riesiger Gärten, als Erzieherin von drei Kindern,
zusätzlich beladen mit den Pflichten einer Pfarrfrau, nicht ganz befriedigend
zurande. Eine Haushalthilfe musste her! Christa stammte aus einer kinderreichen
Familie unten im Dorf. Sie hatte gerade die achte Klasse beendet und sollte was
Nützliches fürs Leben lernen. So zog das Mädchen bei uns ein, bekam ein Bett in
der Kammer zugewiesen, in der die Schränke des Kirchen-Archivs standen. Und
dann gehörte sie eine Zeit lang zu unserer Familie. Christa war „in Stellung“,
als Hausmädchen wirklich „Mädchen für alles“. Mal betreute sie uns Kinder, mal
war die Treppe zu wischen und zu bohnern (Einreiben und Versiegeln der blanken
Holzdielen mit braunem Bohnerwachs). Sie sah meiner Mutter beim Kochen über
die Schulter und lernte Haushaltsbücher zu führen. Essen und Unterkunft waren
für sie frei, dafür wurde meine Mutter merklich von manchem Kleinkram entlastet.
Die Wohnung war
für drei Kinder längst zu eng geworden. Da spendierten die Großeltern für uns
zwei Jungen ein eigenes „Zimmer“. Eine Ecke des geräumigen Dachbodens wurde zu
einer Kammer ausgebaut. Dort oben haben wir jahrelang gehaust, sommers in der
Hitze schmelzend und in strengen Wintern zum Überleben eingepackt unter dicken,
am Kachelofen vorgewärmten Federbetten. Hier störte uns selten jemand. Hier
waren unsere Schätze gelagert. Hier wohnten in Kisten und Gläsern Hamster und
Hornissen und Seidenraupen als vorübergehende Gäste. Hier standen die
Indianerbücher bereit zum – verbotenen - Gelesen-Werden unter der Bettdecke.
Hier wurden Briefmarken getauscht und Autokataloge - aus dem Westen -
fachmännisch ausgewertet. Und weil wir da oben unter dem Dach weit weg waren
von jeder elterlichen Hilfsmöglichkeit, stellte ich zur Abwehr möglicher
Räuber immer einen großen Hammer neben mein Bett. Manchmal wachten wir nachts
von leisem Getrappel auf. Das waren aber keine Räuber, sondern Mäusefamilien,
die nächtens auf Nahrungssuche gingen oder auch Kegelturniere mit Nüssen veranstalteten,
die auf dem Dachboden zum Trocknen gelagert waren.
Einmal im Vierteljahr
klingelte es, und ein Mann stand vor der Tür - „der Hausierer“, flüsterten wir
uns zu, während wir uns hinter der Tür versteckten. Er war zu Fuß das Dorf
herunter gekommen, hatte einen hölzernen Bauchladen vor der Brust und eine
dicke Tasche in der Hand. Er wurde in die Wohnung eingelassen, öffnete seine
Taschen und Kistchen und Fächer und Tüten und breitete alles auf dem
Küchentisch aus. Zum Vorschein kamen Seife und Kämme und Nadeln und Bänder und
Schlüpfergummi und Schuhcreme und was ein Mensch eben so brauchen kann. Es war
wohl weniger echter Bedarf als ein wenig Mitleid mit dem Mann, dass meine
Eltern immer etwas kauften. Aber ganz gewiss war eines regelmäßig dabei:
„Doktor Hungers Kräutertee“, mal in Rollenform gepresst und mal in Tüten abgefüllt.
Davon standen all meine Kinderjahre hindurch größere Vorräte im Regal, und die
musste ja nun auch irgendjemand trinken. Also gab es ihn früh und es gab ihn
abends, diesen Tee, und der Geruch von Pfefferminze führt mich, wenn ich die
Augen schließe, auch Jahrzehnte später noch zurück in die Dunkelheit unserer
Vorratskammer.
An meinen
ersten Berufswunsch kann ich mich noch gut erinnern – ich wollte Missionar
werden. Motiv Nummer 1 dafür war wohl, auf diesem Wege „raus“ zu kommen,
irgendwo anders zu sein auf dieser großen weiten Welt, dort, wo es Indianer
gab oder Löwen. Motiv Nummer 2 war, da es in exotischen Ländern - bei den
„Wilden“ und in der Wildnis - natürlich immer auch gefährlich ist, ein
Luftgewehr mitnehmen zu dürfen, ganz legal - mir war der Umgang mit diesem
„Spielzeug“ nämlich immer verboten - und dazu zwei Kisten (!) Munition.
Der schreiende Hase
Feldhasen gehörten damals
wie Rebhühner zum normalen Bestand auf den Feldern, Wildschweine und Rehe
dagegen gab es kaum. Die scheuen Tiere waren besonders im Winter allgegenwärtig
und hinterließen überall ihre Spuren. Hin und wieder, wenn Gras gemäht wurde,
fanden wir auch Nester, in denen junge Hasen saßen, sich tot stellten und uns
stumm anblickten.
Eines Tages lernte ich aber, dass Hasen auch schreien können. Aus einer Ecke
unseres großen Obstgartens erklangen schrille hohe Töne, die durch Mark und
Bein gingen. Als ich hinlief, saß da ein junger Feld-Hase, den eine Katze
„erwischt“ hatte. Sie hielt ihn gepackt, und er schrie in Todesangst. Die
Katze bekam einen Tritt, und der Hase hatte für dieses Mal Glück gehabt.
Manchmal
gellten auch Kinderschreie durch den Garten. Dann war jemand von einer Wespe
gestochen worden. Die gelbschwarzen Flügeltiere lebten in Erdhöhlen -
ehemaligen Mäuselöchern - mitten auf der Wiese, die auch unsere Spielwiese war.
Und die schmerzhaften Stiche waren Grund genug für eine - eigentlich verbotene
- Vergeltungsaktion. Streichholzschachtel, Zeitungspapier, trockenes Gras –
damit gingen wir „Wespen ausräuchern!“. Mutige Knaben suchten das Eingangsloch
zum Wespennest. Dann wurde Brennmaterial rund um das Loch ausgelegt und entzündet,
um die Feinde zu vernichten. Aber manchmal gab es ein zweites Loch, aus dem die
wütenden Wespen herausstürmten und sich auf uns stürzten, oder wir hatten
nicht bedacht, dass sich ein Teil der Besatzung auch außerhalb des Nestes
befand und bei der Rückkehr aggressiv gestimmt war – manchmal hatten wir
jedenfalls nach der Aktion deutlich mehr Stiche als vorher.
Die
Zeitrechnung in der DDR wurde lange eingeteilt in die Zeit „vor“ und die Zeit
„nach der Mauer“. das hieß, nach dem 13. August 1961, an dem die DDR den „antfaschistischen
Schutzwall“ errichtete.
Meine Tante und mein Cousin waren schon 1957 „in den Westen abgehauen“. Und
das hieß, Besuche hin und her gab es nicht mehr. Eigentlich nicht - aber da
war ja noch Westberlin, damals noch mit einer offenen Grenze. Und da durfte ich
im Sommer 1960 mit hin fahren. Irgendwie kribbelig kamen mir die Eltern in der
S-Bahn von Ost- nach Westberlin vor; zu Recht, wie ich später erfuhr: Sie
schmuggelten ganz nebenbei in einem großen Koffer Besitztümer von
„republikflüchtigen“ Bekannten in den Westen. Und dann waren wir -
unkontrolliert – „drüben“. Ku-Damm-Flimmer, Kinogang (ein Saurierfilm), und
weil´s so heiß war: Wannseebad. Dort nervte ich zunächst den (West-)Cousin so
lange, bis er einen Groschen - Westgeld! - in einen Automaten steckte, damit
unten ein kleiner Anhänger mit einem Totenkopf heraus kam – den musste ich
unbedingt haben! Mein zweites Erlebnis war ein Kultur-Schock: Gönnerhaft wurde
mir, der ich zu verdursten meinte, eine Cola gereicht, die ich gierig in mich
hineinschüttete. Gewohnt war ich nur die heimische, immer zuverlässig lauwarme
rosa Flaschenlimonade, und nun entlud sich eine eiskalte Cola-Explosion in meinem
Inneren. Seitdem habe ich den Inhalt von Flaschen immer erst misstrauisch
geprüft.
Auf der
Rückreise war ich glücklicher Besitzer eines echten blauen Hula-Hoop-Reifens.
Der Plaste-Ring von reichlich einem Meter Durchmesser musste um die Hüfte
gelegt, von Hand in Bewegung gesetzt und dann durch rhythmische Bewegungen
des Beckens im Kreisschwung gehalten werden. Er durfte nicht herunterfallen.
Wettbewerbe begannen: „Ich kann fünfmal“, „Ich 13 Mal“ ... Mein bis heute
gültiger Rekord wurde im heimatlichen Wohnzimmer aufgestellt. Ein Buch lesend
ließ ich den Reifen 75 Minuten lang über dem Tisch kreisen, bis ich wegen
familiärer Missstimmung - das Mittagessen wurde kalt - abbrach.
Der politische
Druck in den 50er Jahren war meistens doch weit weg von meinem Kindergemüt.
Sommerbad und Kirschen-Klauen und Indianer-Spielen waren letztlich die
stärkeren Eindrücke. Heimat, zu Hause – das war hier.
Und doch gab es
da irgendwo eine ganz andere Welt, den WESTEN. Da lockten Kaugummis,
Zündplättchenpistolen, hochglanzgestylte Autokataloge. Und da drohten Schreckfiguren,
deren Namen uns in der Schule immer wieder eingebläut wurden, die für unser
kindliches Hören wohl alle Schläger waren, nämlich „Hauer“, die Ollenhauer
(SPD-Vorsitzender), Adenhauer (Bundeskanzler Adenauer) oder Eisenhauer
(US-Präsident Eisenhower) hießen und Krieg wollten ...
Die Frage, ob
es eine Alternative sei, in den Westen zu gehen, beantwortete die DDR brutal
im August ´61 mit dem Bau der Mauer. Jetzt war klar, wo wir hingehörten! Und
den „Westen“ gab es – physisch erlebbar – nicht mehr. Nur noch in Gestalt von
Paketen. Und im Fernsehen.
Die sichtbare
Präsenz der Staatsmacht beschränkte sich für mich auf den Dorfpolizisten, weil
der auch unsere kindlichen Umtriebe manchmal missmutig beäugte, z.B. die
jugendlichen Jagdpartien mit den väterlichen Luftgewehren auf Spatzen oder die
Übungsfahrten auf Feldern und Feldwegen mit den elterlichen Mopeds.
Es gab aber
auch einen Bürgermeister, der von Staats wegen und wegen des richtigen Parteibuchs
eingesetzt war und wohl weder viel zu sagen noch viel zu tun hatte; meist waren
das biedere und etwas ältere überforderte Parteifunktionäre.
Ein Teil der
„Verwaltung“ geschah auch in Eigenverantwortung zu Hause. Da gab es nämlich das
„Hausbuch“. Man konnte und durfte sich in der DDR lange Zeit (eigentlich) nicht
frei bewegen und erst recht nicht außerhalb seiner eigenen vier Wände
schlafen. Im Hausbuch waren nicht nur die ständigen, amtlich gemeldeten
Bewohner eines Hauses eingetragen. Dort mussten (eigentlich) auch die
kompletten Personalien jeder Person eingeschrieben werden, die auch nur für
eine Nacht dort zu Gast war. Ich schreibe „eigentlich“, weil die Bücher doch
sehr lückenhaft ausgefüllt oder völlig ignoriert wurden. Aber damit machte man
sich (eigentlich) schon strafbar.
„Pfarrer
Krause lehnt den Frieden ab“
Im Juni 1954, fand in
der DDR eine „Volksbefragung“ statt. „Hinweg mit Adenauer und dem
EVG-Vertrag!“ - 93,5 Prozent der Bevölkerung stimmten dafür (EVG war die
später gescheiterte „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“). Mein Vater war
nicht zu dieser Abstimmung gegangen; er ging auch später nie zu DDR-„Wahlen“,
weil es für ihn keine echten Wahlen – mit Aus-Wahl-Möglichkeiten – waren. Und
schon stand sein Name in der Überschrift der regionalen Zeitung: „Das deutsche
Volk entschied sich für den Frieden – Pfarrer Krause lehnt den Frieden ab“.
Anders als „jeder anständige Deutsche“ wolle er „tatenlos zusehen, wenn sein
Volk von gewissenlosen Verbrechern hingemordet werden“ solle. „Was würde er
einmal seinen drei Kindern antworten?“ Die Eltern saßen nachdenklich vor der
Zeitung. Da war er wieder, dieser Druck. Was würde jetzt kommen? Drohte Verhaftung?
Oder war das nur die Überreaktion dieses Herrn Rudolph, der als „politischer
Leiter“ unterzeichnet hatte, oder doch eine deutliche Warnung?
Ich habe das
Original dieses Zeitungsartikels aus dem Jahre 1954 nach der Wende in meiner –
des Sohnes - Stasiakte wieder gefunden, abgeheftet als Beleg dafür, wie
Sippenhaft aussehen kann.
Telefongespräche
wurden in jenen Jahren erkennbar „mitgehört“. Wichtige und politisch
vielleicht brisante Post vertraute mein Vater nicht dem Briefkasten an,
sondern dafür gab es (kirchliche) Kuriere. In den sonntäglichen Gottesdiensten
saßen manchmal Fremde, die mit spitzen Ohren Staatsgefährdendes erlauschen
sollten.
Ich ging schon
ein paar Monate zur Schule, als wir eines Tages – im März 1954 - mitten in der
Stunde feierlich aufstehen und eine ganze Minute lang still stehen mussten. Wir
gedachten des „Väterchens Stalin“, dessen erster Todestag begangen wurde, und
mussten tief traurig sein, obwohl wir den Onkel gar nicht kannten ...
Stalin-Kult und stalinistischer Terror, auch das prägte die 1950er Kinderjahre.
Unten in
unserem Haus wohnte Kantor Kirbach mit seiner Frau. Er war jahrzehntelang
Dorfschullehrer gewesen und ein gestrenger Mann. Nun genoss er seinen
Ruhestand. Bis er eines Tages fassungslos meinen Vater zu sich ins Wohnzimmer
rief. Ich schlich neugierig hinterher. Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Auf dem
Titelblatt stand in dicken Lettern: „Mörder von 10000 Schweinen!“ und daneben
war ein Bild von Kirbachs Sohn. Der war damals (1954) leitender Tierarzt
irgendwo im Thüringischen. Und er war politisch unbequem. Das brachte ihm das
Misstrauen der Staatsorgane ein, er wurde intensiv beobachtet. Und dann schlug
das System unbarmherzig zu. In einem Schauprozess wurde er angeklagt, schuld
zu sein am Tod von Tausenden von Schweinen, die er böswillig nicht rechtzeitig
gegen die Schweinepest geimpft habe – zum Schaden der Volkswirtschaft der DDR.
Das Urteil lautete auf 12 Jahre Zuchthaus. Seine Ehe ging in die Brüche, und
seine beiden minderjährigen Söhne mussten von den Großeltern aufgenommen,
unterhalten und erzogen werden, und so lebten sie dann mehrere Jahre in
unserem Hause. Der inhaftierte Tierarzt kam nach 8 Jahren wieder frei, aber er
war ein gebrochener Mann und starb wenige Jahre später.
Auch im Haus
gleich gegenüber geschah Bedrückendes. Der Adoptivsohn unserer Nachbarsleute,
kehrte 1954 nach Hause zurück. Nur verhalten wurde getuschelt und gemutmaßt. H.
hatte in den letzten Kriegsjahren seine Lehre absolviert und dann einen
Arbeitsplatz gefunden. Als die Russen 1946 mit dem Uranbergbau im Erzgebirge
begannen, wurde auch sein Betrieb verpflichtet, dafür Leute abzustellen –
Zwangsverpflichtung! H. erhielt den Gestellungsbefehl, verspürte aber mit
seinen 18 Jahren einfach keine Lust, Bergmann zu werden, gar noch unter
sowjetischer Militärverwaltung. Und da machte er sich Hals über Kopf davon und
ging über die „grüne Grenze“ in den Westen. Dort arbeitete er einige Monate,
als ihn seine Mutter in einem Brief bat, wieder nach Hause zu kommen; der Vater
war noch in Gefangenschaft. H. kehrte zurück und suchte sich eine Tätigkeit. Es
vergingen einige Wochen, bis die russischen „Organe“ ihn wieder im Visier
hatten. Seine Flucht nach der WISMUT-Rekrutierung wurde wie militärische
Fahnenflucht behandelt! Die Polizei holte ihn zu Hause ab. Er kam vor ein
Schnellgericht und wurde als „West-Spion“ verurteilt: Todesstrafe! Später wurde
das Urteil „gemildert“ auf 30 Jahre in Sibirien. Aber auch dazu kam es nicht,
weil H. schon im berüchtigten Zuchthaus Bautzen an Tuberkulose erkrankte. Erst
fünfeinhalb Jahre später war er wieder zu Hause, gesundheitlich schwer
gezeichnet. Er hat nie mehr richtig arbeiten können. Wie dieser Mann jeden Tag
stundenlang rastlos in seinem kleinen gepflasterten Hof auf und ab ging, hat
mich als Kind tief beeindruckt.
Zwei solche
Schicksale schon im kleinen Horizont meiner Kinderwelt – es hat ihn wirklich
gegeben, den Terror der 50er Jahre.
Flugblätter
hießen nicht nur so, sie kamen wirklich geflogen. Aller paar Monate geschah es.
Entweder waren sie in der Nacht gekommen und lagen als bunte morgendliche
Aufregung auf Wiesen und Feldern. Oder sie flatterten – erst ganz winzige Pünktchen
am Himmel, später als Zettel erkennbar – in die Nachmittags-Langeweile. Ihr
Erscheinen löste hektische Betriebsamkeit aus. Zum einen bei uns Kindern,
weil es einen Wettbewerb gab: Wer findet die meisten? Zum anderen bei den
„Staatsorganen“; das war manchmal der Parteisekretär der LPG, manchmal der Bürgermeister,
manchmal der Dorfpolizist. Die mussten sich von Amts wegen kümmern. Die Zettel
kamen nämlich vom „Klassenfeind“ aus dem „bösen Westen“. Dort starteten große
Gas-Ballons, die Pakete von Propaganda-Material trugen, der Wind trieb sie zu
uns in den - von dort her gesehen ebenso „bösen“ - Osten, und irgendwo,
manchmal eben am Himmel über unserem Dorf, setzten sie ihre Last frei. Die
Zettel waren bunt, und die Parolen waren heftig. Es war kalter Krieg, und die
Sprache war entsprechend: „Sowjetzone“, „Sklaverei“, „Terrorherrschaft“,
„Kanonen statt Butter“, „Kasernen statt Wohnungen“ usw. Die Staatsorgane waren
alarmiert und gingen auf Suche. Aber ein Großteil der Zettel befand sich längst
in der Hand sammelwütiger Kinder - und interessierter Erwachsener. Und nun
begann das immer gleiche Spiel. Hochnotpeinliche Befragung durch den
Dorfpolizisten in den einzelnen Häusern dorfauf und dorfab: Hat hier jemand
solche Zettel gefunden? Die seien abzuliefern. Bei Strafandrohung. Viele
Zettel wurden trotzdem versteckt und heimlich gelesen. Ein paar Tage herrschte
Partisanen-Stimmung, wir spielten Hase und Igel. Dann war wieder Alltag.
Der
Klassenfeind im Westen schmiss noch mehr Bösartigkeiten vom Himmel. Als Feind
des Sozialismus entpuppten sich Kartoffelkäfer. Die hatten die Amerikaner - so
wurde jedenfalls amtlich informiert - aus Flugzeugen abgeworfen, um der
Wirtschaft und den Menschen in der DDR zu schaden. Wir Schulkinder wurden an
die Kartoffel-Front geschickt. Einmal freiwillig einzeln und ein andermal
zwangsweise in Schulklassenstärke marschierten wir auf die Felder, wurden
über Aussehen und Tarnungen des gelb-schwarz gestreiften käferlichen Feindes
belehrt, mit leeren Marmeladegläsern für den Fang der Bösewichte ausgerüstet
und schwärmten dann über die Felder aus für den Sieg des Sozialismus. Einmal
bot uns der Bürgermeister für den ersten Käfer, den wir ihm ins Büro brachten,
sage und schreibe EINE MARK, für ein ganzes Glas, gefüllt mit rot-schwarzen
Larven, gab es im Normalfall 50 Pfennige. Da machte Klassenkampf sogar Spaß.
Bloß – es gab gar nicht so viele Käfer, ich habe 25 Jahre später viel mehr von
ihnen überall auf Kartoffelfeldern gesehen, aber da gab es leider kein Geld
mehr.
Damit wir
einmal ordentliche Menschen werden sollten, die auch mit Geld umgehen konnten,
spendierten meine Eltern Taschengeld. Es gab 50 Pfennige in der Woche. Ich
sollte davon nützlichen Kleinkram erwerben, aber ich wollte die „Frösi“. Das
war eine Kinderzeitschrift mit dem lyrischen Namen „Fröhlich sein und singen“.
Und die wollten meine Eltern nicht im Haus haben, weil sie zwar interessant und
unterhaltsam war, aber eben nebenbei auch ziemlich heftige Agitation für das
sozialistische Kinderleben machte. Aber sie war bunt, interessant (die
blau-rote 3-D-Brille, mit der man Bilder dreidimensional betrachten kann, habe
ich heute noch!), die anderen Kinder durften doch auch ... Ich habe die Hefte
trotzdem – zunächst heimlich und später dann auch mit elterlicher Zustimmung -
gelesen.
Auch an anderer
Stelle gingen die Wertvorstellungen der Generationen nicht konform. Ich bekam
zum Geburtstag eine tolle Taschenlampe, die sich umschalten ließ auf grünes
und rotes Licht. Aber die Freude währte nur solange, bis ein Klassenkamerad
eine Pistole zum Tausch anbot. Natürlich aus dem Westen, ein Plaste-Colt,
leicht defekt, aber zwei Rollen Zündplättchen gab´s noch dazu. Die Eltern
wollten das sehr lautstark nicht. Aber irgendwann hatte ich dann keine Taschenlampe
mehr und tief versteckt in geheimen Schubladen lag das Objekt der Begierde
bei meinen anderen Schätzen.
Bei Altenburg
gab es einen schönen großen Wald. Bestens geeignet, um dort zu wandern, Pilze
zu sammeln, in einem kleinen Steinbruch zu baden. Meine Eltern packten uns
Kinder vorn und hinten aufs Fahrrad zum Familienausflug und wir radelten los.
Aber wir waren nicht allein im Wald. Ein Großteil war Sperrgebiet, und da waren
die Russen. Sie betrieben einen Militärflugplatz und das war streng geheim und
furchtbar wichtig. Eines Tages hatten die Eltern sich „verradelt“, wir hatten
wohl auch Sperrschilder übersehen, jedenfalls sprangen plötzlich aus dem
Gebüsch brüllende Sowjetsoldaten, die Maschinenpistole im Anschlag. Sie stellten
sich vor uns auf und schrieen: „Dokument!!!“. Die Eltern guckten etwas hilflos;
Ausweise hatten sie nicht dabei, und eine Sondererlaubnis natürlich erst recht
nicht. Da griff meine Mutter in ihre Jackentasche, eine kleine rote Karte kam
zum Vorschein und wurde den Wächtern hinübergereicht. Die besahen das Papier
von allen Seiten, berieten kurz, gaben das Kärtchen zurück und wir hatten
wieder freie Fahrt. Vater war etwas verunsichert ob der erfolgreichen Aktion
und wollte das rettende „Dokument“ auch sehen: Es war die Dauer-Eintrittskarte
für das Sommerbad in Meerane, die uns vor den Russen gerettet hatte.
Die Russen
waren all die Besatzungsjahre hindurch immer irgendwie präsent, aber nur
selten zu sehen. Manchmal kamen sie nachts. Dann rumpelten stundenlang Panzer
auf der Dorfstraße entlang; die Straßen waren dann für die nächsten 10 Jahre
hin.
Einmal gab es
im Gefolge einer solchen Panzerrallye ein schreckliches Erlebnis, das sich mir
tief eingeprägt hat. Am Straßenrand lag ein verletztes Pferd, das sich beim
Zusammenprall mit einem Panzer eine schwere Beinverletzung zugezogen hatte.
Sein Körper zuckte, die Augen waren weit offen. Kein Laut war zu hören, aber
aller Schmerz dieser Welt schrie aus den Blicken dieser Kreatur.
Das Jahr 1960
brachte Unruhe ins Dorf. Der kalte Wind der sozialistischen Kollektivierung
der Landwirtschaft wehte durch die DDR. Die Zeitung erklärte tagtäglich, in
welch glorreichen Zeiten wir lebten: Die Bauern wandelten ganz „freiwillig“
ihr Privateigentum in genossenschaftlichen Besitz um. Viele Bauern sahen das
überhaupt nicht so positiv. Ich sehe sie noch vor mir, gestandene Männer, wie
sie geduckt, ratlos und mit feuchten Augen im Arbeitszimmer meines Vaters
saßen. Was sollten sie tun gegen den wochenlang andauernden Druck? Jeden Abend
kamen die Agitatoren aus der Stadt – manchmal gleich mit dem LKW -, saßen bei
ihnen in den Bauernküchen und lockten und drohten. Bis einer nach dem anderen
seinen Beitritt zur LPG (Landwirtschaftliche Produktions-Genossenschaft)
beantragte. Wir Kinder lernten derweil in der Schule, dass es „LPG Typ I“ gab -
hier brachten die Bauern nur ihre Ackerflächen in die gemeinsame
Bewirtschaftung ein - und dass bei „LPG Typ III“ zusätzlich auch alle
Wirtschafts-Gebäude, Tiere und Maschinen genossenschaftliches Eigentum wurden.
Die vorher
selbständigen Bauern wurden nun zu Spezialisten in industriell wirtschaftenden
Agrarbetrieben: Schlosser, Traktorist, Ingenieur, Tierpfleger. Die
Umgestaltung veränderte das Dorf nachhaltig. Die kleinen Felder verschwanden,
Feldwege und Flurgehölze wurden radikal beseitigt. Auf riesigen Flächen von
einigen hundert Hektar hielt neue Großtechnik Einzug. Hamster und Rebhühner verschwanden,
ebenso wie die Pferde. So manches ehrwürdige Fachwerk-Gebäude in den
Vierseithöfen verfiel. Ein neuer großer Schweinestall brachte einen neuen
Geruch ins Dorf.
In der Schule
gab es das neue Fach UTP („Unterrichtstag in der Produktion“). Da lernten wir
nicht nur theoretisch (ESP = „Einführung in die sozialistische Produktion“),
wie toll der Sozialismus funktionierte, dazu gehörte auch handfeste Praxis in
der neuen Landwirtschaft. Wir zogen einmal in der Woche - einen ganzen
Schultag lang! - auf die Felder; da wurden Rüben verzogen oder Kartoffeln
gelesen. Oder wir waren im Stall, um dort auszumisten oder die Kühe zu
„striegeln“, das hieß, ihnen die eingetrocknete Kacke vom Fell zu bürsten.
Oder wir saßen zwischen schwatzenden Bäuerinnen im Dachboden einer
großen Scheunen. Dort wurde „Tabak gefädelt“, das heißt, frisch
gepflückte grüne Tabakblätter wurden mit speziellen Nadeln auf spezielle
Tabakschnur gefädelt und zum Trocknen aufgehängt.
Auch in Bauernfamilien,
die sich lange gegen den Eintritt in die LPG gewehrt hatten, war Jahre später
Interessantes zu hören: Sie fanden es gut, nun eine geregelte Arbeitszeit zu
haben, gute Bezahlung, Urlaub - und „Kinderarbeit“ gab es auch nicht mehr.
In der
glorreichen Sowjetunion, so lernten wir in der Schule, gab es Väterchen
MITSCHURIN. Dem Manne war es gelungen, auch jenseits des Polarkreises Weizen
anzubauen und Wein zu ernten. Sein Erfolg bestätigte eindrucksvoll ein Dogma
der sozialistischen Doktrin, dem zufolge Pflanzen, Tiere und Menschen sich
letztlich jeder natürlichen (oder gesellschaftlichen) Umgebung erfolgreich
anpassen könnten und würden.
Von der
Sowjetunion lernen, hieß siegen lernen. Also wurden die neuen Konzepte auch in
die DDR übertragen. Eine Kampagne schwappte über das Land, und jede LPG baute
nun ihren „Offenstall“. Es war ja nicht mehr nötig, die Kühe im Winter in
geschlossenen Ställen unterzubringen. Es sollte doch reichen, wenn sie ein Dach
über dem Kopf hätten, und mit der Zeit würden sie sich eben an die frostige
Umgebung anpassen.
Die Kühe, die
schutzlos in die zugigen Unterkünfte getrieben wurden, haben die Theorie
offensichtlich nicht verstanden. Sie wurden krank, Todesfälle traten auf, und
nach einiger Zeit wurde das ideologische Experiment stillschweigend beendet.
Mein Vater
nutzte unser großes schwarzes Radio nur, um die politischen Tages-Nachrichten
zu hören. Meine zwei Jahre ältere Cousine Karin kam zu Besuch, und sie zeigte
mir, dass aus der Kiste viel mehr herauszuholen war. Sie kurbelte und drehte
und steckte Drähte in die Antennenbuchse, bis IHRE Musik kam. Flott, laut,
spritzig – und das stundenlang jeden Tag. Es waren bis dahin ungehörte Klänge
in unserem Haus, die meinen Eltern wohl ziemlich auf die Nerven gingen, aber
sie trugen´s mit Geduld. Und ich hörte mit: Radio Luxemburg. Für uns nur auf
Mittelwelle zu empfangen, da rauschte es öfter oder der Sender verschwand auch
minutenlang gänzlich. Manchmal funkten auch gezielt richtige „Störsender“
dazwischen, DDR-staatlich-amtlich eingesetzte Funkstationen, die mit nervenden
Quietsch- und Pfeifgeräuschen das Hören von „West-Sendern“ unmöglich machen
sollten. Radio Luxemburg war wohl nicht so gefährlich, jedenfalls liefen die
meisten Sendungen ungestört. Schnell war auch ich vom Musik-Bazillus infiziert.
Der erste Titel, der sich mir als „Hit der Woche“ eingeprägt hat und an dessen
Melodie ich mich noch heute erinnere, hieß „Johnny, sing dein Lied noch mal
...“ Die sonntägliche „Hitparade“ war über Jahre ein unbedingtes Muss und
brachte – wegen der Konkurrenz zum familiären Mittagessen – ziemlich oft
Zoff. Und es gab einen – natürlich streng geheimen – „Hitparaden-Club“ in der
Schul-Klasse, in dem die wöchentlichen Hitlisten kursierten und die neuesten
Trends diskutiert wurden.
Radios hatten damals manchmal ein „Magisches Auge“, ein grünlich leuchtendes
Glasding, dem man ansah, ob ein Sender gut empfangen werden konnte. Vor allem
aber steckten in den Geräten noch „Röhren“, die manchmal auch kaputt gingen und
ersetzt werden mussten. Vor allem aber konnte man, indem man bei unserem Radio
eine solche Röhre herauszog, den Sound beim Empfang des RIAS ganz entscheidend
verbessern. Ich habe bis heute keine Erklärung, wieso durch Entfernen (!) eines
Bauteils das Gerät besser funktionierte ...
Eines Tages war
Aufregung im Dorf. Gleich vier neue Häuser wurden gebaut. Das allein hätte uns
Kinder wohl kaum interessiert. Aber wie das geschah, das war schon merkwürdig.
Da schachteten nämlich schweigsame Männer in blauen Hosen und Jacken die
Baugruben aus, und sie trugen breite gelbe Streifen auf dem Rücken. Sie wurden
von mehreren Uniformierten bewacht. Die taten das mit Gebrüll, und zur
Unterstreichung ihrer Macht trugen sie Maschinenpistolen über der Schulter. Ich
muss gestehen, dass wir gar nicht versucht haben, mit den Sträflingen zu
reden. Die Bewacher ließen sich auf Unterhaltungen mit uns Kindern ein, sagten
aber über das Schicksal der Gestreiften nur knapp, dass das „Politische“ wären.
Sie haben aber gern Auskunft gegeben, auf welche Entfernung eine MPi noch
trifft.
In eines der fertigen
kleinen Häuschen zog später der Dorfpolizist ein. Drei Fenster waren
vergittert, und da hatten wir im Dorf nun auch noch ein richtiges Gefängnis,
das aber in den darauf folgenden 30 DDR-Jahren wohl nie benutzt wurde.
In der frühen
DDR war eigentlich alles knapp. Jedenfalls das, was man gerade brauchte. „Stromsperre“
zum Beispiel war ein immer wiederkehrendes Erlebnis jener Jahre: Da gab es
eben einfach für ein paar Stunden – angekündigt in der „Spitzenbelastungszeit“ oder
auch ohne jede Vorwarnung – keinen elektrischen Strom. Also stand im Flur
immer eine Kerze griffbereit und daneben lagen Streichhölzer.
Viele nützliche
Dinge, nicht nur später die „Trabbis“, gab es nur auf Antrag oder mit Sondergenehmigung
oder mit geduldigem Warten, Schlange-Stehen oder über (Tausch-) Beziehungen.
Selbst wenn man die Zeitung der Sozialistischen Einheitspartei, das „Neue
Deutschland“, abonnieren wollte, hieß es: Antrag stellen und dann Jahre
warten. Noch viel begehrter und eigentlich überhaupt nicht zu kriegen waren
das „Magazin“ oder der „Eulenspiegel“. Wer Briefmarken sammeln wollte,
benötigte einen Sammlerausweis, und auch den gab´s natürlich nur auf Antrag.
Telefonanschlüsse, Fahrschulkurse, Schreibmaschinen, begehrte Bücher - alles
wurde geplant und bürokratisch zugeteilt.
In den 50er
Jahren gab es noch rationierte Lebensmittel „auf Marken“. Jeder Haushalt bekam
postkartengroße Kärtchen. Auf diesen waren kleine Felder aufgedruckt, die zum
Bezug von z.B. 150 Gramm Brot oder 25 Gramm Butter berechtigten. Beim Einkauf
wurden die entsprechenden Abschnitte abgetrennt und einbehalten. In unserem
Dorf-KONSUM gab es noch in den 60er Jahren Butter, und bis zum Ende der
DDR-Zeiten Nüsse oder Apfelsinen nur auf Bescheinigung oder nach Strichliste.
Und dennoch: Mit Geduld, mancherlei Listen und Tricks ging es doch immer irgendwie,
und man hatte am Ende, was man wollte. Auf jeden Fall waren so ganze
Völkerschaften ständig auf Versorgungstour, was auch Vollbeschäftigung
garantierte. Und oft hatte man dann mehr Vorräte gehamstert, als man eigentlich
brauchte.
Sparen war eine
staatlich verordnete Tugend. In der Schule wurden wir zum Sparen erzogen. Es
gab Hefte von der Sparkasse, in die wir regelmäßig Marken klebten, z.B. 50
Pfennig im Monat fürs „Schulsparen“.
Jedes Jahr im
Mai war für zwei Wochen Ausnahmezustand. Im Radio klang eine Fanfare, die viele
Menschen elektrisierte. „Friedensfahrt!“ Es handelte sich um die „Radfernfahrt
für den Frieden“, eine Rundfahrt, die durch Polen, Tschechien und die DDR
führte. Stundenlang ließ ich Tag für Tag das Radio nicht aus dem Blick und
verfolgte jeden der Streckenberichte, dramatisch geschildert von Heinz-Florian
Oertel & Co. Wir fieberten mit unseren Helden, mit „Täve“ (der Mann hieß
richtig: Gustav-Adolph Schur) und Bernhard Eckstein. Stürze brachten
Bestürzung, und Siege erfüllten uns mit unbändigem Stolz. Es waren „unsere“,
die da gewannen, da wuchs irgendwo auch etwas Stolz auf diese DDR - wenigstens
im Sport waren wir wer! Wenn die Strecke der Friedensfahrt durch unsere Region
führte, radelten wir zur „Hohen Straße“ oder an die „Steile Wand“ von Meerane,
um unseren Helden zuzusehen und zuzujubeln. Und danach fuhren wir tagelang
selbst Radrennen auf den Dorfstraßen, und wir träumten davon, auch einmal
Friedensfahrer zu werden.
Stolz war ich
auch - auf wen eigentlich richtig? -, als 1957 der erste sowjetische SPUTNIK
die Erde umkreist hatte. Einige Jahre später bin ich extra bis tief in die
Nacht hinein wach geblieben, um am Radio (!) den Moment mit zu erleben, in dem
der erste von Menschen losgeschickte Flugkörper den Mond erreichte, „Luna“,
wieder ein sowjetisches Projektil.
Immer am Anfang
des Schuljahres überprüfte der Klassenlehrer die Eintragungen im „Klassenbuch“.
Dort standen die Namen der Schüler, und dann war einiges abzufragen. Eine
Spalte erfasste die „Klassenzugehörigkeit“ des Elternhauses, also die soziale
Zuordnung nach den Kriterien der DDR. In ihrem Selbstverständnis war die DDR ja
ein Staat der Arbeiter und Bauern – diese „Klassen“ galt es besonders zu
fördern. „Arbeiter“ war klar definiert, aber schon mit der Kategorie der
„Bauern“ gab es zunehmend Schwierigkeiten. „Richtige“ Bauern – das meinte
solche mit der verordneten sozialistischen Gesinnung - waren Ende der 50er
Jahre nur die, welche den Schritt in die Genossenschaften gegangen waren, alle
rückständigen und unbelehrbaren Eltern, die noch meinten, als Kleinkapitalisten
allein wirtschaften zu können, waren zunehmend verdächtig. Es gab also im
Klassenbuch „Bauern“ und „Bauern(G)“. Es gab auch die Kategorie der
„Handwerker“ (ebenfalls ein verdächtiger Stand). Und es gab die Möglichkeit,
ein „I“ für „Intelligenz“ einzutragen – zu dieser Klasse gehörten Studierte
wie Ärzte, Techniker, Lehrer usw. Mein Vater war Pfarrer. Was sollte der –
systemtreue - Lehrer eintragen? Konnte ein Mensch mit diesem Beruf überhaupt
intelligent sein? Mangels weiterer Kategorien wurde in der Spalte für meine
Eltern dann aber doch ein „I“ vermerkt.
Die Kinderzeit
hatte für uns noch ein klar definiertes Ende. Nach der achten Klasse kamen wir
„aus der Schule“. Ein Lebensabschnitt war vorbei. Manche Klassenkameraden
begannen sofort mit einer Berufsausbildung, die anderen setzten ihre Schulzeit
in der „Mittelschule“ (bis zur 10. Klasse) oder in der „Oberschule“ (bis zum
Abitur) fort.
Ende der
Kinderzeit. Im Sommer ´61 geriet vieles in Bewegung, auch in der größeren Welt
um mich herum. Im August baute die DDR-Führung in Berlin eine Mauer. Mein
bester Freund, der mit mir in die neue Schule gehen sollte, war in diesen
Tagen zu Besuch im Westen – würde er überhaupt wieder kommen? Unbekanntes
wartete, Neugier und Angst gingen mit durch den letzten Kindersommer. Das
Leben blieb spannend.
3.
Flugversuche – Oberschule und Studium
(1961 bis 1970)
Nach dem
Abschluss der Grundschule besuchte ich vier Jahre lang – bis zum Abitur – die
Erweiterte Oberschule in der Nachbarstadt. 1965 ging ich zum Chemiestudium
nach Dresden.
Ein Tag in
jeder Schulwoche bis zum Abitur war weiterhin für „UTP“ reserviert. Diesen
Unterrichtstag in der Produktion verbrachten wir nun in einem großen
metallverarbeitenden Betrieb (Dampfkesselbau), und wir feilten, schraubten,
bohrten und drehten – so richtig professionell auch an der Drehbank. In drei
Jahren absolvierten wir so eine recht solide handwerkliche Ausbildung. Und wer
das wollte, konnte dann nach dem Abitur auch noch in einem vierwöchigen
Ferien-Lehrgang einen ordentlichen Facharbeiterbrief erwerben.
Mein Weg zur
Allgemeinbildung führte vier Jahre immer die gleiche Straße entlang. Die Schule
war fünf Kilometer entfernt. Von Bus, etwa gar einem Schulbus, war damals keine
Rede. So schenkten mir die Großeltern ein gebrauchtes Fahrrad - ein 28er
DIAMANT-Sportrad mit Dreigangschaltung -, und mit dem stürmte ich an jedem
Morgen - meist etwas zu spät - los, unterwegs schloss sich mir mein Banknachbar
Rainer an, und wir hoppelten über die löchrigen Straßen auf dem Lande und die
kopfsteingepflasterten in der Stadt. Ein paarmal war Glatteis, und die Radfahrversuche
endeten als Rutschpartie im Straßengraben. An solchen Tagen kamen wir Landkinder
dann eben zu Fuß - ´ne Stunde später - und zogen auf einem Schlitten die
Schultasche hinter uns her.
Sehnsucht aller
jugendlichen „Männer“ war ein motorisierter Untersatz. Erst hatte es Fahrräder
mit Seitenmotor gegeben, die wegen Ihrer Knattereien „Hühnerschreck“ hießen;
aber das war wohl mehr was für die älteren Herrschaften. Unserer Begier stand
schon eine neue Zweirad-Generation zur Verfügung. Diese Mopeds waren noch im Wortsinne
ein Motorrad mit Pedale, aber wenn man sie „antreten“ oder gar
tatsächlich einmal als Fahrrad in Betrieb nehmen musste, waren sie auch für
einen kräftigen Jugendlichen verdammt schwer durch Treten zu bewegen. Sie
hießen SR1 und SR2 (Simson-Roller)und
später kamen KR50 (Kleinroller), „Schwalbe“ und „Star“ und
„Sperber“ und andere „Vögel“ dazu - das waren dann schon Mokicks, also mit
Kickstarter zu starten.
Schon bevor die offizielle Fahrerlaubnisgrenze von 15
Jahren erreicht war, machten alle Jungs heimliche Fahrten – mit den zu Hause
still aus dem Schuppen entführten elterlichen Gefährten ging es über Feldwege
und Felder. Aber manchmal gerieten wir im Fahrtrausch auch auf öffentliche
Straßen. Und da konnte es passieren, dass uns der „Dorf-Sheriff“ erwischte;
amtlich war er der ABV (der Abschnittsbevollmächtigte der Deutschen
Volkspolizei). Die Staatsgewalt stoppte das fröhliche Treiben, der Sachverhalt
wurde grimmig protokolliert, das Moped als corpus delicti mit einem
behördlichen Schloss versehen und so aus dem Verkehr gezogen. Aber dann gab es
doch immer einen versöhnlichen Ausgang: Die Eltern erhielten einen amtlichen
Bescheid, hörten sich den Hergang der Untat an, wurden als
Erziehungsberechtigte verwarnt, das Moped durfte wieder in seinen Stall. Dort
blieb es bis zur nächsten illegalen Tour.
Fernsehen war
eine faszinierende Sache. In unserer Familie gab es - aus Kosten- und wohl auch
aus erzieherischen Gründen - kein solches Gerät. Aber in vielen Bauernhöfen
hatten die „Flimmerkisten“ längst Einzug gehalten, und so schlichen wir abends
aus dem elterlichen Haus, ließen uns in die - tagsüber zu diesem Zwecke
verdunkelten - Wohnstuben der Klassenkameraden einladen und guckten stundenlang
fasziniert in die Röhre, egal, was deren schwarz-weißes Geflimmer auf einem
Schirm mit 20 Zentimetern Diagonale zu bieten hatte. Bei der reuigen Rückkehr
nach Hause hieß die Strafe: „Ohne essen ins Bett!“ Aber das war´s mir wert.
Später erbten
wir einen Fernseher von den Großeltern.
Ein besonderer
Nervenkitzel war „Westfernsehen“, der verbotene Blick hinaus aus der
kleinkarierten DDR-Welt, über die Mauer, in eine fremde Wirklichkeit mit
Glamour und Wirtschaftswunder und Werbung. Der Zugang zum Paradies war nicht
leicht, schon rein technisch betrachtet. Die Antenne baute sich jeder selbst.
Bei uns zu Hause war es eine Holz-Leiste, die mit Kupferlitze (geflochtener
Draht) bespannt war. Sie stand hinter dem Fernseher in der Wohnzimmer-Ecke und
wurde bei Bedarf zur Verbesserung des ständig schwankenden Empfangs
(„Überreichweiten“) in die optimale Stellung gebracht. Für das „Zweite
Programm“, das später dazu kam, wurde es schon etwas schwieriger. Man brauchte
für dem Empfang einen Konverter, ein Kästchen, das die gute Tante aus dem
Westen „einschmuggeln“ musste, und dann doch eine etwas leistungsfähigere
Antenne, die von kreativen Bastlern angefertigt wurde und die so hoch oben wie
nur möglich installiert werden musste, also - als versteckte Variante - auf
dem Boden unter dem Dach oder auch offen sichtbar draußen auf dem First,
ausgerichtet in Richtung bayerischer „Ochsenkopf“.
Im Herbst ´61,
kurz nach dem Bau der Berliner Mauer, betrat ich zum ersten Mal meine neue
Schule, die „Goethe-Oberschule“. Fremde Gesichter, vielerlei neue Eindrücke –
und gleich erlebte ich dort auch noch „Klassenkampf“ live. Eine Kampagne
gegen das Sehen und Hören von „Westsendern“ lief an. Agitationsgruppen sägten
„Westantennen“ von den Dächern anderer Leute! In der Schule wurde eine Unterschriftensammlung
gestartet, in der sich alle Schüler „freiwillig“ verpflichten sollten, keine
„Westsender“ mehr anzuhören und anzusehen. Die Listen füllten sich. Ich
unterschrieb nicht. Gerade erst hatte ich bei Radio Luxemburg neue musikalische
Welten entdeckt, die mir wichtig waren, und die abendliche „Tagesschau“ oder
Werner Höfers sonntäglichen „Frühschoppen“ wollte ich auch nicht lassen. Am
nächsten Tag hing am Schwarzen Brett ein großer Zettel, auf dem drei oder vier
Namen von Schülern, darunter meiner, bekannt gemacht wurden, weil sie
Handlanger des Klassenfeindes seien und eigentlich an dieser sozialistischen
Bildungseinrichtung nichts zu suchen hätten. Verunsicherung, Bockigkeit,
Angst, elterliche Gespräche. Ein paar Tage später habe ich auch auf der Liste
unterschrieben. Opportunismus, Anpassung, Unterwerfung? Getröstet hat mich
immerhin die Bemerkung eines drei Jahre älteren Schülers, der mir vor dem
Schwarzen Brett die Hand auf die Schulter legte und meinte, so viel Mut wie ich
habe er nicht gehabt. Mut? Ein ganz kleines bisschen Stolz blieb so auch in
der Niederlage. Ich hatte, wenn auch nur für einige Tage, eine eigene Meinung
gehabt und vertreten, war nicht gleich mit geschwommen im allgemeinen Strom
der Gleichgültigkeit.
Die Kampagne
verlief sich bald, und Westfernsehen wurde weiterhin in fast jedem Haushalt geguckt.
Mein Vater
fuhr, als ich noch zur Schule ging, jedes Jahr im Winter mit mir für eine Woche
ins Erzgebirge zum Skiurlaub. Die Reise nach Johanngeorgenstadt mit der
Eisenbahn war noch in den 1960er Jahren ein richtiges Abenteuer. Schon in
Zwickau stiegen in jeden Waggon zwei Uniformierte ein. Die Ausweispapiere der
Mitreisenden wurden intensiv kontrolliert, alle wurden nach ihrem Reisegrund
befragt. Der Grund: Wir waren in einem Gebiet unterwegs, das so richtig nicht
zur DDR gehörte. Hier im Erzgebirge gewann die Sowjetunion seit 1946 Uran, das
Metall, mit dem man Atomwaffen baut und Atomkraftwerke betreiben kann. WISMUT
hieß die Firma zur Tarnung, und auch der formal souveräne Staat DDR hatte hier
nichts zu sagen. Ganze Landstriche wurden durch hektischen Raubbau verwüstet,
Tausende von Bergleuten opferten ihr Leben dem Bohrstaub und dem Umgang mit
dem radioaktiven Material. Aber darüber wurde nicht geredet. Zwar hörte und
wusste man so manches – aber darüber breitete sich kollektives Schweigen. Am
Ende der DDR-Zeiten hatte sich der Uranbergbau bis nach Ronneburg in Thüringen
ausgebreitet. Von meiner Wohnung aus waren am Horizont deutlich die
WISMUT-Halden zu sehen, höher als die Pyramiden von Ägypten – aber ich habe
sie bis zur Wende einfach nicht wahrgenommen. Unbequem, unheimlich, und einfach
ausgeblendet.
In der 11.
Klasse war für die „Herren“ Tanzstunde angesagt. Die „Damen“ waren schon ein
Jahr früher, im Alter von 16 Jahren, „dran“. Fräulein Nikolaus betrieb eine
Tanzschule. Ihr oblag es seit Jahrzehnten, der von Verlotterung und
Sittenverfall bedrohten Jugend ein paar Grundregeln betreffend äußerlicher
Erscheinung und Anstand zu vermitteln sowie die Fähigkeit, sich ohne Stolpern
und Anderen-auf-die-Füße-treten auf einem Tanzparkett bewegen zu können.
In den ersten
Übungsstunden waren wir „Herren“ unter uns. Wir lernten, gerade zu sitzen und
zu stehen, ordentlich zu gehen und zu grüßen und uns zu verbeugen. Das war
anstrengend, und die ganze Truppe versammelte sich nach dem amtlichen
Übungsteil in der „Ente“, einer benachbarten Kneipe. Dort fand die Auswertung
statt, es gab Pfefferminzlikör und andere verruchte Getränke und - zunehmend
laute - Gespräche unter Männern. Natürlich über Frauen. Über die Damen nämlich,
die für die Tanzstunde einfach notwendig und auch ersehnt waren. Es handelte
sich da ja um weibliche Wesen zum Anfassen - im Wortsinne!
In den
folgenden Wochen wurden mehr oder weniger mutig Kontakte geknüpft, es gab
einige Rangeleien und Geplänkel – und dann stand es fest, wer nun mit welcher
Schönheit „die Tanzstunde machen“ würde. Und dann standen die Damen auf der
einen Seite der Tanzfläche, schick gekleidet, damals so in der Übergangszeit
zwischen schwingendem Petticoat und Minirock, und die Herren standen auf der
anderen Seite, mit Jackett und Schlips und blankgeputzten Schuhen. Der Mann am
Klavier spielte die ersten Takte - richtig live! -, und die Herren stürzten auf
die andere Seite, alles sortierte sich paarweise, und wir versuchten, Fräulein
Nikolaus´ Vorgaben umzusetzen. Das Ganze endete mit einem „Tanzstundenball“
mit allem Drum und Dran. Die Herren mussten die Damen von zu Hause abholen,
inklusive dienernder Überreichung von Blumen und verlegener Konversation mit
den Eltern. Dann wurde Taxi gefahren. Im Saal, beobachtet von Eltern- und
Tantenaugen, galt es zunächst, schwitzend den verschlungenen Pfaden der
Polonaise zu folgen, später war Gelegenheit, beim Walzer auf fremde Füße zu
treten, oder man musste bei verordnetem Partnerwechsel mit einer Dame
klarkommen, die einen Kopf größer und doppelt so schwer war wie man(n) selbst.
Nachdem wir unter intensiver Beobachtung der zahlreich erschienenen
Verwandtschaft bewiesen hatten, dass wir auch mit Messer und Gabel essen und
Wein ohne Kleckereien austrinken konnten, waren wir in den Ritualen des Erwachsenwerdens
eine Runde weiter gekommen. Natürlich hat´s in der Tanzstunde gekribbelt. Und
das war nicht nur der Sekt zum Ball! Da wurde es manchmal spät. Aber da es ohnehin
mit dem Fahrrad zurück aufs Land ging - im Anzug! -, war das nicht so schlimm.
Zu Hause bin ich zu nächtlicher Stunde öfter über Dachrinne und Balkon in den
ersten Stock hochgeturnt, um die Eltern nicht zu schrecken.
Meine
Tanzstundendame erwies sich als äußerst „nahrhafte“ Verbindung, sie stammte aus
einer Bäckerei, und so spazierte ich allsonnabendlich mittags nach Schulschluss
mit einem ganzen Schwarm von hungrigen Klassenkameraden im Gefolge dorthin zum
fröhlichen Futtern von Kuchenrändern.
Manchmal kam
Bewegung in die verkrustete DDR. In den 1960er Jahren erschienen Schallplatten
von den Beatles; die Entdeckung, die das für die DDR möglich machte: Sie waren
„Arbeiterjungen“! Oder ich konnte – über Beziehungen – eine Scheibe von Bob
Dylan erwerben; und die gab es z.B. auf einem Label, das offiziell gar nicht
existierte: „PHONOCLUB“; wie man da Mitglied werden konnte, habe ich nie
herausfinden können. Ich gründete selbst eine Beat-Band, wir sangen natürlich -
und erstaunlicherweise ohne verboten zu werden - englisch-sprachige Titel.
Gemeinsam mit einem Freund schrieb ich damals ein Lied für den „Schlagerwettbewerb“
der DDR, das überraschend in den Endausscheid gelangte. Daraufhin wurden wir
von Kulturfunktionären ermutigt, weiterhin eigene Werke zu schreiben. Ein
Lektorat entschied dann darüber, ob ein eingereichter Titel den Ansprüchen der
sozialistischen Kulturpolitik genügte. Was den textlichen Inhalt solcher Stücke
anlangte, war manchmal fast alles möglich und manchmal schwang eine ängstliche
Kulturpolitik den großen Hammer der Verbote.
Nach und nach wuchsen
meine Haare bis auf die Schultern hinunter, in der Studienzeit kam ein Bart
dazu. Das war auch ein Stück Protest, Anderssein – und es wurde immerhin toleriert.
In meiner
Kinderzeit rannte ich ständig mit anderen Kindern durch Wald und Flur, und
dabei habe ich nie was von Sehstörungen bemerkt. Nur im Schulzimmer rutschte
ich im Laufe der Jahre von der letzten Bankreihe immer weiter nach vorn, weil´s
da irgendwie besser ging mit dem Erkennen.
Eines Tages saß
ich im Arbeitszimmer meines Vaters und spielte mit seiner Brille. Als ich die
mir auch mal selbst auf die Nase setzte, hatte das einen unerwarteten Effekt.
Ich entdeckte, dass die Wand-Tapete ein Muster hatte – das war mir bis dahin
entgangen. Ich war da schon relativ stark kurzsichtig.
Bald
hatte ich eine Brille. In der Schule war so was ja ganz nützlich, aber im
wirklichen Leben? Da war Brille doch einfach peinlich, zumal einige Mädchen,
auf deren Akzeptanz ich doch zunehmend Wert legte, das böse Lied sangen: „Einer
mit ´ner Brille ist mein letzter Wille“. So trat ich draußen weiter ohne
Brille in Erscheinung. Das war manchmal nicht ganz einfach. Ohne Brille hatte
die ganze Welt etwas verschwommene Konturen. In der Tanzstunde hieß das zum
Beispiel: Merke dir die Farbe des Kleides der Auserwählten, deren Gesicht du
auf der Gegenseite des Saales sowieso nicht erkennen kannst.
Dass das Tragen einer Brille vorteilhaft sein kann, davon
überzeugte mich endgültig Jahre später ein Vorfall im Ostseeurlaub. Tagelang
hatte ein kräftiger Wind aus Süden vom Land her geweht, das hatte eine Art Ebbe
zur Folge, das Meer war zurückgewichen, und man konnte auf einem 50 Meter
breiten Sandstreifen herumspazieren. Ich hatte diesmal meine Brille auf der
Nase – und prompt fand ich im feuchten Sand ein massives Silberarmband mit
gefassten Bernsteinen.
Die
Sommerferien waren in der DDR immer 8 Wochen lang, dauerten von Anfang Juli bis
Ende August. Da wurde manchmal die Zeit lang, und außerdem war eigenes Geld
sowieso immer knapp. So entschlossen sich viele, ein paar Wochen arbeiten zu
gehen.
Mich trieb´s
drei Sommer lang zur Autobahn. In Meerane gab es eine Autobahnmeisterei, die
die Aufgabe hatte, einen Streckenabschnitt von etwa 60 Kilometern Länge in
Ordnung zu halten: Winterdienst, Hecken pflegen, Fahrbahn instand halten, Müll
beräumen usw.
Drei Wochen
lang erlebte ich nun alle Höhen und Tiefen des Bauarbeiter-Daseins mit. In
dieser Zeit wohnte ich bei der Familie eines Klassenkameraden in der
„Autobahnsiedlung“. Der Arbeitstag begann im Sommer irgendwann zwischen vier
und fünf Uhr in der Frühe. Kurze Beratung zur Einteilung der Arbeit, dann wurden
LKW beladen und kleinere Arbeitsgruppen fuhren an ihre Einsatzorte.
Unsere Haupttätigkeit hieß: „Platten heben“. Die Autobahn –
so lernte ich - war in den dreißiger Jahren ziemlich hektisch gebaut worden.
Die Bauaufträge gingen an örtlich ansässige Baufirmen, die jeweils ein paar
hundert Meter Strecke zugeteilt bekamen, den Untergrund vorbereiteten und darauf
später die Betonplatten für die Fahrbahn gossen. Aber obwohl es natürlich
genaue Vorschriften für einzusetzende Materialien und Technologien gab, hatte
eben doch jeder ein bisschen anders gebaut, den sandgeschütteten Untergrund
mehr oder weniger gut verdichtet, mal war die eine und mal eine andere
Zementqualität eingesetzt worden usw. Nach Jahrzehnten zeigten sich nun massive
Schäden. Der Untergrund arbeitete, Wassereinbrüche und Frost und Hitze ließen
die Platten abrutschen oder drückten sie hoch, wobei sie manchmal verkanteten;
dadurch konnten an den Fugen Höhenunterschiede von einigen Zentimetern
entstehen!. Unsere Aufgabe war es nun, die Platten wieder auszurichten, damit
die Autofahrer ohne Hoppeleffekte auf der Autobahn fahren konnten. Um das
hinzukriegen, wurden morgens auf das Auto 50 Säcke Zement verladen, ein
Kubikmeter Sand, ein paar riesige Bohrhämmer, ein Betonmischer; hinten an den
LKW wurde ein fahrbarer Kompressor mit Dieselmotor angehängt. Dann fuhren wir
zur Baustelle. Einer wurde weitergeschickt zum Bierholen, die anderen sperrten
den Baubereich ab. Ich glaube, so richtig exakt gemessen wurde nun gar nicht,
die Bewertung der Plattenstände erfolgte mehr nach geschultem Augenmaß des
„Poliers“. An den Ecken der in ihrer Lage veränderten Platten wurden die Bohrmaschinen
angesetzt und vier bis fünf Zentimeter dicke Löcher durchgebohrt – das war bei
15 Zentimetern Stahlbeton eine Hundearbeit! Inzwischen lief die Mischmaschine
und rührte Beton an. Auf das Bohrloch wurde eine Art Trichter aufgesetzt, durch
das der Betonbrei mit Druckluft unter die Platte gepresst wurde. Dabei spielten
Erfahrung und Gespür eine große Rolle. Keiner wusste ja, wie es unter der
Platte aussah, ob da viel Hohlräume zu füllen waren - da strömte manchmal eine
Beton-Ladung nach der anderen ohne erkennbare Wirkung in den Untergrund - oder
ob die Platte auf festem Untergrund auflag. In diesem Fall konnte schon eine
kleine „Unterfüllung“ dazu führen, dass die Platte nach oben sprang,
verkantete, und dann musste der ganze Rest der Platte diesem neuen Niveau
angeglichen werden.
Noch eine
Absonderlichkeit von „Planwirtschaft“ habe ich mir gemerkt. Frühmorgens wurden
einige Dutzend Zementsäcke verladen, die waren damit verplant, abgerechnet,
abgebucht. Wenn dann tagsüber einmal weniger Zement nötig war als im
Durchschnitt, wurden die übrig gebliebenen Säcke vor der Rückfahrt abgeladen,
aufgeschlitzt und den Hang runter gekippt. Dabei war Zement ja eigentlich auch
Mangelware ...
Am Sonnabend -
der war damals noch bis mittags wirklich ein „Werktag“ - wurden alle
Mitarbeiter, ob Meister oder Hilfsarbeiter, in Zweiergruppen entlang der
Autobahn abgesetzt, und sie sammelten Kilometer um Kilometer von Hand den
Müll auf, den die Autofahrer im Laufe der Woche aus dem Fenster geworfen
hatten. Gegen Mittag wurden alle von einem Fahrzeug wieder aufgesammelt.
Manchmal
lautete die Aufgabe für uns schülerische Hilfskräfte auch: „Hecken schneiden“.
Rechts und links der Autobahn wuchsen Hecken, die manchmal Hunderte Meter lang
waren. Sie mussten geschnitten werden, von Hand mit der großen Heckenschere.
Dann waren wir stundenlang auf uns allein gestellt, und in den nächsten Tagen
hatten wir mächtige Blasen an den ungeübten Händen.
Zu unseren
Aufgaben gehörte es auch, das auf dem Mittelstreifen der Autobahn geschnittene
Heu zu bergen – auch das erfolgte bei laufendem Fahrbetrieb!
Um
Haaresbreite
Unser Bautrupp
arbeitete auf der Autobahn. Die war mit rot-weißen Gummihüten halbseitig
gesperrt, außerdem galt im Baustellenbereich „60“ als Geschwindigkeitsbeschränkung.
Plötzlich schrillten Signaltöne. Ein Polizeifahrzeug näherte sich mit Blaulicht
und raste mit „100“ an mir vorbei durch die freie Gasse. Ich blickte noch
erschrocken hinterher, als die Kollegen vor mir heftig zu winken begannen. Was
hatten Sie? Ich winkte unlustig zurück. Aber in diesem Moment verspürte ich
einen leichten Luftzug. Ein riesiger dunkler Schatten rauschte an mir vorbei.
Das Polizeifahrzeug sollte eigentlich einen Schwertransport geleiten.
Irgendetwas aber hatte die Besatzung des Begleitfahrzeugs bewogen, Tempo zu
machen, und der Transporter hatte daraufhin ebenfalls Gas gegeben – und nun
donnerte er mit „90“ durch die Baustelle. Das Fahrzeug transportierte einen
riesigen Ring aus Stahl, der bestimmt einen Meter weit über die Absperrung in
unsere Arbeitsstelle hineinragte. Wenn ich wenige Zentimeter weiter draußen
gestanden hätte ... Die Kollegen, harte Bauarbeiter-Typen, hatten hilflos
zugesehen und waren nun ziemlich blass. Ich hatte weiche Knie, kriegte ein Bier
und hatte erst einmal arbeitsfrei.
Es gab einen
neuen Geheimtipp: „Party“. Keine Ahnung, was und wie, aber auch wir wollten
„in“ sein, also wurde geplant und verabredet. Meine Eltern waren einverstanden
und finanzierten die Versorgung mit Speisen und Getränken. Mein Schwesterlein
besaß einen Plattenspieler, den ersten weit und breit. Mir hatte die gute
Westtante gerade zwei West-Schallplatten mitgebracht, ein Freund brachte noch
eine weitere der schwarzen Scheiben mit. Und dann war im Wohnzimmer Party
angesagt. 10 schüchterne junge Leute, nach einer Stunde gab´s die ersten
musikalischen Wiederholungen. Irgendwie hatte ich mir das aufregender
vorgestellt.
Aber nun ging´s reihum weiter: Fast jeder aus der Tanzstundentruppe war mal
dran mit „Party“, und so war fröhliches Jugendleben garantiert.
In der
Tanzschule hatten wir Foxtrott und Quickstep und Rumba und Walzer gelernt.
Aber in der Wirklichkeit der Tanzsäle, die wir danach besuchten, waren ganz
andere Künste und Ausdrucksformen gefragt. Der „Rock ´n´ Roll“ war Mitte der
1960er Jahre schon was Nostalgisches für uns. Es gab in unserer Stadt den „Rock
´n´ Roll – King“, eine legendäre Figur, der „es“ mit „Überwurf“ und
„Durchziehen“ konnte. Aber solches Treiben war politisch verdächtig und deshalb
verboten. Und so hatte der King ständig Ärger. Wegen solch
„westlich-dekadenten“ Benehmens gab es immer wieder Schwierigkeiten mit der
Staatsmacht – die Folge waren z.B. „Saalverbot“ oder Geldstrafen. Wir
jüngeren gingen sehr bürgerlich-sittsam zum Tanz, mit Sakko und Schlips und
Mantel - mein bester Freund trug sogar einen Hut (mit 17 Jahren!). Öffentliche
Tanz-Veranstaltungen begannen abends um sieben und waren punkt Mitternacht zu
Ende, 15- und 16-jährige mussten schon um zehn raus. Zu Hause übten wir - vor
dem Spiegel und mit Seitenstechen als Nebenwirkung - neue Anstößigkeiten,
„Twist“ zum Beispiel, und wenig später fassten sich Männlein und Weiblein nicht
mehr an, sondern jeder verrenkte sich nach bestem Vermögen solo auf dem Parkett.
Irgend jemand
von uns hatte im Fernsehen gesehen, wie coole Typen Ziegelsteine und ähnliche
Gegenstände mit eiserner Hand zertrümmerten. Fortan gab es Karate-Übungen in den
Schulpausen. Zwei aus unserer Klasse hatten damals in der Schule die
Verantwortung für das „Kartenzimmer“, in dem Landkarten und Bildtafeln für den
Unterricht gelagert wurden. Solche Karten hatten oben und unten je eine runde
Holzstange. Und nun entdeckten wir: Da gab es doch eine Menge alte zerflederte
Karten, die niemand mehr brauchte! Also wurden die Holzstäbe herbeigeholt, zwischen
zwei Schulbänke gelegt, und mutige Männer versuchten, sie mit der Handkante zu
zerschlagen, was manchmal gelang, nebenbei aber auch zu
schmerzhaft-geschwollenen Händen führte.
Die Musik, die
uns vom Hocker riss, konnten wir viel zu selten hören. Tonbandgeräte waren
unerreichbar teuer, Platten gab es nur im Westen. Da blieb nur die
Möglichkeit, stundenlang am Radio zu sitzen und zu kurbeln und zu warten, ob im
Knarren und Auf-und-ab-Schwellen des Empfangs (Mittelwelle!) irgendwann drei
Minuten Glück zu erhaschen waren.
Ein älterer Mitschüler konnte Gitarre spielen, und das hatte mich sehr beeindruckt.
Also kaufte ich mir auch – für 70 Mark Ost – eine einfache Holzgitarre. Damit
es mehr „schepperte“, zog ich Stahlsaiten auf, und weil ich gesehen hatte, dass
Gitarristen etwas in der Hand hatten beim Anschlagen, malträtierte ich die Gitarre
mit einem Fünf-Pfennig-Stück zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich hatte ein
dünnes Heft erstanden, in dem einige Griffe auf der Gitarre vorgestellt waren.
Und dann ging´s zur Sache: autodidaktischer Schnellunterricht live! Das lief
so: Im Radio wurde ein Lied angesagt, das ich gern mitspielen können wollte.
Während der ersten Strophe war Zeit, die Gitarre auf die richtige Tonlage zu
bringen, in der zweiten Strophe konnte ich versuchen, intuitiv aus meinem
begrenzten Repertoire an Griffen die zu diesem Stück passenden auszuwählen,
und die Begleitung bei der dritten und letzten Strophe ging dann meist schon
ganz leidlich. Das war eine harte Schule für Gehör und Spiel-Technik, aber das
gute Gefühl („ich kanns“!) wog mehr als die Schmerzen und Schwielen an den
Fingerkuppen. Das heftige Draufhauen - die Musik sollte ja laut sein - bekam
den zarten Saiten nicht immer, mancher Draht riss, und weil ich mir monatelang
keine neue E-Saite kaufen konnte, habe ich eben meinen Grundkurs auf einer fünf-saitigen
Gitarre gemacht. Zusätzlich galt es, die englisch gesungenen Texte abzuhören,
aufzuschreiben und zu übersetzen – das war nebenbei eine erfolgreiche
Methode, um Englisch zu lernen.
1963/64 hatte
auch uns das Beatles-Fieber voll erreicht. Und mangels Schallplatten entdeckten
wir: Man konnte doch auch selbst singen! Und es geschah so. In der 12. Klasse
brachte ich am Sonnabend – das war regulärer, wenn auch verkürzter Schultag -
auf dem Fahrrad meine Gitarre mit in die Schule, und dann standen wir in jeder
Pause in der Zimmerecke und schrieen uns die Stimme aus dem Hals bei „Twist
and Shout“. Manchmal zogen wir uns auch für solche Gesangsübungen in den
Heizungskeller der Schule zurück.
Eines Tages
wurde ein Umlaufzettel unter den Bänken in der Klasse herumgereicht: „Wer
gründet mit mir einen Schlager-Club?“ Ein netter Mitschüler hatte den Text
ganz sparsam verändert, und als der Lehrer den Zettel in die Hand bekam, las er
genüsslich vor, wer sich inzwischen als Mitglied im Schläger-Club
eingetragen hatte.
Es gab einen
legendären Rundfunkmoderator in der DDR, der immer im Lande unterwegs war auf
der Suche nach „Jungen Talenten“. Irgendwann verirrte er sich auch in unsere
Kleinstadt. Jeder, der was Unterhaltsames bieten konnte, war aufgefordert, sich
zu melden. Ich hatte meine Holzgitarre, kannte ein paar Lieder, fasste Mut und
meldete mich an. Zur Generalprobe stand ich allein mit meiner Klampfe vor einem
Mikro und sang in den leeren großen Saal hinein. Der Text meines Beitrags war
englisch: „The House of the Rising Sun“ – ich hatte den Text mühsam im Radio
abgehört. Irgendwie passte mein Stück künstlerisch oder ideologisch aber dann
doch nicht ins Programm und so konnte ich die Abendveranstaltung nur als
Zuschauer aus den Falten des Vorhangs beobachten. Aber das Unternehmen hatte
doch Folgen für mein weiteres „Musiker-Leben“. Auf der Bühne stand eine Band
namens „Meridas“, und mit deren musikalischem Leiter hatte ich bei den Proben
mancherlei musikalische Gemeinsamkeiten feststellen können. Merida ist übrigens
ein Städtchen in Mittelamerika, von dem wir nichts wussten und wo auch nie
einer gewesen war. Aber es war „draußen“ und „drüben“ und war damit etwas
Exotisches, eignete sich als Symbol für Verlockendes und Verbotenes. Und so
hieß also die Band, die an unserer Schule gegründet worden war, MERIDAS. Die
Band spielte – sittsam in Pepita-Jacken gekleidet – die Musik, die wir alle hören
wollten, schnell und laut und rockig und englisch und westlich.
Ich hatte damals mit einigen Freunden eine eigene Band gegründet, die
„Pacemakers“. Wir knieten uns zu fünft in die Proben und hatten, in der
Zeitung als offizielle Band des „Jugendklubhauses“ angepriesen, sogar einen
Auftritt. Es blieb unser einziger. Der selbstgebaute Verstärker - es war einer
für die ganze Gruppe! -, brannte beim Auftritt spektakulär ab.
Wenige Wochen
später stieg ich bei den „Meridas“ ein. Etwas überraschend für mich kam die
Mitteilung, dass ich fortan Bassgitarre spielen sollte. Ich hatte solch ein
Gerät noch nie in der Hand gehabt, aber das Instrument war schon gekauft –
wodurch ich gleich mit 500 Mark Schulden startete. Immer freitags war Probe,
am Wochenende dann und zur Faschingszeit und in ähnlichen Festzeiten auch noch
öfter gab es einen oder auch zwei Auftritte („Muggen“) von jeweils fünf Stunden
Dauer - und dafür 25 Mark auf die Hand. Die Veranstaltungsorte lagen im Umkreis
von 30, 40 Kilometern. Ich „reiste“ immer - zusammen mit der Technik und den
Instrumenten - hinten auf der Ladefläche eines kleinen, offenen LKW unter der
flatternden Plane. Bei unseren Auftritten war noch alles „echt“, es gab keine
Tricks, etwa ein „Hallgerät“ für mich als Sänger bei schwächelnder Stimme. Wir
spielten zum Teil einen erdverbundenen Rock, getragen von zwei röhrenden Saxophonen,
machten auch hin und wieder ein Zugeständnis mit Schnulzigem zur „Damenwahl“,
aber Profil erlangten wir schnell, indem wir „unsere“ Musik spielten, Titel von
den BEATLES. Wir hatten sogar einen richtigen Fanclub, der zu jeder
Veranstaltung anreiste - am Stammtisch mit Wimpel.
Die Band bekam einigen Ärger mit mir als ihrem Sänger und Gitarristen. Ich
hatte nämlich keine ordentliche Musikschulausbildung mit Abschluss zu bieten,
was für eine „Spielerlaubnis“ - die behördlich notwendige Zulassung zum
Auftritt auf öffentlichen sozialistischen Bühnen - und für die „Einstufung“
(wichtig für die Stunden-Vergütung) eigentlich unerlässlich war. Aber extra
wegen mir wurde das Reglement geändert, eine „Gruppeneinstufung“ durchgeführt
(Live-Auftritt und Bewertung nach Gehör), und wir durften loslegen. Ein
reichliches Jahr meines Lebens habe ich jedes Wochenende auf der Bühne gestanden,
während der Woche meine Stimme kuriert und die Texte neuer Lieder abgehört.
Bald war ich Besitzer von drei Gitarren. Zu Hause hing eine Holztafel an der
Wand, auf der ein Gewirr von Drähten angepinnt war – Dutzende von
Gitarrensaiten, die meine heftigen Attacken beim Anschlagen nicht „überlebt“
hatten und gerissen waren. Es war eine intensive Zeit, aber da ich „nebenbei“
auch studierte, war irgendwann zu entscheiden, was nun Vorrang haben sollte,
und da fiel die Entscheidung: Der Hauptberuf sollte Chemiker sein.
Schon in der
Band „Meridas“ hatten wir - Gerhard Zachar, der spätere Leiter der DDR-weit
bekannten Gruppe LIFT, und ich - hin und wieder mit eigenen Kompositionen
experimentiert. Und wir probierten dabei manchmal auch selbstgemachte, deutsche
Lied-Texte aus. Die Verwendung deutscher Worte wäre wohl im „Westen“ in den
60er Jahren in der Beat-Szene undenkbar gewesen. Nun gab es damals in der DDR
offiziell (noch) keine Beat- oder Rockmusik. Aber es gab den
„Schlagerwettbewerb“. Wir wollten versuchen, dort mit unseren Ideen
unterzukommen und reichten im Jahr 1967 zwei Titel ein, unter den Codenamen
„Gurkenwurm“ und „Rhabarberschnecke“. Es geschah Erfreuliches: Einer der Titel
kam auf Anhieb in den Endausscheid – das „Herbstlied“. Wir hatten nur Text und
Klavierbegleitung geliefert. Ich hatte mich bei diesem Stück zum ersten Mal als
„Texter“ versucht, und von Stund an trug ich das Etikett, ein „Textdichter“ zu
sein. Nun hatten wir keinen Einfluss darauf, wie „unser“ Stück arrangiert wurde
und wer es singen würde – das Ergebnis war dann eine doch ziemlich
schlagermäßige Inszenierung. Aber es war unser Einstieg in eine neue Welt, die
uns neue Möglichkeiten eröffnete. Ich zog meinen schwarzen Konfirmationsanzug
an, reiste nach Magdeburg ins Interhotel. Wir wurden in die riesige
Veranstaltungs-Halle kutschiert, schwitzten uns durch die Generalprobe mit
Scheinwerfern und Fernsehkameras. Und dann war es so weit: Premiere für UNSER
Lied! Frank Schöbel, Chris Doerk und andere DDR-Stars waren unsere
Sitznachbarn. Später standen wir schüchtern beim Empfang am kalten Büffet. Und
die ganze Zeit über hielten wir eine Schallplatte in der Hand, auf der unser
Lied drauf war, unsere Namen standen! ... Leute vom Rundfunk sprachen uns an,
ob wir nicht weitere Stücke hätten, die wir mal vorstellen könnten. Wir hatten
Glück, dass die DDR-Kulturpolitik gerade auf der Suche nach neuen Ansätzen,
nach neuen Leuten war. Wir nutzten die Chance, schrieben neue Texte und
Melodien, und bald erschien öfter etwas von uns auf Schallplatten oder wurde
im Rundfunk produziert. Letzteres war damals noch die Regel,
Plattenproduktionen die Ausnahme. Am Anfang liefen unsere Titel noch in der
Rubrik „gehobener Schlager“ und wir hatten auch keinen Einfluss auf die Auswahl
der Interpreten, aber Anfang der 1970er Jahre gab es eine Öffnung hin zu
DDR-eigener Beatmusik, und da wurde es auch möglich, die eigenen Titel mit der
eigenen Band zu produzieren und rockiger zu machen. Ich stand da aber längst
nicht mehr mit auf der Bühne, sondern schrieb nur noch Texte, für LIFT und
KARAT und HORST KRÜGER und THEO SCHUMANN ...
Wir hatten im
Sommer 1965 unser Abi in der Tasche, und nun wartete die große weite Welt auf
uns. Erst einmal sollte es an die Ostsee gehen, als gemischte Gruppe von
Männlein und Weiblein, mit Zelten, FKK in Sichtweite, ohne Lehrer, ohne
Eltern.
Die Anreise erfolgte für den größeren Teil der Truppe mit dem Zug oder per
Anhalter. Ich saß bei einem Freund als Sozius hinten auf dem Motorrad, merkte
schon nach den ersten Kilometern, dass ich die falschen Schuhe trug – Sandalen!
- und wurde auf einer Strecke von 600 Kilometern ganz schön durchgerüttelt.
Auf dem
Zeltplatz war Selbstverpflegung angesagt. Ich habe in den letzten Tagen vor dem
Härtetest schnell noch zu Hause bei Muttern einen Schnellkochkurs absolviert;
Blumenkohl mit Holländischer Soße und Spaghetti mit dicker Tomatensoße kann
ich heute noch richtig gut zelebrieren. Aber meist gab es dann doch fertige
Tütensuppen oder Spiegelei mit Rotwein. Die Suppentüten und geleerten Flaschen
wurden aufgewahrt und daraus eine Ausstellung gestaltet, die am Ende ziemlich
beeindruckend war.
Wir spielten
Volleyball und trieben Schabernack. Ein grimmig dreinblickender
Familienhäuptling hatte es gewagt, an „unserem“ Strand eine richtige deutsche
Strand-Burg zu errichten, was höchst unüblich war. Einen ganzen Tag lang hatte
er gegraben, und ein entsprechend beeindruckendes Bauwerk ärgerte uns nun.
Oben auf dem Zeltplatz gab es nun aber – eigentlich zur Brandbekämpfung
vorgesehen – ein Gestell, in dem einige rote Spaten und Schaufeln standen. Als
es dunkelte und niemand mehr am Strand war, holten sich die bösen Buben diese
Grabwerkzeuge, schlichen zum Strand und ebneten in mühevoller Arbeit die
Trutzburg ein, so vollständig, dass zuletzt nicht einmal mehr die Stelle
auszumachen war, an der sie einst gestanden. Am nächsten Morgen lag die ganze
Schar unschuldig blickend in sicherer Entfernung und erbaute sich an der
Fassungslosigkeit des Erbauers. Er hat dann im zweiten Anlauf eine normale
Mulde ausgehoben, wie das alle taten.
Im Grenzgebiet
war es streng verboten, offenes Feuer zu machen - es hätten ja Signale an den
Klassenfeind sein können. Wir waren aber jung und Feuer war was Schönes, und in
diesem Urlaub haben wir nicht nur offene Feuer oben auf dem Zeltplatz gemacht -
was im Wald schon richtig dämlich und gefährlich war! -, sondern auch am Strand
loderten die Flammen; richtig dicke Stämme knisterten und glimmten da bis in
den frühen Morgen. Und als doch einmal Grenzsoldaten vorbeikamen, waren die
auch so jung wie wir, haben bei uns gestanden, mit uns getrunken und zur
Gitarre gesungen, und zum Abschied haben wir uns über die Glut hinweg einen
Guten Morgen gewünscht. Das klingt ein bisschen unwirklich, aber auch so
konnte die DDR-Wirklichkeit sein.
Wir waren eine
Gruppe junger Männer, die eben das Abi erfolgreich hinter sich gebracht hatten,
die kräftig waren, sportlich und nicht ganz ausgelastet. Eines Tages war
stürmische See, riesige Wellen, die zum Toben einluden. Natürlich hatten die
Rettungsschwimmer längst den roten „Sturmball“ hochgezogen, das bedeutete
striktes Badeverbot. Aber wen kümmerte das schon! Und so stürzen sich sechs
Jungen in die schweren Brecher, ließen sich überrollen, tauchten darunter
durch. Ein herrliches Gefühl war das. Aber als nach einiger Zeit jemand
zufällig zum Strand hinüberblickte, zeigte sich uns dort ein völlig
unbekanntes Gelände. Wir waren weit weit abgetrieben durch eine starke
Strömung, die uns aber weiter fest im Griff hatte und immer weiter aufs offene
Meer hinauszog. Wir wollten aufbrechen in Richtung Strand. Das wollten wir
zwar, aber es erwies sich als ziemlich schwierig. Es dauerte sehr sehr lange,
bis das Wasser endlich flach wurde und wir müde an den Strand wateten.
Ich bin
insgesamt mehr als 20 Mal, und dann in der Regel für drei Wochen, zum Zelten
gefahren - zunächst als „Kind“ in elterlicher Begleitung, dann als Jugendlicher
unter Gleichaltrigen und zuletzt als Familienvater. Und immer ging es auf den gleichen
Zeltplatz, auf dem ich in der Summe fast anderthalb Jahre meines Lebens
verbracht habe.
Ort des
Geschehens war der nach dem Dörfchen Nonnevitz benannte Zeltplatz (auch der
Platz für Betriebsferienlager am „Bakenberg“ gehörte dazu) an der Nordküste der
Insel Rügen. Dort erstreckte sich ein Sandstrand über mehrere Kilometer
Länge, manchmal in flachen Dünen auslaufend, meist aber direkt mit einem
Steilufer von 5 bis 15 Metern Höhe dahinter. Unmittelbar dahinter begann der
Hochwald aus Kiefern und Buchen mit Grasboden und spärlichem Unterholz. Dort
oben standen die Zelte, je nach Bedürfnissen der Bewohner geschützt etwas
weiter hinten im Wald oder auch ganz vorn auf der Kante – dann zwar mit
exklusivem Seeblick, aber auch dem manchmal doch recht stürmischen Wind direkt
preisgegeben.
Aber der Reihe
nach: Sehnsucht nach Urlaub am Meer reichte natürlich nicht, um auch dort sein
zu dürfen. Man brauchte dafür eine Erlaubnis, genannt „Zeltschein“, die es nur
auf Antrag gab. Man besorgte sich also zunächst das entsprechende Formular. Der
Antrag wurde ausgefüllt. Den „Spielregeln“ genügend hätte man eigentlich nur
aller paar Jahre einmal auf einen bestimmten Zeltplatz fahren dürfen. Aber es
gab allerlei Tricks, das doch öfter hinzukriegen. Manche Zeltgenossen
organisierten auf „ihrem“ Stamm-Zeltplatz Malkurse oder botanische Führungen
oder räumten den Müll weg und wurden so zu unverzichtbaren und privilegierten
Dauergästen. Man musste eigentlich auf seinem Zeltplatzantrag nicht nur den
gewünschten Zeltplatz angeben, sondern zusätzlich zwei „Ersatzplätze“ – also
schrieb man zusätzlich „Prerow“ und „Binz“ hin, diese „Edelplätze“ waren mit
Sicherheit immer ausgebucht, sodass Nonnevitz zwangsläufig „übrig blieb“.
Manche schickten auch mehrere Anträge gleichzeitig ab, mit immer den gleichen
Personen, die namentlich genannt werden mussten, aber mit wechselnden Namen als
Antragsteller, um ihre Chancen zu erhöhen. Der Antrag musste noch vor Ende des
alten Jahres bei der zentralen Vermittlungsstelle in Stralsund sein, um für den
nächsten Sommer Erfolg zu haben. Meist wurde unser Antrag nicht einfach in
einen Briefkasten geworfen, sondern als „Einschreiben“ geschickt, um die
Aufmerksamkeit zu erhöhen. Nun begannen bange Wochen des Wartens, dann kam per
Post die Zulassung – oder die Ablehnung. Im letzteren Fall hatte man noch immer
die Chance, mit einer „Eingabe“ Widerspruch einzulegen und auf erholungsbedürftige
Kinder, berufliche Terminzwänge oder ärztliche Empfehlungen für einen
Aufenthalt an der See hinzuweisen, und dann klappte es in der Regel doch noch.
Der zweite
Punkt war nun die Organisation der Beförderung von Menschen und Gepäck quer
durch die DDR. Privat-Autos waren Anfang der 1960er Jahre noch ein seltener und
für uns unerreichbarer Luxus. Wir reisten in den ersten Jahren mit der
Eisenbahn, auf der Insel Rügen dann die letzten 70 Kilometer idyllisch mit
einer Kleinbahn, die auf der „Wittower Fähre“ übergesetzt wurde und damals noch
bis Altenkirchen dampfte). Das Gepäck wurde ebenfalls mit der Bahn losgeschickt:
riesige alte Reisekisten aus Großmutters Zeiten, die dann im Zelt gleich als
Kleidertruhen und Küchenvorratskiste dienten. Der Rest der Reise vom Bahnhof
ab erfolgte mit einem sogenannten „Gütertaxi“, das schon von zu Hause aus
bestellt worden war - eigentlich waren Gütertaxis für gewerbliche Fahrten
gedacht - und das nun spottbillig nicht nur die Familie, sondern auch das
gesamte Gepäck zum Zeltplatz brachte. Am Ende des Urlaubs erschien das
Gütertaxi wieder und alles lief umgekehrt. In späteren Jahren gab es auch eine
Gepäckstelle der Bahn direkt auf dem Zeltplatz, weitab von jedem
Schienenanschluss, oder man schickte sein Gepäck an eine extra auf dem
Zeltplatz eingerichtete Saison-Poststelle.
Dann suchte man
sich seinen Zeltplatz zwischen den Bäumen und baute die Zelte auf.
Anfänger-Fehler bei der Standortwahl wurden nachdrücklich bestraft. Meine
Eltern hatten im ersten Zelturlaub eine lauschige Vertiefung im Wald
ausgewählt, um sich vor Wind zu schützen. Als es dann schon in der ersten Nacht
heftig regnete, lief die Kuhle voll Wasser, die Luftmatratzen und das ganze
Inventar soffen einfach ab!. Wir hatten anfangs noch
einfache Hauszelte mit schrägem Dach. Dadurch waren die Unterkünfte nicht nur
niedrig und nur im Hocken, Kriechen oder Sitzen zu bewohnen, sondern man musste
bei Regen auch ständig Acht geben, die Dachteile nicht zu berühren, weil sonst
sofort an der Innenwand die Tropfen zu laufen begannen. Wenn nachts heftige
Gewitter aufzogen, sprangen manchmal auch nackte Männer im strömenden Regen
mit dem Spaten herum und gruben schnell noch rund um die Zelte Gräben für den
Wasserabfluss.
Im Vorraum des
Zeltes wurde eine „Küche“ eingerichtet. Gekocht haben wir in den ersten Jahren
mit Brennspiritus; das erwies sich als ein windanfälliges und langwieriges und
teures Unternehmen: je Mahlzeit wurde 1 Liter Sprit benötigt. Später kochten
wir mit Propangas. In der Nähe des Zeltes wurde mit dem Spaten ein Loch
gegraben, die sandigen Wände mit Brettern gegen Einsturz gesichert und das Ganze
mit einem Deckel verschlossen – das war der „Keller“ für Butter oder Gemüse
und Getränke. Wasser war ein kostbares Gut. Es musste im „Wassersack“ – das war
ein Fünf-Liter-Gummibeutel mit zuschraubbarer Einfüllöffnung und einem Hahn
zum Auslassen - oder in Eimern zu Fuß geholt werden, von einem (wirklich einem
für den ganzen Zeltplatz) Wasserleitungshahn, der auch noch mehr als einen
Kilometer von den Zelten entfernt war; einige Jahre später gruben Hunderte
Urlauber freiwillig den Graben für eine neue Wasserleitung, die von da an näher
am Zeltplatz sprudelte. Der Wassersack hing neben dem Zelt an einem Gestell aus
Brettern und Ästen, in dem auch Zahnputzbecher und andere Utensilien zu finden
waren – das war der „Waschplatz“. Zu ihm gehörte auch ein zweites Loch, das
als Ausguss, Spuck- und Sickergrube diente.
Mancherlei
Hocker, Stühle, Campingtische und Regale wurden mit verschickt und leisteten vor
und in den Zelten gute Dienste. Die Leute waren erfinderisch. Ein Bekannter
z.B. stellte seinen Autoanhänger hochkant hinten ins Zelt und baute Regalböden
ein. Ich schickte jedes Jahr - für 60 Pfennige Porto hin und wieder zurück, und
damit´s ein ordentliches Paket war, mit einer Schnur drumherum - per Post eine
nackte große Holzplatte auf den Zeltplatz, aus der wir einen großen
Familientisch bauten.
Zur Erledigung
kleiner und großer „Geschäfte“ gingen traditionsbewusste Camper auch Anfang der
1960er Jahre noch mit dem Spaten in den Wald. Inzwischen war aber schon
hygienischer Fortschritt eingezogen. Weiter hinten zwischen den Bäumen standen
nun einfach gezimmerte Holzbuden, die – in Einzelkabinetten und hinter Türen
geschützt – Platz für mehrere erleichterungsbedürftige Menschen boten. Diese
großen „Kisten“ waren nach unten offen und standen über Gruben, in die nun
alles plumpste. In die Gruben wurde mehrmals täglich Chlorkalk gestreut, was
den Besucher zu kurzem tränenreichem Aufenthalt zwang, aber vor allem den
krabbelnden Fliegenmaden das Leben schwer machte und somit der Hygiene
dienlich war.
Auch der
Zelt-Urlauber musste essen und trinken. Zur Versorgung gab es in den ersten
Jahren einen (!) Kiosk auf Rädern, in dem man Milch und Brötchen erwerben
konnte, aber nur, wenn man zeitig genug – eine Stunde vor Verkaufsbeginn - in
der Schlange stand, und wenn das Lieferfahrzeug dann auch wirklich kam. Es
gab auch Brathering, Letscho, Dosenbohnen, Weißkraut, Schnaps und noch einige
andere Sachen, wirklich das Notwendigste für den täglichen Bedarf. Satt
geworden sind wir immer. Später wurde eine richtige Kaufhalle errichtet, es gab
ein Kino, einen Fischstand, manchmal lockte Brathähnchenduft.
Zur Beleuchtung für Lesen und Klogang dienten uns
Petroleumlampen (Baustellenlampen) oder Windlichte, Kerzen, die zum Schutz
gegen Wind in alten Marmeladengläser gestellt wurden.
Im Laufe der Jahre wurde der Zeltplatz zu einem zweiten
Zuhause. Wir gehörten immer mehr „dazu“. Man (er-)kannte die Nachbarn zur
Rechten und zur Linken, die jedes Jahr wieder an ihrem Lieblingsplatz wohnten,
die Kinder spielten zusammen, gemeinsame Feste wurden gefeiert.
Es ging wieder
einmal an die Ostsee. Diesmal wollten wir, ein Klassenkamerad und ich, mit dem
Fahrrad hinfahren. Und damit es nicht ganz so weit war, nutzten wir für die
ersten 200 Kilometer eine Mitfahrmöglichkeit mit einem Kinderferientransport
per Bahn in die Nähe von Berlin. Unsere Räder hatten wir parallel als Gepäck
der Reichsbahn anvertraut. Nun warteten wir in Vorurlaubsstimmung in Bad
Saarow – Pieskow –Süd, badeten im Scharmützelsee und fragten immer mal auf dem
Bahnhof nach unseren Rädern. Das meines Freundes war sofort da, mein Fahrrad
aber blieb verschollen. Nach einer Woche in gelangweilter Nervosität und
angesichts von unergiebigen amtlichen Suchmeldungen blieb uns nichts anderes
übrig, als mit der Eisenbahn Richtung Ostsee aufzubrechen.
Dort war dann
normaler Urlaub, die Sache mit den Fahrrädern war erst einmal weit weg gerückt.
Dann aber fuhr ein Teil meiner Familie an einem Regentag 60 Kilometer weit nach
Stralsund, um dort ein Museum zu besuchen, einzukaufen usw. Man kam zufällig
am Bahnhof vorbei, mein Bruder besichtigte neugierig eine große Ansammlung von
Fahrrädern, die dort zur Verschickung bereitstanden, und er entdeckte DORT, wo
es eigentlich nichts zu suchen hatte und gar nicht sein KONNTE, mein Fahrrad!
Ich wollte
Chemie studieren. Davor war noch eine Hürde zu nehmen: die Aufnahmeprüfung.
Also wurde zu Hause noch einmal intensiv der Schulstoff gebüffelt, dann kam
eine bang-lange Bahn-Fahrt ins fremde unbekannte Dresden. Und dann fand dort
ein Gespräch als Eignungstest statt, das mir deutlich machte, dass es zwischen
auswendig gelernten Merksätzen und dem Zurechfinden in der wirklichen Welt der
Wissenschaft noch manches zu klären gab. Ich wurde nämlich nicht ab-gefragt,
was ich gelernt haben hätte müssen können. Ich wurde mit Problemen
konfrontiert, denen ich ganz sicher noch nicht begegnet war. Man wollte sehen,
ob und wie ich damit kreativ umgehen könnte. So hatte ich zwar auswendig
gelernt, dass man zum Beispiel Nitratverbindungen mit Diphenylamin als
Indikator nachweisen kann, nun aber musste ich mich live – und vor Zeugen - an
die chemische Struktur dieses Stoffes heranraten. Ich wurde auch gefragt, was
hinter dem Satz stehe, der in der Beurteilung in meinem Schul-Zeugnis zu lesen
war: „K. ist nicht Mitglied der FDJ.“ Farbe bekennen, Argumente sagen ...
Ich kriegte
meine Zulassung und war nun Student. Und ich war in Dresden.
Dresden war 1965 noch immer in weiten Teilen zerstört. Im „Stadtzentrum“
zwischen Hauptbahnhof und Altmarkt befand sich eine staubige leere Sand- und
Trümmerwüste, durch die eine Straßenbahnlinie quietschte, vorbei an einem
einsamen kleinen Hotel.
Unser Studium lief in weiten Teilen noch wie Schule ab. Es
gab Studienpläne, die Semester für Semester vorschrieben, welche Disziplinen
und Vorlesungen und Seminare in welcher Reihenfolge absolviert werden mussten.
Das hatte den Vorteil, dass die Vermittlung solider Grundkenntnisse am Anfang
stand und Kürübungen später kamen. Es gab eine festgelegte Studienzeit, in der
man seine Bemühungen an ein schnelles Ende zu bringen hatte. Chemie zu
studieren war gleich von Anfang an ein ziemlicher Gewaltakt. Von Montag früh 7
Uhr an war das Labor geöffnet, und so an jedem Tag bis spät abends, auch
sonnabends, da allerdings nur bis mittags. Man begriff sehr schnell, dass es
überlebensnotwendig war, auch wirklich jede „freie“ Viertelstunde zwischen
Vorlesungen und Seminaren dort zu verbringen. Wir lernten noch richtig handfest
Analysen zu machen, ohne irgendwelche hochtechnologischen Gerätschaften, nur
mit Reagenzglas, Tinkturen, Bunsenbrenner und Papierfiltern, und wir mussten
komplexe Substanzen nach Auftrag zusammen„kochen“. Knallharte Prüfungs-Kolloquien
zwischendurch mit Durchfallquoten von manchmal 100 Prozent zeigten uns, welche
Differenz noch zwischen unserem bescheidenen Erkenntnisstand und dem Nobelpreis
lag. Der Stress führte dazu, dass nach dem ersten Jahr die Hälfte der
Mitstudenten die Segel gestrichen hatte.
Wie die meisten
Studenten bekam ich - obwohl ich doch Pfarrerssohn war - ein staatliches Stipendium.
Das waren 140 Mark monatlich. Wie fast alle „Neuen“ wohnte ich zunächst in
einem neu gebauten Studentenwohnheim, spartanisch mit Doppelstockbett, aber
o.k., das Ganze für 10 Mark Miete im Monat. Im Sommer flogen wir Studenten für
8 Wochen raus aus dem Heim, dann wurde es an devisenträchtige West-Touristen
als Hotel vermietet. Mittagessen gab es zu sehr studentenfreundlichen Preisen
in der Mensa, die auch abends noch nahrhafte Angebote für Labor-Spätarbeiter
bereithielt. Eine Zugfahrt über 220 Kilometer von meinem Heimatort nach Dresden,
hin und zurück, kostete ermäßigt 4,60 Mark; so viel bzw. wenig habe ich auch
später noch als Berufstätiger für eine „Arbeiterrückfahrkarte“ bezahlt.
Unser Studium
begann im Herbst 1965 nicht im Vorlesungssaal, sondern in der Wirklichkeit. Der
Sieg des Sozialismus verlangte einen studentischen Ernteeinsatz. Und so
lernten wir die zukünftigen Studienkollegen beim Skatspielen
im Sonderzug kennen. Der strandete irgendwo in Mecklenburg. Vier Wochen lang
sahen wir nur nieselberegnete Kartoffeln. Geschlafen wurde in feuchten Massenquartieren.
Wir waren in Norddeutschland, und so gab es viel Schnaps.
Zwischendurch war eine Wahl in der DDR angesetzt. Wir alle waren „Erstwähler“.
Ein Bus kam zu uns aufs Feld, die Arbeit wurde kurz unterbrochen, wir stellten
uns alle vor der Vordertür in einer Reihe an, stiegen ein, es folgte die
Ausgabe der Wahlzettel. Eine Wahlkabine, nach der Neugierige Ausschau hielten,
war nicht zu sehen. Unter freundlicher Kontrolle universitärer Politniks
erfolgte der Einwurf der – unveränderten - Zettel in die Wahlurne. Das ganze
Verfahren hieß: „Offene Stimmabgabe für die Kandidaten der Nationalen Front“.
Dann ging´s hinten raus und wieder aufs Feld zu den Kartoffeln. Etwas gemischte
Gefühle blieben angesichts von so erlebter „Demokratie“.
Gearbeitet wurde
„nach Leistung“. Für einen Korb eingesammelter Kartoffeln gab es 10 Pfennige.
Nach vier Wochen reichte das verdiente Geld bei mir für den Kauf des - heiß
ersehnten - Plattenspielers. Der letzte Schrei hieß „Stereo“ – das musste er
können! Und die erste Platte, die ich mir gekauft habe, war dann eine
klassische Scheibe, weil´s nur da Stereo-Aufnahmen gab. Das war zwar eigentlich
gar nicht meine Welt, aber so entdeckte ich völlig neue (musikalische) Welten.
Studieren heißt
ja, sich mit Eifer zu bemühen. Manchmal war das doch ziemlich anstrengend, und
dann kam der Wolf-Dietrich aus dem Nachbarzimmer zu mir und meinte, dass nun
genug studiert sei - oder, wenn er es vergaß, ging ich eben zu ihm-, und dann
schlenderten wir hinaus in den lauen Abend, stiegen am Bahnhof in die
Straßenbahn, setzten uns auf das Treppchen in der offenen Tür des Waggons und
zündeten unsere Zigarren an. Andächtig bliesen wir Ringelwölkchen zur Straße
hinaus, und ich kann mich noch an das erschreckte Gesicht eines Autofahrers
erinnern, der beim Anfahren an der Haltestelle plötzlich zwei Zigarren-paffende
Gesichter auf Augenhöhe neben sich hatte. Die Fahrt endete ein Viertelstündchen
später am „Großen Garten“, einem Park. Dort stand an einem kleinen See „der
Baum“, unser Baum, dessen Äste sich flach ausbreiteten, und auf denen wir dann
stundenlang - mit und ohne Zigarre - lagen und über Gott und die Welt
spekulierten.
Im ersten studentischen Sommer habe ich auch Lesen neu
entdeckt. In der Schule hatte ich nach und nach verlernt, von Büchern noch
etwas zu erwarten. Zu lange hatten wir Gedichte bis zum Erbrechen kaputt-analysiert,
uns unter allen nur denkbaren Blickwinkeln mit den Schicksalen von Leuten
beschäftigen müssen, deren Probleme so überhaupt nicht die unseren waren ...
Jedenfalls hatte ich lange kein Buch mehr freiwillig in die Hand genommen. Und
dann lagen wir Chemiestudenten auf dem schattigen Gras im Hof unseres
Instituts, und der lange M. kramte ein Buch hervor und las daraus vor. Nie
gehörte Dinge erheiterten mein Studentengemüt, die Galgenlieder von
Morgenstern, Menschlichkeiten von Eugen Roth, Kuddeldaddeldu-Geschichten von
Ringelnatz - und das alles war so herrlich verrückt und neu. Ich lieh und las
und lernte – manche der Gedichte kann ich heute noch auswendig aufsagen.
Mein Lesetrieb
wurde auch durch andere Impulse neu angestachelt. Über Weihnachten war ich zu
Hause gewesen. Meine Mutter hatte von einer Schulfreundin aus dem Westen ein
Buch geschenkt bekommen. Es war ein Roman – puhhh! Aus Langeweile blätterte ich
am letzten Urlaubstag darin, und las mich fest und las und las in einem Ritt
bis ans Ende - fast hätte ich den Zug verpasst. Es war der Roman „Homo Faber“
von Max Frisch, der mich gepackt hatte. Er passte gerade in meine Lebensphilosophie,
weil er gar nicht dazu passte. Ich war gerade so was von cool und rational, und
was nicht vernünftig, wissenschaftlich, erklärt werden konnte und wo vielleicht
gar Staunen oder Gefühle oder so was eine Rolle spielen sollten, erschien mir
höchst verdächtig und überflüssig fürs Leben. Ich habe in der Folge alles von
Max Frisch verschlungen und mit ihm über Identität nachgedacht. Ich fing an,
auch all die absurden Dramen seines Schweizer Landsmanns Friedrich Dürrenmatt
zu lesen, ich kaufte mir Theaterkarten. Die Welt war wieder ein Stück größer
geworden.
Sturz-besoffen
Ich
war mit meinem Sakko - mit eingewebten Glitzerfäden! - und mit Schlips in der
Stadt zu Tanze gewesen. Es gab Bier (gegen den Durst) und Wermut-Wein (wegen
der Damen), beides offenbar reichlich. Ich war mit Mutters Moped da. Am Ende
der Veranstaltung schwang ich mich stolz auf das Ross und raste beschwingt
nach Hause. Lustig sprang ich über Schlaglöcher und umkurvte die Steine. Bis es
plötzlich mörderisch krachte. Das Moped fuhr noch. Einiges tat weh. Erst nach
einer Weile merkte ich: Die Brille war weg; und als sie gefunden wurde, fehlten
die Gläser. Zu Hause versuchte ich mich in die Wohnung zu schleichen, aber die
Mutter stand schon im Flur. Sie guckte ängstlich, ich auch, als ich mich im
Spiegel sah und auch der Rest der Schäden offenbar wurde: die „gute“ und
einzige (West-)Hose war zerfetzt, darunter am Knie klaffte eine tiefe
Schürf-Wunde. Es dauerte einige Wochen, bis ich wieder fit war, und als
Erinnerung habe ich eine Penizillinallergie behalten.
Chemie ist
das, was kracht und stinkt ... (I)
Im
anorganischen Grundpraktikum standen wir jeden Tag stundenlang im Labor. Jeder
hatte sein Hand-Regal vor sich stehen, in dem in Dutzenden kleiner Fläschchen
die verschiedensten Säuren und Basen, Lösungsmittel und Indikator-Substanzen
für den alltäglichen Gebrauch enthalten waren. Überall im Laborraum gab es
Regale voller weiterer Gläser und Ampullen mit Stoffen, die seltener benötigt
wurden. Dazu noch Schutzbrille, Bunsenbrenner, Trichter und Filter, Lötrohr,
Reagenzgläser, Kolben und Kühler – viele Glasgeräte lernten wir nach und nach
selbst zu „blasen“ und zu reparieren.
In der ersten Runde machten wir mit den Substanzen Versuche nach einem streng
vorgegebenen Schema, protokollierten die Beobachtungen und versuchten dann im
Studierstübchen oder in der Bibliothek herauszufinden, was da in Gläsern und
Kölbchen passiert war und wie sich das theoretisch erklären ließ. Wenn man sich
fit fühlte und meinte, nun aber wirklich alles verstanden zu haben, meldete man
sich zu einem „Kolloquium“ an. Da saß uns dann einer der wissenschaftlichen
Assistenten gegenüber und fragte und fragte – und die in der Regel zwei
Studenten am Tisch begriffen so nach und nach, dass sie noch gar nichts
verstanden hatten. Durchgefallen! Also wieder zurück zu den Büchern, ein paar
Tage später gab es eine zweite Chance. Aber inzwischen lief die Zeit weg!
Denn erst, wenn das „Koloq“ bestanden war, konnte Runde 2 beginnen. Es gab
einen Extra-Raum mit vielen Fächern in einem Regal. Und dort stand nun ein
Schälchen mit Namensschild des jeweiligen Studenten, und darin waren manchmal
kristallene Substanzen zu erkennen, manchmal hatte der Assistent sie aber
„netterweise“ auch schon im Mörser zerrieben, und manchmal war das Ganze auch
schon in „suppiger“ Konsistenz, weil der Assi „freundlicherweise“ etwas
Wasser dazugekippt hatte oder weil manche Substanzen auch sehr schnell Wasser
aus der Luft aufnehmen. Die genaue chemische Zusammensetzung dieser
unbekannten Mischung galt es nun aufzuklären. Es konnten alle chemischen
Elemente enthalten sein, die in diesem Abschnitt behandelt worden waren - plus
alle aus den bereits früher abgeschlossenen Kapiteln. Wenn also z.B. unter
anderem Schwefel das Thema war, konnte nun elementarer Schwefel drin sein oder
Sulfide oder Sulfite oder Sulfate, und davon gab´s ja nun auch noch lösliche
(jedenfalls in bestimmten Lösungsmitteln) und unlösliche Salze der
verschiedensten Art. Man sah sich die Substanz also erst einmal an. Manche
typischen Kristallformen gaben unter dem Mikroskop schon wichtige Hinweise. Ein
andermal half Schnuppern weiter. Manche Substanzen gaben von
selbst charakteristische Gerüche ab, andere „dufteten“ erst nach Zugabe
von Säuren. Dann kam die Flammenprobe: Ein Krümel wurde in die Flamme des
Bunsenbrenners gebracht; wenn die Flamme sich färbte – etwa violett oder grün
oder rot – konnte man daraus erste Schlüsse ziehen. Gelbes Leuchten konnte
bedeuten, dass Natrium in der Substanz war. Weil aber Spuren von Natrium -
z.B. aus dem salzigen Handschweiß - eigentlich überall vorhanden waren, kam
man da leicht auf eine falsche Fährte! Weiter wurden Lösungen hergestellt -
von den Substanzen, die sich auflösen ließen; andere versuchte man durch
Zugabe von Säuren oder Basen oder Ammoniak usw. in Lösung zu bringen. Zu den
klaren Lösungen wurden tröpfchenweise Substanzen zugegeben, diesmal aber, um
unlösliche Verbindungen herzustellen, die in charakteristischer Weise und
eventuell auch mit typischer Färbung „ausflockten“ oder „ausfielen“, also zu
Boden sanken.
Langsam
tauchten Vermutungen auf, was nun „drin“ sein konnte. Es galt, die genauen
chemischen Kombinationen anzugeben, also wenn Sulfit und Natrium und Barium
und Jodid gefunden wurden – war das nun ursprünglich Natriumsulfit oder
Natriumjodid gewesen? Irgendwann wurde Mut gefasst, das ermittelte Ergebnis in
das persönliche Protokollbuch eingetragen und das Heft ins
Analysen-Ausgabe-Regal gelegt. Zitternd ging man am nächsten Tag in den
Analysenraum. Dort fand man entweder ein neues Schälchen, das bedeutete: Falsch
geraten! Und damit ging alles wieder bei Null los, denn in der Schale war nun
eine völlig andere Stoffmischung, die es zu enträtseln galt. Oder es fand sich
eine bestätigende Unterschrift im “Sudelbuch“, und das bedeutete, dass man mit
den Versuchen für das nächste Themengebiet beginnen, dann zum „Kolloq“ antreten,
dann die Analysen zu diesem Kapitel „auflösen“ durfte ...
Zum Abschluss des nervigen ersten Laborjahres, bei dem viele Mitstudenten nach
ständig verfehlten Analysen und zu wiederholenden Prüfungsgesprächen aufgaben,
kam die „große Analyse“. Da konnte zur Krönung nun grundsätzlich jede
Substanz drin sein, mit der wir uns in diesem Jahr mal beschäftigt hatten. Da
waren auch besondere Bösartigkeiten möglich. Ich erinnere mich an einen
Kommilitonen, der zwei Wochen lang verzweifelt suchte und suchte und nur ein
Element fand: Natrium. Natrium? Das war aber praktisch sowieso immer da ... Er
schrieb verzweifelt seine Vermutung auf: „Natriumoxid“ - und es war richtig!
Es gab noch eine zweite Art von Analysen, und da ging es um Mengen. Man bekam
z.B. ein Reagenzglas mit der Mitteilung, darin sei ein Eisensalz gelöst. Und
nun sollte man rauskriegen, wie viel Eisen da drin war. Erst einmal wurde das
Eisensalz vorsichtshalber zur 3-wertigen Stufe oxidiert. Es konnte ja auch ein
zweiwertiges Eisensalz sein, und das war schlechter zu „fangen“. Durch Zugabe
von Ammoniaklösung wurde das Eisen - genauer war es natürlich
Eisen-III-Hydroxid - als dicker brauner Schlamm sichtbar. Der Schlamm wurde in
einen Trichter gegossen und durch ein Filterpapier abgetrennt. Das Filterpapier
wurde getrocknet und „verascht“ (= verbrannt), übrig blieb Eisenoxid, das
anschließend gewogen wurde. Spezielle Waagen in einem besonderen Wägezimmer
machten das mit einer Genauigkeit von Tausendstel Gramm möglich. Dann musste
noch die Masse der Filterasche abgezogen werden (die stand auf dem Filter
drauf), und wenn man nun noch seinen persönlichen „Sudelfaktor“
berücksichtigte, hatte man mit etwas Glück die Menge ermittelt, die sich auch
der Assistent notiert hatte.
Auch für einen
Studenten in der DDR brachte das 1968er Jahr eine politisch aufregende Phase.
Auch bei uns und in uns gärte es. Prag war von Dresden nur zwei Zugstunden entfernt.
Der Prager Frühling steckte an. Mit Freunden bin ich 1968 dreimal in die
Goldene Stadt gefahren. Die Grenzüberfahrt brachte auch eine interessante
Erfahrung: Ich war zum ersten Mal „draußen“ aus dem geschlossenen System „DDR“.
An der Moldau
hatten wir nächtelange Diskussionen mit tschechischen Studenten. Überall
herrschte spürbar Aufbruchsstimmung. Auf den Straßen erlebten wir erstaunt offene
politische Diskussionen, wie im Londoner Hyde-Park stiegen Leute auf Kisten und
verkündeten ihre Ideen. Überall sahen wir in neugierige und erwartungsvolle Gesichter.
Das alles musste doch auch bei uns möglich sein!
Auf einem
nächtlichen Spaziergang hatte ich ein bedrückendes Erlebnis. Ein Stück vor uns
pinselten Jugendliche etwas auf das Straßen-Pflaster der Karls-Brücke. Beim
Näherkommen lasen wir: „smrt kommunistam“. Unser fragender Blick wurde mit
einer eindeutigen Geste beantwortet: Hand am Kehlkopf entlang; Kopf ab! - Tod
den Kommunisten!
Ein paar Wochen
später standen sowjetische Panzer auf dem Prager Wenzelsplatz! Wut, Trauer,
ohnmächtiger Protest. Ich trug fortan einen von meiner Schwester gestrickten
Schlips in den tschechischen Nationalfarben, die Manschettenknöpfe am Hemd
waren gelötet aus tschechischen Kronen-Münzen. Einen verzweifelten
Solidaritätsbrief an meinen Prager Freund Jindra fing die Stasi ab und heftete
ihn in meine Akte.
Zu Beginn
meines zweiten Studienjahres zog ich aus dem Wohnheim aus, der Ruhe wegen, und
weil das erwachsener war. Meine Wirtin hieß Frau Helbig. Sie war Invalidenrentnerin
und bekam 120 Mark Rente im Monat. Von mir kriegte sie 40 – davon konnte sie
gerade ihre eigene Miete bezahlen. Mein Zimmer war bestückt mit Bett und
Schrank und Sessel und Ofen und Tisch, auch besaß es eine Nasszelle, bestehend
aus Waschschüssel und Wasserkrug. Dort wurde ich in den nächsten vier Jahren ersatzmütterlich
umsorgt und manchmal auch bekocht. Gratis war die laute Volksmusik aus dem
Radioapparat nebenan in der Küche, die jeden Abend lief, aber ich setzte mich
in meinen Sessel mit übergestülpten Kopfhörern und dröhnte mich mit „meiner“
Musik voll.
Frau Wirtin
lebte spartanisch. Sie kaufte sich montags 100 Gramm Fleisch, das wurde am
ersten Tag gekocht und davon eine Suppe gegessen, dienstags war das Fleisch
selbst dran, und für Mittwoch blieben immer irgendwelche „Reste“. Himmlisch
waren ihre Kartoffelpuffer, die in dieser ganz besonderen Ausführung nur
möglich waren, weil sie gebraten wurden in einem Tiegel, den ihr Vater selbst
geschmiedet hatte.
Zu meinen
Pflichten gehörte es, winters jeden Tag vier Eimer Braunkohlebriketts aus dem
Keller in den zweiten Stock zu tragen.
Zum Abschied
nach vier Jahren Wohngemeinschaft schenkte mir „meine Wirtin“ eine in
wochenlanger Handarbeit gestickte Weihnachtsdecke.
Chemie ist
das, was kracht und stinkt ... (II)
Chemie zu studieren,
war auch ein Abenteuer. Ständig hatten wir mit Substanzen zu tun, die nicht
nur interessant, sondern auch gefährlich waren; selbst Zyankali war frei
zugänglich. Aber da wir die Chemikalien jeden Tag in der Hand hatten, stumpfte
manchmal die Wachsamkeit ab.
Mein Hauptfeind
war Schwefelsäure. Sie sorgte nicht nur für gelblich-braune Flecken auf unseren
Laborkitteln, sie fraß auch Löcher hinein. Schlimmer aber: Schwefelsäure fraß
besonders effektiv Löcher in Blue-Jeans aus dem Westen. Schon ein kleiner
Spritzer genügte – und die Hose war hin!
Wir sahen mit
unseren gefleckten Kitteln nicht nur abenteuerlich aus, wir rochen auch
manchmal, und das nicht nur im Labor. Im Fach organische Chemie musste ich
einmal für meinen Betreuer, der das Zeugs für seine Doktorarbeit brauchte,
kilogrammweise Mercaptane herstellen. Das sind Stoffe, die schon in geringsten
Mengen bestialisch stinken, man denke etwa an verwesenden Kohl und faule Eier
in einem ungelüfteten Klo. Und genauso roch ich nun auch, ohne das jedoch selbst
noch wahrzunehmen. Als ich in den öffentlichen Bus einstieg, um ins Wohnheim zu
fahren, wurde ich von empörten Fahrgästen kurzerhand auf die Straße gesetzt.
Ein andermal
„kochte“ ich mit drei Kollegen „Präparate“, und weil wir dabei mit -
feuergefährlichem und hochexplosivem - Äther zu tun hatten, geschah das in
einem besonders gekennzeichneten und gesicherten „Äther-Raum“. In diesem Raum
gab es keine Flammen. Um Reaktions-Gefäße auf die erforderliche Temperatur zu
erhitzen, wurden Wasserbäder benutzt. Jedenfalls standen wir da und kochten so
vor uns hin, als in der Nähe der einzigen Tür eine Stichflamme in die Höhe
schoss. Äther wurde mit Natriummetall getrocknet, und Natrium und Spuren von
Wasser – das zündet eben manchmal. Jetzt hätte es eigentlich richtig krachen
können, aber zum Glück geschah das nicht. Wir wären gern weggerannt, aber der
Fluchtweg führte an der Flamme vorbei. Panische Erstarrung allerseits. Ich
beschloss, dass irgendwas passieren musste, nahm das brennende Glasgefäß in die
Hand, öffnete die Tür und trug die Flamme – mit steif-gestreckten Armen so
etwa wie ein olympisches Feuer – langsam durch den Gang des Instituts hinaus
ins Freie und warf den Kolben dort auf die Wiese. Es war keine Heldentat gewesen,
mehr ein Reflex fürs Überleben. Erst nach dem Schock merkte ich, dass ich
ziemlich böse Brandwunden hatte. Aber immerhin stand das Institut noch.
Eine Substanz
hatten wir bei den anorganischen Analysen ständig im Gebrauch: Schwefelkohlenstoff,
eine etwas penetrant nach Rettich riechende, interessant das Licht brechende,
aber auch sehr gut brennbare Flüssigkeit. Es gab wegen der Feuergefährlichkeit
natürlich eine Vorschrift, nämlich die Reste in gesonderten Behältern zu
sammeln, aber in der Hektik des Laboralltags wurden immer wieder auch
Reagenzgläser mit dem Lösungsmittel im normalen Ausguss „entsorgt“. Und das
kam wohl häufiger vor. Jedenfalls – so ergab die spätere Aufklärungsaktion –
hatte jemand wieder einmal Reste von metallischem Natrium in den Ausguss
gekippt, Wasser, Knallgas usw., das kleine Feuerchen krabbelte den Ausguss hinunter,
fand in den Tiefen der Kanalisation reichlich Schwefelkohlenstoff vor, und so
gab es eine heftige Explosion, bei der überall im Institut die Gullydeckel
herausflogen.
Überhaupt: die
Vorschriften und der Schlendrian. Einmal musste ich, um eine Substanz herzustellen,
mit Brom arbeiten. Als reines Element ist das eine braune Flüssigkeit, die
leicht verdampft und giftig und gefährlich ist für die Schleimhäute. Also
lautete die Vorschrift im Umgang damit, Gummi-Handschuhe zu tragen und immer
unter der Abzugshaube zu arbeiten, damit die aggressiven Dämpfe nicht
eingeatmet werden. In der Hektik waren trotzdem bereits einige gelb-braune
Ätz-Flecken auf meiner Haut entstanden. Eines Tages musste wieder eine
bestimmte Menge Brom abgemessen werden, und ich nahm eine Pipette zur Hand, um
die entsprechenden Milliliter der Brühe abzumessen. Zum Ansaugen war ein
Gummiballon vorgeschrieben, aber ich saugte die Luft einfach mit dem Mund an.
Ich habe nicht flüssiges Brom in die Luftwege bekommen, es waren „nur“
Bromdämpfe, die meine Schleimhäute abbekamen. Aber das war eine echt „reizende“
Geschichte, mit deren Nachwirkungen ich noch lange zu tun hatte.
Auch ein
andermal ging es um Düfte, aber da waren sie meine Rettung. Im Praktikum
Organische Chemie war eine Aufgabe, am eigenen Arbeitsplatz mit einfachen
Gerätschaften und in kleinsten Mengen - Halbmikro-Maßstab hieß das, es ging um
Grammmengen des Endprodukts - komplizierte Substanzen aus einfachen Ausgangsstoffen
in mehreren Reaktionsstufen herzustellen. Bei mir ging es um 1 Gramm Bromhexin
- das kennen viele vielleicht als aromatische Substanz, die bei Erkältungskrankheiten
auf Zucker geträufelt und geschluckt wird. Der erste Schritt führte in die
große Bibliothek. Dort galt es, in dicken Nachschlagewerken ein
Herstellungs-Verfahren zu finden, mit dem früher schon einmal jemand
erfolgreich Bromhexin hergestellt hatte. Ich fand ein „Kochrezept“, dem zufolge
ich in acht Stufen nacheinander zu Bromhexin gelangen sollte. Der Assistent
akzeptierte das Verfahren, ich durfte grammgenau die Mengen der
Ausgangssubstanzen bestellen, die nach der Theorie benötigt wurden, und dann
ging´s los mit Lösen und Kochen und Destillieren und Bromieren über die acht
Stufen. Die Substanzmengen wurden immer geringer, die Gerätschaften zur
Verarbeitung immer zierlicher. Am Ende, oh Glück, befand sich in der Spitze eines
kleinen Kölbchens der begehrte Stoff, ein Tropfen nur, aber immerhin. Das Gefäß
ward sicher im Laborschrank aufbewahrt, denn nun kamen erst einmal Ferien.
Zwei Wochen später wollte ich mein Produkt stolz dem Assistenten präsentieren.
Als ich aber den Schrank öffnete, war wohl das Kölbchen noch da, nicht aber
mein Bromhexin. Es war nicht gestohlen, aber schlicht verdampft - trotz Verschlussstopfen;
jetzt verstand ich erst richtig, was eine „leicht flüchtige“ Substanz ist. Der
Assi meinte: „Sie haben jetzt nur eine Chance“, öffnete das Gefäß, roch daran –
und ich bekam für ein noch vorhandenes Duftwölkchen mein Testat.
Wenn Studenten
in der DDR mal originell oder spaßig sein wollten, konnte das böse Folgen haben.
Jedes Jahr fand
der „Chemiker-Ball“ statt, ein Tanz- und Trink-Ereignis, das nach erprobten
Spielregeln vorbereitet wurde. Die Leute vom jeweils zweiten Studienjahr waren
dafür zuständig, dass organisatorisch alles klar ging mit Musik und
Verpflegung, dass die übrigen Fachrichtungen - vor allem die Damen - davon
erfuhren, dass alle wichtigen Leute aus dem chemischen Umfeld persönlich
eingeladen wurden, und sie hatten dafür zu sorgen, dass es eine Ballzeitung und
ein selbstgestaltetes Bühnenprogramm gab, möglichst mit viel Feuerwerk.
Die Leute vom Jahrgang ein Jahr vor uns hatten eine – ihrer Meinung nach
blendende – Idee. Sie wollten, auch zur Aufbesserung der Semester-Feier-Kasse,
eine Tombola veranstalten. Und damit es da attraktive Angebote gab, schrieben
sie an Hochschulen und Chemiefirmen in „Westdeutschland“, schilderten ihr
Anliegen und baten um Sachspenden z.B. in Gestalt von - für uns im Osten schwer
erreichbaren und unmäßig teuren - Fachbüchern, Kleingeräten, Chemikalienproben
usw. Die Briefe waren raus, aber nun bekam „die Partei“ davon Wind. Ein
Tribunal wurde inszeniert, bei dem die „Rädelsführer“ sich zu rechtfertigen
hatten. Wie hatten sie es wagen können, solche „Bettelbriefe“ an den
„Klassenfeind“ zu schicken, der nun wohl meinen müsse, Studium in der DDR sei
ohne Westhilfe nicht möglich. Wer ihnen den Auftrag dazu erteilt habe ...
Alles Erklären nützte nichts, die Ertappten wurden öffentlich gebrandmarkt,
einige Reuige durften - unter besonderer Aufsicht und sicher mit mancherlei
Erpressungen - weiter studieren, für Unbelehrbare erfuhr der Studiengang erst
einmal eine Unterbrechung und sie gingen „zur Bewährung in die Volkswirtschaft“
- Arbeiter zu werden war im „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ eine Strafe!
Kurze Zeit später gab´s einen zweiten Eklat, der als
„SNOP-Affäre“ in die Annalen einging. Wir wohnten im Wohnheim auf zwei
gegenüberliegenden Korridoren. Und die Mitstudenten auf der anderen Seite
hatten aus Ulk SNOP gegründet, eine „Studentische Nationale Oppositionspartei“.
Die Truppe machte allerlei närrische Aushänge und Aktionen im Wohnheim. z.B
stand an einer Zimmertür als Bewohner ausgeschrieben: „stud. chem. Paul Lenin“.
Der – eigentlich harmlose - Spaß währte nicht lange. Die Staatsmacht erfuhr von
dem schändlichen Treiben, und sie fuhr wie ein Blitz dazwischen. Es gab einige
strenge Verweise, auch wieder einige Exmatrikulationen „auf Bewährung“. Da
war´s nachträglich gut, dass wir auf der anderen Seite des Ganges nicht hatten
„mitspielen“ dürfen, sonst wäre mein Studentendasein wohl schon an dieser
Stelle zu Ende gewesen.
In meinen
Schüler- und Studentenjahren habe ich oft an Landstraßen und - verbotenermaßen
- auch an Autobahnen gestanden. Trampen hieß das Zauberwort, das auch längere
Reisen erschwinglich machte und Abenteuer, aber auch Unsicherheit bedeutete.
Ich war mit Familien unterwegs. Ich habe mit Dienstreisenden geplaudert. Sogar
in Testfahrzeugen bin ich mitgefahren: In Meerane wurde der „Trabant-Kombi“
gebaut, und ein Testfahrer, der ein Prototyp-Fahrzeug Zigtausende Kilometer
ohne Pause stressen musste, hat mich einmal gleich auf einen Ritt die 500
Kilometer bis zur Ostsee mitgenommen. Am anstrengendsten war das Mitfahren
hinten auf den leeren Ladepritschen von LKW; das ist sehr laut und auch
gefährlich, weil einen heftige Bremsungen oder Kurvenfahrten völlig unvorbereitet
erwischen. Einmal hielt am Berliner Ring das Dienstauto eines hohen russischen
Offiziers. Peinlich bleibt mir in Erinnerung, dass ich zwar eben zum Abi in
Russisch eine „1“ erhalten hatte, aber nun in aller Ernüchterung feststellen
musste, dass mir die einfachsten Worte für ein ganz normales Alltagsgespräch
fehlten. Und manchmal verging einem auch – mangels Erfolg - schlicht die Lust
am alternativen Reisen. Ich stand einmal fünf Stunden lang an der Ausfallstraße
in Stralsund, weil einfach zu viele den Daumen in den Wind hielten und in die
gleiche Richtung wie ich wollten. Nachts gegen vier kam ich dann endlich am
Autobahnkreuz bei Leipzig an, hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und als
dort jemand eine Zigarette anbot, habe ich sie gegen´s Verhungern geraucht
...
In meinem
Jahrgang hatte ein junger Mann, der einen Studienplatz ergattert hatte, das
Glück, zunächst dem Zugriff der „Nationalen Volksarmee“ zu entgehen. Wir
mussten nicht zur „Fahne“ - das Studium hatte Vorrang. Aber eben nur
grundsätzlich. Andere Fakultäten an unserer Uni machten während ihres Studiums
ein paar kurze Lehrgänge und hatten damit ihre Wehrpflicht erfüllt. Wir
beneideten sie darum, denn wir Chemiestudenten mussten zwar genau wie sie in
Reih und Glied antreten, aber uns wurde das nicht amtlich als Wehrdienst
angerechnet. Zweimal in den Sommerferien wurden wir zu einem GST-Lehrgang
zusammengetrommelt. GST hieß die „Gesellschaft für Sport und Technik“ – das war
eine paramilitärische Organisation, in der Technik-begeisterte Typen Tauchen,
Fliegen oder Orientierungslauf und Motorsport betreiben konnten. Wir bekamen
Uniformen, eine (Spielzeug-) Maschinenpistole, und dann übten wir: zeitig
aufstehen, Fahnen-Hissen, Waschen im Freien, Exerzieren auf dem Appell-Platz,
Marschieren mit Kompass und Karte durch den Wald, Schießen, Anschleichen usw.
Die Gruppe, die ich eigentlich kommandieren sollte, wurde beim Appell getadelt,
weil die Jungens im Wald gelegen hatten statt den „Feind“ zu suchen.
Es war die Zeit des Krieges in Vietnam, und von uns -
Studenten in einem sozialistischen „Bruderland“ – wurde handfest „Solidarität“
eingefordert. Per Tagesbefehl wurde verkündet, dass jede Hundertschaft
Studenten eine - diesmal aber eine richtige - Maschinenpistole „spenden“
sollte/wollte, das machte pro Mann 5 Mark! Aber so einfach lief das nicht, es
gab ungeplante Diskussionen in der Truppe. Schon das Verfahren mit der
Pauschal-Pro-Kopf-Spende gefiel uns nicht, aber bei den erregten Gesprächen im
Schlafraum tauchten auch viel grundsätzlichere, gar pazifistische Gedanken
auf. Das Ergebnis der Verschwörung hieß: Wir spenden nicht! Und einige sagten
noch klarer: Wir schießen auch nicht mehr, hier, im Wehrlager! Das war unerhört!
Das roch nicht nur nach, das war Auflehnung, das war Widerstand, hatte da etwa
jemand eigene Gedanken? Aus der Dresdner Fakultät reiste die Politabteilung in
großer Besetzung an, es gab Gruppengespräche und Einzelgespräche,
Drohgebärden und richtig handfeste Drohungen. Am Ende gaben manche der „Aufständischen“
klein bei. Dazu gehörte ich, ich meinte erkannt zu haben, dass ein konsequenter
Pazifismus nicht in jeder Lebenslage durchzuhalten sei, aber natürlich hatte
ich auch Angst. Für meinen besten Freund, der sich „unbelehrbar“ zeigte, folgte
die sofortige Entlassung aus dem Lager, wenig später wurde er auch von der
Hochschule exmatrikuliert und zur „Bewährung in die Produktion“ geschickt.
Danach durfte er gleich noch seinen vollen Wehrdienst ableisten, als Beweis
für seine geläuterte Gesinnung, was ihm auch noch die Erfahrung einbrachte,
beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes bei der Niederschlagung des
„Prager Frühlings“ im Jahr 1968 wochenlang mit diesmal scharfer Munition als Reserve
im Grenzwald zu liegen. Später hat er zu Ende studieren können.
pazifismus als belügen des
eigenen ich. diese haltung nicht als ausweg, sondern als kapitulation vor der
entscheidung. die unmöglichkeit, das individuum plötzlich herauslösen zu wollen
aus der gesellschaft, in die es hineingeboren ist. das widernatürliche, dass
man sich ohne gegenwehr schlagen, sogar töten lassen will. natürlich wäre die
welt besser, wenn alle so dächten, aber die harte prüfung des ich zeigt, dass
man für sich selbst nicht garantieren kann, dass man es nicht wird durchstehen
können bis zum letzten. pazifismus als glaube an das beispiel, als hoffnung auf
bekehrung des mörders, wenn er uns ohne gegenwehr und ohne klage leiden sieht.
wenn du deine familie, deine freunde retten kannst, indem du den mörder, der
schon zielt und sicher die vernichtung auslösen wird, indem du ihn tötest,
vorher, bist du dann wirklich schuldig? wem hätte dein tod genützt, ihm
vielleicht, der schon die nächste granate abschießt? das töten des anderen
statt des getötetwerdens durch ihn – stufe von tieren?
(ins tagebuch geschrieben 1967)
Ein
zugewiesener Studienplatz hatte Vorrang vor der Einberufung zur Armee, das
schützte aber nur vorübergehend.
Ich wollte da aber nicht hin! Nach dem Ende des Studiums
bekam ich so zunächst - auf Anraten eines Mitstudenten - erhebliche
Rückenbeschwerden, die ich mir ärztlich bestätigen ließ und gegen die ich
auch jahrelang behandelt wurde. Wenn man so etwas schon lange hatte und Behandlungen
nachweisen konnte, sollte das im Ernstfall gegen Ansinnen einer
Armee-Einberufung helfen. Der Ernstfall trat aber in meinem Fall gar nicht
ein. Denn der Professor, bei dem ich meine Diplomarbeit gemacht hatte und der
mir dann auch eine Anstellung in seinem Institut ermöglichte, verstand den
vorsichtigen Hinweis auf die missliche Möglichkeit einer Einberufung richtig
und reagierte. Er setzte ein kurzes Schreiben an das Wehrkreiskommando auf mit
der Aufforderung, mich mit dem Wehrdienst zu verschonen, meine Arbeit an
Forschungsvorhaben sei für den Bestand der DDR unverzichtbar. Der Brief tat
seine Wirkung: Ausgefertigt mit einem beeindruckenden Briefkopf (Prof. Dr. Dr.
h.c. mult., Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften,
Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der DDR ...) bewirkte die
Übergabe des Schreibens, dass der bedienstete Uniformträger die Hacken
zusammenschlug und dafür zu sorgen versprach, dass meine Akte ganz unten in den
Stapel käme.
Erst als ich Anfang 30 war, erinnerte sich die Armee wieder an mich und
schickte mir eine Einladung. Ich wurde untersucht, bekam eine Schießbrille
verordnet und sollte eigentlich für ein halbes Jahr einrücken. Ich bestand
jedoch darauf, von meinem Recht auf Verweigerung des Wehrdienstes Gebrauch zu
machen und bei den Bausoldaten zu dienen. Dieses Ansinnen löste harsche
Reaktionen aus, aber offenbar waren solche Sonderwünsche einfach nicht
vorgesehen, und ich habe danach von der Armee nichts wieder gehört. Die
blecherne Erkennungsmarke – „im Todesfall in zwei Teile zu zerbrechen“ - habe
ich noch immer.
Zu unserem Studium gehörten auch Praktika in der Industrie,
und eines davon führte mich im 1968er Sommer ins Erdölkombinat nach Schwedt.
Das war ein hochmoderner Industriekomplex; in Schwedt kam die Erdölleitung mit
dem Namen „Freundschaft“ aus der Sowjetunion an, und hier wurden daraus
Kraftstoffe und Treibstoffe und Schmiermittel usw. destilliert. Der eigentlich
etwas abgelegene Standort Schwedt, oben im agrarisch geprägten Nordosten der
DDR gelegen, war Ausdruck für die geplante Industriepolitik der DDR. Es war
Prinzip, dass jede, auch eigentlich schwache, Region was Wichtiges bekommen
sollte. So wurde der Industriepark dorthin geklotzt. Tausende junge Leute
zogen hin. Meist taten sie das freiwillig, es gab Wohnungen, gute
Arbeitsbedingungen und gute Bezahlung; andere wurden nach ihrem Studium auch
zwangsweise an solche Standorte vermittelt. Dass nun so viele junge Leute dort
wohnten und Familien gründeten, hatte skurrile Auswirkungen. Im Schwedter Neubaugebiet
standen acht DDR-Standard-Schulen, exakt gleicher Bautyp, in einer Reihe
hintereinander - damit die Kinder sich nicht verirrten, waren an den Giebeln
verschiedene Blumen-Symbole angebracht.
Wir Studenten wurden richtig in die Produktionsabläufe
eingetaktet, lernten nun z.B. kennen, was „Rollende Woche“ hieß: Drei Wochen
lang ging´s im Dreischicht-Rhythmus ohne Wochenende durch, dann war eine Woche
frei. Das schlauchte doch ziemlich, sodass ich mich nur erinnern kann, dass
nachts die Mücken nervten und dass in diesem Sommer eine neue Platte der
Beatles veröffentlicht wurde, „Hey Jude“, heißerwartet, aber dann wegen der
endlosen Länge doch enttäuschend.
Mutproben
Am Ostseestrand wurden
wir immer gut bewacht und beobachtet und beschützt, damit niemand auf den
Gedanken kam, vielleicht auf Boot oder Luftmatratze das geheiligte Territorium
- als „Republikflüchtling“ - zu verlassen. Vor allem wenn die See ruhig und
spiegelglatt war, hätte man auf solcherlei Ideen kommen können. Aber zur
Abschreckung fuhr da immer ein Kampfschiff der DDR-Marine auf, machte ein paar
hundert Meter vor der Küste fest und blockierte demonstrativ und als optisches
Abschreckungssignal den Blick und den Weg nach der schwedischen Küste.
Als da wieder
einmal so ein Kahn lag, juckte mich der Hafer und ich beschloss, den Beschützern
einen Besuch abzustatten.
Ich gab mein
Vorhaben bekannt und schwamm los. Das alles hatte so nahe ausgesehen, aber nun
dauerte die Hintour endlos lang, vielleicht eine Stunde. Als ich mich dem
Schiff näherte, löste ich doch einige Verwirrung aus. Erst flogen einige
Leuchtpatronen knapp über mich hinweg, als ich noch näher kam, gab´s
Wischwasser auf den Kopf und böse Sprüche von oben. Ich drehte ab und schwamm den
langen Weg zurück.
Ein andermal
war wieder ruhige See, ich schwamm hinaus. Hinter mir trübte es sich ein,
Küstennebel, der sich am Strand breit machte und langsam aufs Meer hinauszog.
Nach einer Weile war nur noch Wasser um mich und Nebel. Zwar hörte ich noch
Stimmfetzen vom Strand her, es klang nahe, die Richtung nach Hause war aber
nicht mehr zu orten. Ich schwamm hier hin und dort hin, Panik entstand,
Endzeitgedanken. Nach quälend langer Zeit hatte ich dann doch irgendwann wieder
trockenen Sand unter den Füßen.
Kohlkopf auf
Nonnevitzens Dünen
Ich hatte
damals immer eine Gitarre bei mir, auch auf dem Zeltplatz, auch am Strand. Ich begleitete
Studentenlieder, Unsinns-Reime, wenn´s sein musste auch einmal ein Volkslied,
und wenn´s mir Spaß machte, sang ich allein Lieder von den Beatles oder
Protestsongs. Eines Tages setzte sich ein fremder Typ zu unserer Runde und
begann eigene Lieder zu singen, mit deutschen Texten, eines davon hieß
„Kohlkopf auf Nonnevitzens Dünen“. Er machte das professionell, beeindruckend,
und es regte mich an zum Nachmachen. Ich hörte ein paar Abende zu und beschloss
dann: Das probiere ich auch. Ein Notizheft wurde gekauft, und noch im gleichen
Urlaub entstanden erste Gedichte als Liedtexte). Der Typ hieß übrigens Kurt
Demmler und war später einer der wichtigsten „Texter“ in der „Singebewegung“
der DDR und in der Rockszene. 10 Jahre später hat er im Rundfunk ein Lied mit
einem Text von mir gesungen (zusammen mit Petra Rechlin: „Strandlied“) – da war
ich schon mächtig stolz drauf.
Wir hatten unser Diplom endlich in der Tasche. Mein Freund
bekam von seinem Vater als Belohnung das Auto zur Verfügung gestellt, und er
lud mich ein, mit nach Polen zu fahren.
Er war schon
früher dort gewesen, kannte ein paar Leute unterwegs. Überwältigt waren wir von
der Gastfreundschaft, die wir erlebten. Ein Ehepaar überließ uns sein Ehebett,
sie schliefen inzwischen irgendwo in einer Kammer. In einer anderen Familie
wurde die Tochter von der Schule „freigestellt“, d.h. sie schwänzte auf Befehl
der Eltern, damit wir, die Gäste aus Deutschland, rundum ordentlich begleitet
und betreut werden konnten.
Als wir einmal
von der Autostraße aus eine kleine Kirche sahen und dort im Schatten eine Rast
einlegten, trat ein verschwitzter Landarbeiter zu uns und erklärte in holprigem
Deutsch, dass er den großen Gutshof, vor dem unser Auto stand, seit der Abreise
der „Herrschaft“ immer in Ordnung gehalten habe und ihnen jederzeit wieder
übergeben könne - die deutsche „Herrschaft“ war da aber immerhin schon 25 Jahre
weg. An anderer Stelle wurde uns deutlich, warum die Zustände (Bauwerke,
Bewirtschaftung) in den ehemals deutschen Gebieten sich sehr viel desolater
darstellten als in den „urpolnischen“ Regionen, die wir weiter im Osten
kennenlernten: Hier waren Menschen angesiedelt worden ohne „Bodenhaftung“, sie
waren selbst vertrieben worden aus Gebieten, die inzwischen zur Ukraine gehörten,
und sie waren sich noch 1970 gar nicht sicher, ob es sich lohnte, hier Wurzeln
zu schlagen – vielleicht kämen die Deutschen ja doch noch einmal wieder ...
Wir zelteten in
der Hohen Tatra, erkundeten von Zakopane aus das blau-schwarze Hochgebirge. Da
wir jung waren und ehrgeizig, wollten wir auch den höchsten Berg Polens
besteigen, den Rysi. Wir hatten kurz auf die Karte gesehen, da war es nur zwei
Kilometer weit, und im Vollgefühl unserer Kräfte beschlossen wir, den Berg mal
noch so nebenbei als Nachmittagsspaziergang zu erklimmen. Wenn wir auf die
Höhenlinien in der Karte geachtet hätten, wäre uns klar gewesen, dass es nicht
nur zwei Kilometer weit, sondern auch fast die gleichen zwei Kilometer nach
oben ging. Wir stürmten bergan, ungeübt wie wir waren, ohne Atemtechnik und
dergleichen. Froh gelaunt und eilenden Schrittes überholten wir einen anderen
Wanderer, der bedächtig voranschritt. Dann gab´s erste Atemnot, wir legten
eine Verschnaufpause ein, und da kam der „alte Mann“, den wir doch eben noch so
zügig überholt hatten, und er stapfte langsam, aber stetig an uns vorbei. Das
war ärgerlich, wir brachen wieder auf, überholten ihn auch bald, aber dann
mussten wir erneut verschnaufen. Jetzt lief uns nicht nur der Mann, sondern
auch die Zeit davon, und irgendwann brachen wir den Versuch ab. In den
folgenden zwei Wochen haben wir die Karten lesen und die Situationen und
unsere Kräfte besser einschätzen gelernt; es gab einen zweiten, gut
vorbereiteten Anlauf, und da haben wir den Gipfel erreicht.
Wir entdeckten
bei unseren touristischen Planungen, dass in der Nähe der alten Königsresidenz
Krakau auch Auschwitz liegt. Im Geschichtsunterricht hatten wir zwar davon
gehört, aber das alles war doch ziemlich abstrakt geblieben, und wir hatten
keine Ahnung, was uns dort erwarten würde. Aus der Beliebigkeit touristischer
Neugier wurde schnell Betroffenheit. So konzentriert hatte die Erinnerung an
das Leid von Millionen von Menschen schon eine unheimliche Wucht. Als wir in
einer Kammer standen, die vollgestopft war mit Schuhen von ermordeten
Häftlingen, stand neben mir ein altes Mütterchen, gekrümmt, und starrte
schweigend ins Leere. Dort wurde mir klar, dass es für sie kein Museum war.
Vielleicht suchte sie unter den alten Schuhen, die hier herumlagen, die Schuhe,
die eines ihrer Kinder getragen hatte, damals, und da fühlte ich mich plötzlich
doch sehr als Deutscher.
Studenten-Kurzurlaub.
Uns blieb nur eine Woche Zeit in der slowakischen Hohen Tatra. Es war
herrliches Wetter, alle wichtigen Wanderwege hatten wir bereits im
Geschwindschritt „abgewandert“. Ein Ziel aber war noch unerreicht, sollte aber
auf jeden Fall noch bezwungen werden. Der höchste Gipfel des Gebirges, der
Gerlach, lockte unwiderstehlich. Zwar hatten wir gelesen: Es ist gefährlich, es
gibt keine markierten Wege, man darf den Berg nur mit einem Führer besteigen.
Aber was kümmerte das uns. Der Aufbruch erfolgte in aller Frühe, zwei Knaben
und zwei Mädchen machten sich auf die Socken. Nach zwei Stunden war die
Einstiegsstelle erreicht. Über den Gebirgskamm zogen dunkle Wolken herein, ein
kurzes Bedenken, aber: Wenn wir jetzt nicht aufbrechen, wird´s in diesem
Urlaub nicht mehr. Die Mädchen kehrten nach ein paar hundert Metern um, weil es
doch ziemlich hart losging mit Hangeln an Ketten und Balancieren über
Eisfelder, auch verdichteten sich die Wolken zunehmend. Aber mein Bruder und
ich stürmten hinauf. Der Weg war notdürftig mit „Steinmännern“ markiert -
aufgeschichteten Steinpyramiden -, aber immer öfter waren auch die nicht mehr
zu finden. Es begann heftig zu regnen, später kam noch Schnee dazu. Nebel
machte die Orientierung fast unmöglich. Wir trafen auf einen Tschechen in
unserem Alter, der allein unterwegs war, aber auch er hatte keine Ahnung, wo
der richtige Weg langging. Nach oben – das konnte nicht falsch sein, und so
kämpften wir uns, inzwischen völlig durchweicht und durchfroren, über
glitschige Geröllfelder weiter aufwärts. Immer einmal ging einer auf Suche nach
links oder rechts, ob´s da besser aussah. Stunden später hatte einer von uns
doch die Gipfelstange gefunden. Wir waren stolz, geschafft und ratlos, denn
alle Versuche, nun einen Weg für den Abstieg nach unten zu finden, endeten an
steil abfallenden Felswänden. Zum Glück hörten wir nach einiger Zeit Stimmen,
eine Gruppe - ordentlich mit Bergführer - kam durch den Nebel herauf. Wir
schlossen uns ihnen auf dem Rückweg ein Stück an, und dann hasteten wir von
Steinmann zu Steinmann den Berg hinunter, der Schneeregen war nicht mehr zu
spüren, längst war es dunkel geworden, aber irgendwie fanden wir aus den
Geröllfeldern heraus, dann rannten wir im Laufschritt noch zwei Stunden über
einen steinigen Pfad hinunter ins Tal, bestiegen die Bahn, die uns zum
Zeltplatz zurückbrachte.
Viele Jahre
später hat mir ein Freund erzählt, wie er mit seinen beiden Söhnen am gleichen
Berg zusehen musste, als zwei Wanderer zu Tode stürzten.
Im gleichen
Urlaub erlebten wir bei einer Wanderung ein Gewitter im Hochgebirge, was sehr
beeindruckend und beängstigend ist. Wir wanderten auf der „Magistrale“, einem
Höhenweg, der schutzlos außerhalb der Vegetationszone in Geröllfeldern
verläuft. Innerhalb von Minuten kam überraschend ein heftiges Gewitter über den
Kamm gezogen. Ein ununterbrochenes Inferno von Blitzen und Donnern umtobte uns
von allen Seiten. Wir konnten uns eine Stunde lang nur ohnmächtig im
strömenden Regen zwischen die Steine pressen und warten ...
4. Das
volle Leben – vor der Wende
Beruf, Familie und Opposition
(1970 bis 1989)
Von 1970 bis
1982 war ich als Chemiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Dresdner
Forschungsinstitut tätig und hatte dort mit Korrosionsschutz und der Messung
von Luftverunreinigungen zu tun. 1971 habe ich geheiratet. 1972, 1973, 1979 und
1989 wurden unsere vier Kinder geboren. Von 1979 bis 1982 studierte ich im
Fernstudium Theologie. Seit 1982 war ich dann bei der Evangelischen
Landeskirche in Sachsen als Fachreferent für weltanschauliche und ethische
Fragen im Bereich Naturwissenschaft-Technik-Medizin tätig. Im gleichen Jahr
zogen wir als Familie von der Großstadt aufs Land, zurück in das Dorf, in dem
ich schon als Kind gelebt hatte.
Vier Jahre lang
hatte ich als Student in meinem Zimmer bei der „Wirtin“ gewohnt. Nun war ich
verheiratet, meine Frau erwartete unser erstes Kind, wir brauchten eine Wohnung
für uns allein.
Der Wunsch war erlaubt, aber es gab einige Hürden zu
überwinden. Zuerst musste ein Wohnungsantrag gestellt werden. Damit aber
wirklich was passierte, war es wichtig, immer wieder zu drängeln und zu
schmeicheln auf dem zuständigen Wohnungsamt, Befürwortungen von dieser und von
jener Stelle einzuholen und vorzulegen. Irgendwann war das Amt mürbe und
stellte endlich die „Zuweisung“ für eine Wohnung aus. Aber diese Wohnung lag am
anderen Ende der Stadt. Wir setzten eine Annonce mit einem Tauschangebot in
die Zeitung, und wir hatten Glück. Eine alte Dame meldete sich, aber die hatte
erst tausend Wünsche, wie ihre neue Wohnung sein sollte: Wasser rein, Gas raus,
rosa Zimmerdecke mit Wolkenmuster. Damals haben wir gelernt, wie man Wände abwäscht,
tapeziert, einen Ofen „kehrt“ (Deckkacheln abmachen, eimerweise Asche
herauskratzen, Kacheln mit Lehmpampe wieder aufkleben). Dann war noch unsere
ertauschte Wohnung herzurichten, und wir konnten endlich einziehen, mit unserem
ersten Kind, das inzwischen geboren war.
Das Haus, in dem wir jetzt wohnen würden, lag hoch oben an
einem Hang. 82 Treppenstufen führten von der Straße hinauf, für den Transport
der Kohlen zum Heizen waren neben der Treppe Schienen verlegt, auf denen eine
kleine Lore hochgezogen werden konnte.
Wir bewohnten zwei Zimmer á 11 Quadratmeter, dazu gehörte
eine kleine Küche, zum Kohlenkeller ging es von der Küche aus vier Stufen nach
oben (!), wir Eltern schliefen in einer bunkerähnlichen schmalen Kammer, die
1,20 breit und 3 Meter lang war, in einem Doppelstockbett.
Wir wohnten „Souterrain“,
also etwas unterirdisch, was aber auch bequem war. Der Garten befand sich auf
gleicher Höhe wie unsere Fensterbretter, und die Kinder konnten gleich zum
Küchenfenster hinausgereicht werden.
Die
Zimmerdecken hatten ein interessantes Muster, das wir lange für Stuckkunst oder
so was hielten. Kleine Kreise von zwei Zentimetern Durchmesser waren da einer
neben dem anderen eingeprägt, das Muster ging gleichmäßig über die ganze
Decke. Später erfuhren wir von der Vormieterin, wie das zustande gekommen
war. In der Wohnung über ihr wohnte eine Familie mit Kindern, bei denen es
manchmal turbulent zuging. Das Trippeln und Hopsen wurde eine Etage tiefer als
nervig empfunden, und so kam der Besenstiel zum Einsatz, mit dem durch heftige
Stöße nach oben Signale gegeben wurden, einprägsam Abdruck um Abdruck.
Wir hatten
endlich was eigenes und fanden´s gut so und kauften uns einen großen
Kleiderschrank. Die Windeln wurden auf dem Küchenherd in einem großen Topf
gekocht. Meine Frau schrieb, während die Tochter zwischen ihren Beinen
herumkroch, Diktate eines Röntgenarztes ab - vom Tonband ins
Schreibmaschinen-Protokoll. Und weil´s so schön war und wir so alternativ
waren, nahmen wir einige Wochen später noch eine junge Frau mit Kind auf, die
zu Hause „rausgeflogen“ war.
An einem
Wintertag Anfang des Jahres 1973 betrat ich eine kleine Baracke und saß dann
zusammen mit 20 doch recht abenteuerlichen Gestalten auf Tischen und alten
Polstermöbeln, und wir diskutierten und diskutierten ... Ich war in der
„offenen Jugendarbeit“ der Weinbergskirche in Dresden gelandet, und was ich
hier erlebte, hat mich geprägt, hat mich verändert, hat mich viele Jahre fest
gehalten. Manchmal 15 und später auch manchmal 150 junge Leute trafen sich
dort einmal in der Woche. Sie kamen aus sehr unterschiedlichen sozialen
Milieus, aber sie hatten eines gemeinsam: Sie wollten das „ABC des Lebens“
buchstabieren, nachdenken über Sinn und Ziel ihres eigenen Daseins, und sie
wollten dieses andere Leben auch wirklich ausprobieren. Da wurde erregt
debattiert über (antiautoritäre) Erziehung, Generationsfragen, den Sinn des
Soldatseins, Gewalt und Protest, es ging um Musik (von Bob Dylan und Chicago
und Wolf Biermann), und es ging um Lite¬ratur (selbstge¬machte und verbotene)
und wir diskutierten über den Zustand unserer DDR-Umwelt. Da wurden Pläne geschmiedet für die Gründung
von „Kommunen“ auf dem Lande - zum Test wurde erst einmal unser Trabant von
drei Familien gemeinsam genutzt, was ganz gut klappte.
In diesen Jahren
lernte ich die DDR noch einmal ganz neu kennen. Es gab Ausgrenzung und Willkür
und brutale Macht immer noch, ich hatte das bloß nicht erlebt bisher. Plötzlich
hatte ich Freunde aus dem Arbeitermilieu, die im Knast gewesen waren, die als
„asozial“ galten und vom Staat auch so behandelt wurden, ich erlebte
Verhaftungen aus nichtigem Anlass. Ich begegnete Künstlern aus einem ganzen
„Untergrund“-Netzwerk. Ich lernte „Tramper“ kennen, die mit Schlafsack auf
dem Rücken und ein paar Adressen in der Tasche unterwegs waren, einziges Ziel:
das nächste Konzert „ihrer“ Bluesband.
Hab
viel gesehen, manches nicht verstanden,
doch
weiß ich täglich mehr.
Stand
an vielen Türen, hatte keinen Mut,
doch
ging ich wieder hin.
Hab
viel versprochen, manches nicht gehalten,
jetzt
denk ich vor dem Wort.
Hab
viel genommen, wenig nur gegeben,
doch
fing ich grad erst an.
Kannte
viele Worte, die andre gerne hören,
jetzt
sag ich, wer ich bin.
Hab
viel begonnen, manches nicht beendet,
doch
ich hab was getan.
(Rock-Gruppe
PANTA RHEI - später KARAT, 1973,
Text: Joachim Krause, Musik: Herbert Dreilich)
Für den 12.
November 1973 hatte mich ein Termin per Postkarte ereilt. Zur „Klärung eines
Sachverhalts“ sollte ich im Volkspolizeikreisamt (VPKA) erscheinen. Der Termin
passte mir gar nicht. Die Geburt unseres zweiten Kindes stand unmittelbar
bevor, ich hatte unterwegs einen neuen Kinderwagen erworben, unten drin im
Wagen-Korb lag ein gerollter Bettvorleger. So ausgerüstet meldete ich mich im
Polizeigebäude an der Information. Meine Frage nach „Zimmer 211“ löste merkwürdige
Reaktionen aus: hektische Betriebsamkeit, Getuschel, klappende Türen,
Telefongespräche. Dann endlich der Verweis, nach oben zu gehen. Dort saß ich wieder
lange vor einer verschlossenen Tür. Irgendwann wurde ich hineingebeten. Halbdunkel,
zwei Herren in Zivil, Ausweise vor meiner Nase. Stasi. Panik. Aber zunächst
waren sie ganz freundlich. Fragten nach Persönlichem, nach Beruf und Freunden.
Ich habe doch gute Kontakte zu Musikern aus der Rock-Szene. Es wurde härter,
bedrohlicher: Ich wüsste doch sicher, dass da mit den Steuern getrickst würde,
dass die Verstärkertechnik illegal aus dem Westen käme. Und um klar zu
beweisen, dass ich damit nichts zu tun habe, sollte ich doch mal erzählen, was
ich denn so wüsste ... Ich wusste zwar einiges, wollte aber nichts gegen meine
Kumpels sagen, wollte aber auch die Herren nicht unnötig verärgern. Eiertanz,
Angstschweiß. Ein zarter Hinweis, dass ich irgendwann nach Hause müsste, wurde
abschlägig beschieden: Dieses Gespräch würde so lange gehen, wie es eben gehen
müsste. Passendes Detail: Die Tür hatte innen und außen keine Klinke. Die Zahl
der Herren nahm zu, sie waren austauschbar, betraten und verließen nach irgendeiner
Regie das Zimmer, waren mal verständnisvoll und dann mal sehr aufgeregt und in
Drohpose. Was ich für Freunde hätte. Ob ich denn dies und jenes von dem und
jenem wüsste. Dass ich natürlich nicht verdächtig wäre, aber dass ich
vielleicht was aufklären könnte, eigentlich gehe es durchweg um Verstehen und
Helfen ... Konzentrationsübung. Fluchtreflexe. Ich wollte hier raus. Aber da
war diese Tür ohne Klinke. Nach zwei oder drei Stunden war endlich Schluss. Vorläufig,
wie sie sagten. Im Aufstehen wurde mir ein Zettel vor die Nase gelegt, den ich
doch bitte unterschreiben möge. Reine Routine: dass das heute Gefragte und
Gesagte unter uns bliebe und dass ich bereit sei, das Gespräch demnächst fortzuführen.
Fast hätte ich unterschrieben, nur um hier endlich wegzukommen. Da ging im
Hinterkopf eine rote Lampe an. Nein, sagte ich, mit meiner Frau werde ich
drüber reden. Die Herren waren böse, aber gerade ihre Unsicherheit bestärkte
mich. Der Zettel blieb ohne Unterschrift.
Zu Hause
folgten stundenlange Gespräche, mit meiner Frau, mit Freunden, zu denen ich
befragt worden war. Schlaflose Nächte. Dann schrieb ich einen Brief, Eilsendung
und Einschreiben, mangels Namenskenntnis adressiert an „Zimmer 211“ im VPKA
Dresden. Und darin sagte ich endgültig NEIN: Konspirative Gespräche mit mir
allein und über Dritte würde es nicht geben.
Erst zwanzig
Jahre später ist mir richtig klar geworden, dass diese kleine Unterschrift mein
Leben vielleicht völlig verändert hätte. Meine Stasiakte beginnt mit einem dünnen
Hefter, in dem ich als „IM-Vorlauf“, als potenzieller Mitarbeiter der „Organe“
geführt werde. Dort ist nach dem geschilderten Gespräch auch ordentlich ein
Umschlag abgeheftet worden, auf den das Wort „Verpflichtung“ gestempelt ist.
Und dieser Umschlag war leer geblieben. Damit war mein potenzielles „IM“-Dasein
schlagartig beendet. Es gab im Denken der Stasi aber nur Freund oder Feind,
und so wurde im Abschlussprotokoll festgelegt, „die Bearbeitung des Kandidaten
in einem IM-Vorlauf einzustellen und ihn im Namen der OpV-Bearbeitung unter
Operative Personenkontrolle zu nehmen.“ In den nächsten 17 Jahren war ich
Staatsfeind unter intensiver Betreuung, und die von der Stasi erstellten
Konzeptionen für meine „Betreuung“ sahen nun vor, die Menschen und die
Gruppierungen, mit denen ich zusammenlebte, „systematisch zu zersetzen und zu
liquidieren“.
Auch ich zog
konkrete Schlussfolgerungen aus dem Stasi-„Gespräch“, in das ich doch ziemlich
unvorbereitet geschlittert war. Ich sprach in der Folgezeit mit Freundinnen
und Freunden, die schon ähnliche Erfahrungen auf Ämtern oder mit überraschenden
Besuchern zu Hause gemacht hatten, und bot für die Jugendlichen in unserer
offenen kirchlichen Jugendarbeit regelrechte Schulungs- und Trainingsabende
an: Wie verhalte ich mich, wenn ich eine Vorladung erhalte, wenn unerwartet
fremder Besuch klingelt? Was habe ich für Rechte, wie kann ich „die“ ärgern,
verunsichern?
Unser Nachdenken
über alternative Gesellschaftskonzeptionen war intensiv und nahm konkretere
Gestalt an. Ende der 70er Jahre habe ich an einem Manuskript geschrieben mit
dem Titel: „Die andere Hälfte“. Da wollte ich aufzeigen, was diesem Sozialismus
fehlte, die Kluft deutlich machen zwischen dem schönen Anspruch und der ganz
anderen Wirklichkeit unseres Alltags. Ich wollte das System DDR messen an
seinen eigenen hohen Zielvorgaben. Ich habe Rosa Luxemburg, auch Marx und
Engels gelesen – und mit deren Zitaten argumentieren gelernt.
Das unfertige
Manuskript ist dann aber leider irgendwann mit in den Ofen geraten, als wieder
einmal jemand verhaftet wurde und die Wohnung „sauber“ sein musste.
Es war ein
nieseliger Abend in Leipzig. Mein Freund H. sagte nur: Komm mal mit. Wir
stiegen in sein Auto. Verschlungene Wege durch die Stadt, plötzliches Abbiegen,
Umwege, Blicke in den Rückspiegel, ob uns jemand folgte. Mir wurde zunehmend
mulmig zumute. Dann hielten wir auf einer kaum beleuchteten Straße, betraten
ein verfallenes Haus, H. klopfte merkwürdige Sequenzen – ein offenbar vereinbartes
Signal, auf das hin sich die Tür auftat.
Drinnen standen
einige Leute herum, die ich nicht kannte und die auch mich misstrauisch musterten.
Aber dann wurde es interessant. In mehreren Räumen lagen - auf Tischen und
Regalen ausgebreitet – Bücher. West-Bücher! Begehrtes und Verbotenes, was ich
sonst nur aus Katalogen oder aus Gesprächen kannte, Politisches und
Philosophisches und Umwelt und Wirtschaft und Psychologie – hier lag das alles
zum Anfassen und Blättern bereit. Wer Westgeld bei sich hatte, konnte sogar
gleich jetzt zufassen und kaufen und mitnehmen.
Das Leseglück
wurde jäh durch einen Zwischenfall unterbrochen. Es klopfte erneut an der Tür,
aber es war wohl nicht der vereinbarte Code, denn alle erstarrten. Erst der
Versuch, das Klopfen mit Schweigen zu ignorieren, aber nach wiederholtem
Pochen ging doch jemand zur Tür. Inzwischen hatten wir uns alle darauf
eingestellt, dass gleich die Staatsmacht erscheinen würde, Knastgedanken. Aber
es war dann doch ein vertrautes Gesicht, der Neuankömmling hatte sich nur beim
Klopfsignal verzählt ...
H. war in
Ungarn gewesen und hatte Bücher gekauft, Westbücher, vor allem Philosophisches
und Politisches. Einen ganzen Stapel davon hatte er auf der Rückfahrt im Zug
bei sich. Aber an der Grenze zwischen der ČSSR und der DDR in Dečin
war Schluss. Bei der Kontrolle wurden die „Feindliteratur“ entdeckt und sicher gestellt. Der Verlust schmerzte. Ein paar Wochen
später saß er mit seiner Frau bei uns in der Wohnung - und wir machten böse
Pläne. Die Grenzer hatten ihm mit deutscher Gründlichkeit eine Quittung
ausgehändigt, auf der stand, dass „die Einfuhr der Bücher in die DDR nicht
gestattet sei“, sie lagen aber noch dort unter Verschluss, waren theoretisch
weiter sein Eigentum. Wir wollten nun versuchen, die Bücher doch noch
irgendwie rüber zu kriegen. Wir würden noch einmal an die Grenze fahren. H.
wollte sich dort seine Bücher abholen und in Richtung Tschechien weiterfahren.
Dann aber würden wir am nächsten Bahnhof aussteigen über die „grüne“, damals
unbewachte, Grenze durch die Sächsische Schweiz zurückwandern. Nun wurde schon
über Zugfahrpläne und das Reagieren auf unangenehme Eventualitäten gesprochen.
Unsere Frauen waren dagegen, aber die Abenteuerlust siegte, und dann saßen wir
im Zug nach Dečin. Wir fuhren getrennt, taten so, als ob wir uns nicht
kannten. H. ging am Grenzkontrollpunkt zielstrebig ins Büro, ich stand mit
Bauchschmerzen auf dem Bahnsteig und überlegte, was in welchem Fall nun zu tun
sei. Da aber kam H. schon wieder heraus, hatte eine schwere Tüte in der Hand
und lief - Konspiration hin oder her - direkt auf mich zu. Wir könnten mit dem
nächsten Zug nach Dresden zurückfahren, sagte er. Dem Zollbeamten drinnen war
so etwas noch nie vorgekommen. Er hatte, als H. seine Quittung vorlegte und die
Aushändigung „seiner“ Bücher verlangte, diese nach kurzer Zeit im Nachbarzimmer
gefunden. Er fragte, was H. nun tun werde. Als dieser sagte, dass er die
verdächtigen Gegenstände wieder nach der ČSR ausführen werde, meinte der
Grenzer nur trocken, das könne er machen wie er wolle, ihm sei es zu blöd, das
nun vielleicht auch noch zu kontrollieren, von ihm aus könne er die Bücher
auch nach Hause mitnehmen ...
So etwas haben
wir uns viel zu selten getraut.
Es war 1973 in
den Tagen der „Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ in Berlin. Ich fuhr
U-Bahn. Plötzlich blieb der Zug auf freier Strecke stehen, irgendwo unter den
Straßen Ostberlins. Das Licht im Wagen erlosch. Zuerst gab es den üblichen
Tumult, Kreischen, Grölen – die Jugend war unter sich. Dann deutete einer auf
das Fenster. Alle starrten auf das Bild, das langsam aus dem Dunkel hervortrat.
Man blickte in einen stillgelegten U-Bahn-Schacht. Der Tunnel war von matten
Glühlampen spärlich erleuchtet. Und dort saßen überall Uniformierte, mit
Stahlhelm, schwer bewaffnet, rauchten oder dösten vor sich hin. Dann ging das
Licht im Waggon wieder an. Die Fahrt ging weiter, der Spuk war vorbei.
Im Spätsommer
1980 wurde H. verhaftet. Er hatte gemeinsam mit anderen in Leipzig politische
Literatur aus dem Westen gezielt in die DDR eingeführt und verbreitet. Auch bei
mir standen Bücher wie „Die Alternative“ von Bahro oder Werke von Solschenizyn
aus diesen dunklen Kanälen in Schrank, und ich hatte auch öfter Schallplatten-
und Bücher-Pakete zur Post gebracht, aus deren Erlös im Westen der Bücherkauf
finanziert wurde. Nun schlug der Blitz ganz in meiner Nähe ein. Verhaftung,
Haussuchung, Beschlagnahmungen. H. war mit seiner Familie auf dem elterlichen
Bauernhof zu Besuch. Dort, in der ländlichen Einsamkeit, traute sich die
Stasi: 12 ihrer Leute waren aus Leipzig gekommen, hatten den Hof beobachtet
und griffen nun zu. Ein zufällig auch anwesender Freund von H. überbrachte uns
- wir saßen nichts ahnend drei Kilometer entfernt im Garten - die böse
Nachricht. Aber auch Entwarnendes konnte er mitteilen: Ich war am Abend vorher
noch drüben zu Besuch gewesen und wir hatten einige Manuskripttexte
ausgetauscht. Der Freund hatte einige Blätter, die von mir stammten, als
Nachtlektüre mit auf sein Zimmer genommen, und als die Stasi schon im Haus war,
ging er in aller Ruhe aufs Klo und spülte einige besonders böse Papiere das
Rohr runter.
Trotzdem, jetzt herrschte Panik. Angstschweiß trat auf, wenn ein unbekanntes
Auto auf der Straße vorfuhr – kommen sie jetzt auch zu uns? Sie kamen nicht.
Aber ich wusste: Sie hatten bei der Haussuchung auch Bücher beschlagnahmt, die
mir gehörten. Mein Selbstbewusstsein kehrte wieder, und ich schrieb einen
Brief an den Staatsanwalt in Leipzig, in dem ich ihn aufforderte, mir mein –
doch wohl irrtümlich und rechtswidrig konfisziertes – Eigentum, Westbuch um
Westbuch genau aufgelistet, wieder auszuhändigen. Und Frechheit siegte:
Wenige Wochen später übergab mir ein Kurier irgendwelcher Staatsorgane ein
Päckchen mit meinen beschlagnahmten Büchern und Briefen. Die Erkenntnis hieß:
Man hat auch in der DDR Rechte, und - aber auch nur - wenn man die einklagt,
kriegt man (manchmal) auch Recht. Da war offenbar Spielraum im System DDR, und
diese Grenzen galt es auszuloten!
Als - erst
viele Monate später - der Gerichtsprozess gegen H. stattfand, haben wir die
Staatsmacht erneut getestet und verunsichert. Grundsätzlich waren auch
„politische“ Verfahren vor Gericht öffentlich. Also erkundeten wir mühsam den
genauen Ort und Termin der Verhandlung. Freunde und Bekannte wurden in Kenntnis
gesetzt und zum Hinkommen ermutigen. Dann erschienen wir zum anberaumten
Gerichtstermin: Klopfen und Klingeln an der lange verschlossen bleibenden Tür
des Untersuchungsgefängnisses, entschlossenes Vorbeischreiten an den
verdutzten und verunsicherten Uniformierten, hektische Betriebsamkeit im
Verhandlungsraum, der weder von den vorhandenen Stühlen her noch seitens der
Richter und Anwälte auf Öffentlichkeit vorbereitet war, solidarischer Blickkontakt
zu den bereits herangeführten Beschuldigten, stolze Teilnahme an der
verzögert und nervös zelebrierten Eröffnung der Verhandlung. Dann erfolgte der
von uns erwartete amtliche „Ausschluss der Öffentlichkeit“. Aber wir gingen
erhobenen Hauptes. Wir hatten es uns selbst und „denen da“ gezeigt: Wir lassen
uns nicht (mehr) alles so einfach gefallen!
Trotzdem waren
solche Erfahrungen mit Gefängnisnähe Anlass, sich in der Familie nüchtern die
Frage zu stellen: Wie viele Jahre Knast kommen in Frage, und wann ist Ausreise
angesagt? Schön theoretisch war sie schon, diese Frage. Ich glaube, die Verständigung
mit meiner Frau hieß: höchstens ein Jahr. Bei einer längeren Haftstrafe hätten
wir einen Ausreiseantrag gestellt. Makaber, aber der Westen war in dieser
Sicht immer eine Rettungsmöglichkeit, mit der wir für den Krisenfall rechneten.
Von Stund an
gab es auch bei uns zu Hause eine Liste mit Namen, die im Ernstfall zu
informieren waren.
H. wurde
übrigens von Wolfgang Schnur verteidigt - genau: von dem Stasi-IM
Schnur! Ich hatte H.s Frau dazu geraten, sich diesen Anwalt zu nehmen. Aber wir
waren vorsichtig. Sie sollte erst einmal zuhören, was er tatsächlich über den
Fall wusste, ihm nicht mehr sagen als unbedingt nötig, und vor allem: keine
Namen! Schnur hat auf Freispruch plädiert, und nach einem Jahr war H. wieder
draußen.
An
einer Stelle war das System DDR besonders verletzlich: Offenheit, Öffentlichkeit
waren nicht vorgesehen. Vieles geschah nach Spielregeln, die in internen
Zirkeln verabredet wurden. Entscheidungen waren nicht durchsichtig. Weder war
ihr Zustandekommen nachzuvollziehen, noch waren Verantwortliche greifbar.
Mechanismen einer Mitwirkung oder Kontrolle durch die Öffentlichkeit waren
nicht vorgesehen. Für alle Lebensbereiche waren Strukturen vorgegeben, und
damit war jeder andere Weg oder jede andere Organisationsform auch schon
ausgeschlossen. Alles, was nicht offiziell angeordnet oder organisiert war, war
eigentlich verboten ...
Und nun kamen
da Leute und machten „offene“ Jugendarbeit. Treffs, zu denen einfach jeder
kommen konnte, bei denen jeder sagen durfte, was ihm wichtig war. Und die
verborgenen Zuhörer, die in „dienstlichem“ Auftrag dabei waren, wurden von
uns auch offensiv aufgefordert, kritische Botschaften doch
weiterzutransportieren!
Für die Stasi
war De-Konspiration, also das Auffliegen-lassen der Geheim-Sphäre, z.B. das
(öffentliche) Reden über Kontakte zu diesem „Organ“ oder über dort gehabte
Gespräche die schrecklichste Sache überhaupt. Also lautete die Regel Nummer 1,
die wir untereinander weitersagten: Wenn schon jemand eine solche Begegnung
der besonderen Art hatte, dann solle er mit allen möglichen Leuten darüber
reden und das auch den Schlapphüten mitteilen!
Ich habe immer sehr
freizügig und ganz offen Kontakte Richtung Westen gesucht. Oft geschah das
sogar dienstlich von der Arbeitsstelle aus. Durch Abschicken von besonderen
Postkarten hatte man die Chance, an wichtige fachliche Informationen
heranzukommen (Sonderdrucke aus Fachzeitschriften); um an andere lesenswerte
Druckerzeugnisse heranzukommen, schrieb ich auch Briefe direkt an Autoren und
Verlage. Der Rücklauf klappte recht gut, wurde also nicht unterbunden, aber die
Vorgesetzten und manche Behörden hatten schon erhebliche Schwierigkeiten mit
derlei „Westkontakten“, die es eigentlich gar nicht geben sollte.
Ich bin
eigentlich, was Technik anbelangt, ziemlich blind. Aber für´n Trabant hat´s
doch gereicht. Wenn man sich in diesem Auto umsah oder die Motorhaube öffnete,
war sehr übersichtlich alles zu sehen, was zu einem Auto gehört, und wie das
funktioniert, konnte man auch verstehen. Denn um mit dem Trabant zu überleben,
musste man mancherlei wissen, was und wo und wie, und man musste oft selbst
Hand anlegen. Es gab z.B. einen Feuerlöscher. Als eine Freundin sich einmal
unser Auto geborgt hatte, ist der tatsächlich zum Einsatz gekommen, bei einem
Brand im Motorraum mitten auf der Kreuzung. Es gab einen Reserve-Hahn für die
Benzinzufuhr. Wenn der Motor plötzlich stotterte - es gab keine Vorwarnung
durch eine Tankanzeige im Cockpit -, tauchte der kundige Fahrer blitzschnell
nach rechts unters Lenkrad ab und drehte einen kleinen Hahn nach links. Ich
führte für den Notfall immer eine Rückzugsfeder für den Bowdenzug vom Gaspedal
mit; wenn diese unscheinbare Spirale aus Draht brach – auch das habe ich
erlebt – tourte der Motor auf Vollgas hoch und röhrte auf vollen Touren; eine
missliche Situation, wenn man die 15 Pfennige für die Feder gespart hatte! Man
hatte auch immer einen Keilriemen dabei - clevere Leute schworen auf
West-Nylon-Strümpfe als Ersatz-Variante. Wenn der Riemen riss, war die
Stromversorgung des Trabbi hin. Da war es gut zu wissen, dass man in diesem
Fall die Lichtmaschine locker schrauben musste, um den Ersatzriemen einfädeln
zu können. Auch nur Trabbifahrer konnten wissen, dass es Schmierfilze für die
Unterbrecherkontakte der Zündspule gab und wo diese zu finden und wie sie im
Krisenfalle auszuwechseln waren. Dazu musste man die Vorderräder scharf
einschlagen. Dann konnte man am Rad vorbei eine Dose ertasten - die war
natürlich mörderisch verdreckt -, eine Klemme beiseite drücken, den Deckel
abnehmen – und dort waren die kleinen Bösewichte, die manchmal verölten. Aus diesen
und anderen Gründen hatte jeder Trabbifahrer immer ein mittelgroßes
Ersatzteillager, teils im Auto und teils zu Hause. Und wenn´s irgendwo
Schalldämpfer gab, legte man sich auch vorsichtshalber einen hin für die
nächste Reparatur.
Anfang der 80er
Jahre wurde unsere Post aus dem Westen intensiv „gefilzt“. Briefe verschwanden,
jedes Weihnachtspäckchen war erkennbar durchwühlt. Manchmal konnten einem die
Kontrolleure aber auch richtig leid tun! Eines Tages
nahm mich ein Abteilungsleiter in meinem Institut auf die Seite und berichtete,
dass eben zwei Herren bei unserem Direktor gewesen seien und sich bitter über
meine Provokationen beklagt hätten. Ich hatte ganz ehrlich keine Ahnung, was
ich angestellt haben sollte. Was war passiert? Die beiden Herren waren mit der
Kontrolle meiner Post beauftragt. Kürzlich war ein großes Paket mit 20 Rollen
Klopapier aus dem Westen gekommen. Welche Bösartigkeit war da zu vermuten? Die
Herren bekamen den Auftrag, das Papier von einer Rolle nach der anderen komplett
abzuwickeln - vielleicht war da drin ja eine konspirative Botschaft versteckt
- und danach natürlich wieder ordentlich aufzurollen. 20 Mal! Und nichts
gefunden! Ich konnte verstehen, dass sie sauer waren. Des Rätsels Lösung war
banal. Ein Freund aus dem Westen war bei uns zu Besuch gewesen. Wie so oft zu
DDR-Zeiten gab es gerade kein Klopapier, und er hatte sich auf unserer
Toilette mit zerrissenen Zeitungen herumplagen müssen. Und da wollte er uns
eben mit 20 Rollen samtenen Westpapiers was Gutes tun.
Über solche
Geschichten, die natürlich genüsslich weiter erzählt wurden, konnte als
Real-Satire gelacht werden - wie über die schönen DDR-Witze -, und das
tröstete über den bitteren Ernst mancher Lage ganz gut hinweg.
An einem
strahlenden Apriltag des Jahres 1986 explodierte der Atomreaktor in
Tschernobyl. Bis dahin hatte es eine breitere oder gar öffentliche Debatte
über Pro und Kontra der Kernenergie in der DDR nicht gegeben. Der Informationsbedarf
war riesig. Wie arbeitet eigentlich so ein Atomkraftwerk, was kann bei einem
Unfall passieren, welche Gefahren bestehen für die Bevölkerung, ist die
Kernenergie unverzichtbar oder gibt es Alternativen? Ich schrieb in den Folgemonaten
den Text für eine Broschüre, die interessierten Mitmenschen helfen sollte,
sich in der Debatte zurechtzufinden und selbst eine Meinung zu bilden.
Vervielfältigt – mit 1000 Exemplaren, das war für DDR-Verhältnisse eine hohe
Auflage - wurde das Heft im „Kirchlichen Forschungsheim“ in Wittenberg, einer
Schaltstelle für die systemkritische Umweltarbeit in der DDR. Wir gaben dem
Heft etwas schlitzohrig den Titel „... Nicht das letzte Wort“ (Kernenergie in
der Diskussion). Das war ein Honecker-Zitat, mit dem er in einem Interview
nach den Ereignissen von Tschernobyl einer endgültigen Bewertung ausgewichen
war. Und da unser Heft ohnehin illegal erschien - natürlich stand wie immer
darauf „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch!“ - und wir grundsätzlich
mit offenen Karten spielen wollten, und natürlich auch weil wir gespannt waren,
was passieren würde, war es nur folgerichtig, dass ein Exemplar direkt per
Post an Erich Honecker ging.
Interessant war
der weitere Vorgang - das haben wir aber erst nach der Wende aus staatlichen Archiven
erfahren. Honecker hat unser Begleitschreiben tatsächlich in die Hand bekommen
und persönlich abgezeichnet. Und er hat die Angelegenheit nicht etwa an die
Stasi weitergeleitet, sondern um Prüfung durch Fachleute gebeten. Wenige Tage
später lag eine Expertise über Herausgeber und Verfasser vor, wir bekamen das
amtliche Etikett „oppositionell und staatsfeindlich“. Wenige Wochen später
waren wir aber nicht etwa im Knast, sondern erhielten eine Einladung in das
zuständige „Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz“ zu einem
Fachgespräch über den Inhalt des Heftes.
So etwas machte
durchaus Mut, weitere „staatsfeindliche Aktionen“ dieser Art ins Auge zu
fassen.
In diesem Land
DDR gab es kaum einklagbare Rechte, aber es gab eine Macht des kleinen Mannes,
die in den so genannten „Eingaben“ steckte. Man durfte und konnte sich
beschweren, wenn einem etwas nicht passte, und die staatlichen Stellen waren
verbindlich verpflichtet, innerhalb von vier Wochen die Angelegenheit zu
bearbeiten und zu klären. Und so beschwerte auch ich mich: weil ich keinen
Ersatzreifen für mein Auto bekam, weil aus einem Westpaket Schallplatten
beschlagnahmt worden waren, weil ein Dresdner Kraftwerk zu sehr qualmte. Einmal
schrieb ich an den Genossen Modrow, damals Bezirkssekretär der Einheitspartei
in Dresden, weil plötzlich einige Dutzend Militärmaschinen auf den Dresdner
Zivilflughafen standen und von morgens 6 Uhr an pausenlos über die Stadt
donnerten. Unerträglicher Lärm, schlaflose Kinder, genervte Nachbarn. Keine Antwort.
Ich wartete genüsslich den Ablauf der ominösen Vier-Wochen-Frist ab, dann rief
ich in der Bezirksleitung der SED an. Und löste das erhoffte Beben aus.
Hektische Betriebsamkeit, Entschuldigungen,
ein schriftlicher
Zwischenbescheid schon am nächsten Tag. Und eine Woche später erhielten wir in
unserer Wohnung amtlichen Besuch. Zwei hoch dekorierte Offiziere der NVA, die
in voller Uniform erschienen, breiteten auf dem Tisch geheime Karten aus, erläuterten
uns die militärische Lage im Luftraum über Dresden – und sie sagten zu, dass
die morgendlichen Flüge ab sofort erst eine Stunde später starten würden, und
ohnehin würden die Maschinen kurzfristig wieder verlegt.
Als wirksam
erwies sich auch das Zitieren von Stimmen und Zeugnissen, die die DDR zu ihren
Heiligtümern erklärt hatte, auf die sie stolz war und auf die sie sich selbst
immer wieder berief. Marx und Engels, Honecker und die Schlussakte von
Helsinki, die Menschrechtskonventionen der UNO oder die Umweltgesetze der DDR,
Parteitagsbeschlüsse oder veröffentlichte Zahlen – darauf konnte man sich
berufen, und man hatte damit stets gute Trumpfkarten für die Diskussion mit
amtlichen Stellen.
1987 durfte ich
ganz privat zu Besuch in den Westen reisen. Das kam überraschend, weil der Anlass
eigentlich keine zulässige Begründung für einen „Antrag“ war. Ich hatte angegeben,
dass ich zum „50. Geburtstag des Paten(!)-Onkels meines Sohnes“ eingeladen war.
Und trotz dieser windigen Begründung ließ man mich „raus“. Ob man hoffte, dass
ich drüben bleiben würde?
Dann stand ich
in der größten Münchner Buchhandlung - für einen lesebesessenen DDRler
schlichtweg das Paradies! -, knüllte meinen Merkzettel in der Hand mit der
Notierung der wichtigen Bücher, die ich suchen wollte – und es war schrecklich:
Es gab nicht nur die von mir gesuchten Bücher, sondern ringsum in den Regalen
standen Dutzende andere, deren Titel genauso verlockend klangen. Ich habe
nach zwei Stunden entnervt, verstört und ohne Buch dieses Haus verlassen.
Das Schlaraffenland Westen brachte ganz unerwartete Probleme. Es war schön
dort, es gab gute menschliche Begegnungen und irritierende, es gab viel
Staunenswertes: die Funktionsweise einer Ölheizung, der Besuch bei einem
Ethik-Leistungskurs in einem Gymnasium, Angebot wie auch Preise im Delikatessen-Tempel.
Das für uns im Osten so wertvolle Westgeld wurde im Westen ganz schön schnell
alle, zur Wirklichkeit gehörten auch Arbeitslose und Obdachlose.
Irgendwann saß
ich – den Kopf voller Eindrücke und die Plaste-Tüten voller Mitbringsel – im
Zug nach Hause. Das war für mich völlig klar: Es ging wieder nach Hause, dort
gehörte ich hin. Und diese Fahrt zurück in die DDR hatte eine ganz besondere
Bedeutung für mein Selbstverständnis. Ich kam freiwillig wieder, ich hätte mich
auch anders entscheiden können. Ab jetzt galt endgültig: gleiche Augenhöhe!
Ein schmales
Büchlein machte heimlich die Runde. Rainer Kunze, einer „von hier“, einer von
uns, hatte Geschichten niedergeschrieben, über Erlebnisse in der DDR, und sie
gingen uns nahe, weil sie unsere eigenen Erfahrungen wiederspiegelten. Der Band
„Die wunderbaren Jahre“ war leider nur im „Westen“ erschienen – dem DDR-System
galten die Erzählungen als staatsgefährdend und waren konsequenterweise
verboten. Aber wie konnten wir dennoch erreichen, dass mehr Menschen „hier“ so
etwas zu lesen bekamen, für die die Geschichten doch eigentlich bestimmt waren?
In dem staatlichen Institut, in dem ich damals arbeitete, gab es ein
ORMIG-Gerät, eine Maschine für einfache Vervielfältigungen. Das Gerät war
natürlich nur „für den Dienstgebrauch“ zugelassen und stand folglich unter
Verschluss und Genehmigungspflicht. Aber wir wussten, wo es stand und wie es
funktionierte.
Ich zog zwei
Kolleginnen ins Vertrauen, und sie waren bereit, jeweils einen Teil des
Buchtextes von Rainer Kunze abzuschreiben. Sie wussten, dass das strafbar war
und dass sie ihren Job riskierten – und sie taten es dennoch -, und so konnten
einige Wochen später einige Dutzend Leute das begehrte Buch in einer kleinen
„Sonderausgabe“ nutzen.
Unser
Instituts-Fotograf hat für mich Fotokopien ganzer Bücher angefertigt (z.B.
„Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome), die dann im Kollegen-Kreis und
anderswo in Dresden kursierten.
Ich habe viele
Menschen gekannt, die überhaupt keine Widerstandkämpfer sein, sondern einfach
nur in Ruhe in der DDR leben wollten - und die trotzdem Mutiges taten. Solche
Mit-Menschen zu haben, machte das Weiterleben in der DDR leichter - und den
Gedanken an´s Weggehen schwerer.
Die DDR hatte
Wolf Biermann ausgewiesen. Einige Tage später trafen wir uns wie jede Woche in
der „offenen Jugendarbeit“ der Weinbergskirchgemeinde. Die Stimmung war
aufgeheizt, Wut und Verzweiflung, hundert junge Leute, es kochte.
Zunächst begann
der Abend ganz banal. Ich war diesmal zuständig für die Verpflegung der Massen,
hatte aber vergessen, Brot zu holen. Ich stürzte also hektisch im Trabbi los
und fuhr oder parkte etwas auffällig. Eine Polizeistreife „griff“ mich, aber
als ich ihnen erklärte, warum ich etwas konfus sei, nämlich weil hundert Leute
darauf warten, dass ich was zu essen brächte, zeigten sie Verständnis und
wünschten mir sogar gute Fahrt.
Ich kam mit dem
Brot zurück und erzählte zum Start der Veranstaltung von meiner entspannten
Begegnung mit der Staatsmacht - das entkrampfte die Situation etwas.
Dann las Jojo
eine - in der DDR gedruckte - Geschichte vor, die Parabel vom Hahn und dem
Regenbogen: Immer wenn dieser wundersame Hahn krähte, erschien ein Regenbogen
am Himmel, und wenn die Menschen dann darunter hindurchgingen, dann konnten
die, die reinen Herzens waren oder verliebt, fliegen, die anderen aber, die
machtbesessen oder grausam oder verlogen waren, die mussten fortan auf allen
Vieren gehen. So haben wir an diesem bösen Abend doch lachen können. Die Stasi
hatte mit dem Schlimmsten gerechnet. Im Umfeld der Kirche waren Beobachter
postiert und im weiteren Umkreis wurden alle Fahrzeuge erfasst. Meiner
Stasiakte habe ich später entnommen, dass so alle Autobesitzer auf unserer
Straße vorübergehend ins Fahndungsraster gerieten.
Ich verehrte
Willy Brandt wegen seiner klugen und erfolgreichen Ostpolitik gegenüber der DDR
und der Sowjetunion, die zu spürbarer Entspannung und Erleichterungen geführt
hatte. Dann kam die „Guillaume-Affäre“. Die DDR hatte erfolgreich einen Spion
im Bundeskanzleramt eingeschleust, der Willy Brandt beraten hatte. Brandt trat
zurück. Als ich davon erfuhr, habe ich spontan einen Brief an ihn geschrieben,
seinen Abgang bedauert und ihm für sein Wirken gedankt. Der Brief plumpste ganz
offiziell in einen normalen Briefkasten mit einer geratenen Anschrift, etwa
„Bundeskanzler Willy Brandt, 5300 Bonn, BRD“. Er muss normal befördert worden
sein - andere derartige Briefe von mir hat die Stasi immer wieder abgefangen
und in ihre Akten geheftet -, denn einige Wochen später erhielt ich Post mit
einer Abstempelung „Ollenhauerhaus in Bonn“, das war die Parteizentrale der
SPD. Darin steckte eine Karte mit einem handschriftlichen Dank von Willy
Brandt.
Es war schon
erstaunlich, dass mein Brief „hingefunden“ hatte und dass auch die Antwort
nicht „verlorengegangen“ war.
Mein Freund B.
hatte den Ehrgeiz, zum Zelten praktisch ohne Mobiliar anzureisen und alles
selbst zu bauen. In den ersten Tagen nach der Ankunft saß die Familie noch auf
dem Fußboden, Bernd war ständig unterwegs, kam mit Ästen aus dem Wald oder mit
Brettern vom Strand und fertigte daraus Regale und Kisten und Hängematten und
ähnlich nützliche Dinge. Eines Tages entdeckte er einen schönen festen Draht,
der im Wald herumlag, rollte ihn auf, und als der Draht kein Ende nahm, kniff
er ihn einfach mit der Zange ab. Ein paar Stunden später entstand große Aufregung
auf dem Zeltplatz, Grenzsoldaten bevölkerten den Wald. Bernds Basteldraht war
das Telefonkabel der Grenztruppen der DDR gewesen ...
Zu unserem
Zeltplatz-Freundeskreis gehörten eine Anzahl sangesfreudiger und instrumenten-kundiger
Mitmenschen. Wir wurden gefragt, ob wir nicht ein Konzert für Urlauber in der
Kirche von Altenkirchen ausgestalten könnten, und wir beschlossen, mit 8 Leuten
vierstimmig zu singen. Das bedeutete aber erst einmal üben. Zu den Proben gingen
wir abseits vom Zeltplatz ein Stück in den Wald. Die Gerüchteküche meinte, als
im Fichtendickicht Schützchoräle erklangen, da sei jetzt wohl eine „Sekte“ auf
dem Platz). Ein paar Tage später sangen wir unser Programm in der Kirche. Zur
Verabschiedung baten wir nicht um Geld, sondern schilderten dem andächtigen
Publikum unsere Not: Wir brauchten auf dem Zeltplatz Zwiebeln zum Kochen, aber
die waren gerade nirgendwo zu kriegen - wenn jemand solche hätte, möge er die
Gabe in der Sakristei der Kirche hinterlegen. Ein paar Tage später ward unser
Wunsch tatsächlich erfüllt.
Ein Doktor der
Theologie aus Berlin „bewohnte“ die Strandburg neben uns. Er hatte Kinder, die
mit unseren Kindern spielten, und so hockten wir öfter zusammen. Er hatte aber
auch eine Schwiegermutter, und die betrieb einen privaten Fischladen mit
Räucherei in Saßnitz. Frischfisch war eigentlich auch an der Ostsee „Bückware“.
Solche Dinge gab´s nur, wenn die Verkäuferin sich hinter der Ladentafel bückte
und für besondere Kunden begehrte Raritäten „fand“. Und gar Aale galten als
längst verschollene sagenhafte Fischart ... Aber die Schwiegermutter hatte das
alles, der Doktor holte mit dem Trabbi eine Ladung, und dann brutzelten in
mehreren Pfannen Dutzende (!) Aale, dazu gab´s noch panierte Schollen. Wir
spendierten den Rotwein zum Menue und revanchierten uns, indem wir unsere
Westbücher als Urlaubslektüre verliehen.
Sommerurlaub.
Drei lange Wochen im Zelt an einem See in Brandenburg. Paddeln, Wandern, Baden,
Gewitterangst – alles war schon gewesen. Die Kinder langweilten sich. Dem Vater
musste was Neues einfallen. Ich beschloss, mich als Bootsbauer zu versuchen.
Ein passendes Brett war bald gefunden, nach einigen Beilhieben war die Form
eines Schiffsrumpfes zu ahnen. Es schwamm. Aber den Kindern reichte das noch
nicht. Es sollte ein Segelschiff sein. Das mit dem Mast war ja noch einfach –
ein Loch wurde in das Brett gebohrt, ein gerader Ast hineingesteckt und
festgekeilt. Aber woher nun ein Segel nehmen? Die rettende Idee: einfach ein
Blatt Papier aus dem Schreibblock, Format A4, oben und unten ein Loch hineingerissen,
vorsichtig über den Mast gezogen – und nun blähte sich stolz das weiße Segel im
Wind. Und wenn das Schiff ordentlich zu Wasser gelassen wurde und richtig zum
Wind stand, fuhr es wirklich los. Allseits Freude, und wir spielten Seefahrt.
Bis plötzlich
etwas Eindrückliches geschah. Weit drüben am anderen Seeufer kam Bewegung auf.
Ein Schwan, der dort all die Tage immer majestätisch auf und ab geschwommen war,
die Ruhe in Person, begann plötzlich mit seinen mächtigen Flügeln zu schlagen,
rauschte und flatterte ganz gewaltig und setzte sich in Bewegung. Dicht über
dem Wasser raste er in gerader Linie direkt auf unsere kleine Bucht zu. Das
wirkte schon ziemlich bedrohlich. Der Schwanenvater hatte uns schon fast
erreicht, als er Hals über Kopf seinen Sturmlauf „bremste“ und irgendwie
unsicher und verlegen wenige Meter vor uns herumschwamm. Alarm beendet. Die Kinder
wurden beruhigt. Aber was war da passiert? Nach einigen Tagen habe ich den
ungewollten „Versuch“ noch einmal wiederholt. Unser Schiff kriegte eine neues
blendend weißes Papiersegel, und dann wurde damit einfach hin- und hergefahren
... Und es klappte. Einige hundert Meter weiter war ein Schwanenpaar in
Begleitung einiger grauer Küken auf Familienausflug. Als sie nach wenigen
Minuten unser Segel bemerkten, ließen die Eltern ihre Kinder im Stich - so
wichtig war ihnen der weiße Fleck! - und rasten über den See los in Richtung
auf unser unschuldiges Schiffchen. Wieder bedrohliches Rauschen, dann
Notbremsung wenige Meter vor uns und verlegenes Abdrehen der großen Vögel.
Wahrscheinlich hatten sie aus der Ferne unser harmloses Papiersegel wegen
Farbe und Größe für einen Schwanen-Konkurrenten gehalten, der an „ihrem“ See
nichts zu suchen hatte und der verjagt werden musste. Das Revier musste
verteidigt werden, das war so wichtig, dass sogar die eigenen „Kinder“ im Stich
gelassen wurden. Ein weißer Fleck von der richtigen Größe reichte aus, um das
Verhaltensprogramm anzuschalten und abzuspielen. Ich habe meine Beobachtungen
zur Verhaltensforschung später an eine Tierzeitschrift im Westen geschickt, wo
der Beitrag auch gedruckt wurde; die Stasi hat das verwirrt protokolliert.
Ein sonniger Nachmittag
im Frühsommer. Wir saßen plaudernd auf der Terrasse, der Tee dampfte in den
Gläsern. Im Garten lärmten und sangen die Vögel. Plötzlich war da etwas Neues!
Wir hatten es beide gehört, sahen uns zunächst verunsichert an und begannen
dann zu raten, welcher Vogel wohl so singen könnte. Wir versuchten auch, die
Richtung zu bestimmen, aus der die Töne kamen, um den Sänger vielleicht zu
entdecken. Merkwürdig, der Gesang kam von tief unten, irgendwo aus dem
Gebüsch neben den Erdbeeren. Nun war die Neugier doch größer als das
nachmittägliche Ruhebedürfnis. Vorsichtig schlichen wir in die Richtung, wo
weiterhin der Gesang ertönte. Ganz unten auf der Erde? Da war es: Eine dicke
Igel-Mutter wackelte durch die Beete, und hinter ihr torkelten fünf kleine Stachel-Bällchen
im Gänsemarsch. Sie ließen sich von uns gar nicht stören, sondern wanderten
weiter – und sie sangen dabei. Die Igelfamilie unterhielt sich mit
quietschend-melodischen Tönen, die an das Zwitschern von Vögeln erinnerte.
Seltsame Vögel. Es stellte sich heraus, dass sie zu einem Nest unterwegs waren,
einem Haufen von vorjährigem Laub und Gras, in dem sie untertauchten und leise
weiter zwitscherten. Wir stülpten eine Kiste über die Sommerwohnung als Schutz
gegen Regen und neugierige Kinder. Und da haben unsere Singe-Igel in den
nächsten Wochen gelebt. Als Futter stellten wir ihnen aber doch kein Vogelfutter
vors Haus, sondern sie fraßen gern schmatzend den Inhalt von Dosennahrung für
Katzen.
Mach mal was Passendes
Es war einer
jener Augenblicke im Leben, die nie mehr aus dem Gedächtnis verschwinden. Der
DDR-Rundfunk hatte es in den Nachrichten ausführlich gemeldet: Gerhard Zachar
und Henry Pacholski waren auf einer Straße in Polen tödlich verunglückt.
Nüchtern. Amtlich. Ein plötz¬licher, schriller und schmerzlicher Akkord. Die
Ära Lift –auch ein wichtiger Abschnitt in meinem Leben – war von diesem Tag an
Vergangenheit. …
Monate später
kam ein Anruf. Werther Lohse: Wir wollen weitermachen mit Lift, ich steige
wie¬der ein. Und: Wir brauchen Texte, kannst du? Wenig später brachte mir
Wolfgang Scheffler ein Demo-Band mit schon ziemlich fertigen Musikstücken
vorbei: Mach da mal was Passendes dazu! Mir war es eigentlich immer lieber
gewesen, wenn Musikanten zu ihren musikalischen Ideen auch ein paar inhaltliche
Vorstellungen dazu packten, worum es in dem Text etwa gehen könnte. Diesmal
nur: Mach mal …
Die Melodie
zehnmal, zwanzigmal hören, Welche Worte, welche Geschichten könnten dazu
passen? Wo sollte ich anknüpfen? Erinnerungen stiegen hoch, wie war das damals
gewesen? „Am Abend mancher Tage, da stimmt die Welt nicht mehr.“ Es wurde ein
Text von Bruchstellen im Leben, die weh tun, und von dem Mut, trotzdem wieder
aufzustehen.
Ich nahm den Textentwurf
mit zur Probe von Lift ins Kulturhaus von Heidenau. Wolfgang war sich unsicher,
ob das Lied nicht insgesamt (Musik und Textidee) zu schmalzig und
gefühlsbeladen sei. Ich habe daraufhin noch zwei weitere Textentwürfe mit ganz
anderen Inhalten abgeliefert. Dann probte die Band wieder im Kulturhaus. Der
Hausmeister lief durch den Raum, hielt andächtig inne, und er sagte, nachdem
das Lied verklungen war: „Das wird ein Hit.“ Und auf sein Votum hin entschied
die Band: Wir machen das Lied fertig, und es bleibt bei dem ersten Text.
Bald erschien
die Schallplatte, der Titel fand erstaunlich gute Resonanz in den Hitparaden,
wurde am Jahresende sogar DDR-Hit des Jahres.
Ich habe danach
nie wieder einen Rockmusik-Text geschrieben.
Am Ende des
Jahres 1980 habe ich einige Stunden lang am Radio gesessen. Die hundert besten
Pop-Musik-Titel des Jahres in der DDR wurden gespielt. Ich wartete auf ein
Lied, zu dem ich den Text geschrieben hatte: „Am Abend mancher Tage“. Es
blieben nur noch wenige Titel bis zu Platz 1, hatte ich´s doch verpasst? Am
Ende gab´s die große Überraschung. „Mein“ Lied stand auf dem ersten Platz!
Am Abend mancher Tage
Ref.
Gib nicht auf,
denn das kriegst du wieder hin!
Eine Tür schlug zu,
doch schon morgen wirst du weiter
seh´n ...
3. Manchmal ist eine Liebe erfroren über Nacht.
Manchmal will man hin zur Sonne -
und stürzt ab.
Manchmal steht man ganz allein da,
ringsum ist Eis,
alles dreht sich nur im Kreis.
Ref.
Gib nicht auf ...
4. Am Abend mancher Tage - da stimmt die Welt
nicht mehr:
Irgend etwas ist zerbrochen, wiegt
so schwer.
Und man kann das nicht begreifen,
will nichts mehr seh´n -
und doch muss man weitergeh´n
... und man läßt sich einfach
treiben,
will nichts mehr seh´n,
und doch wird man weitergeh´n
...
(Rock-Gruppe LIFT, 1979,
Text: Joachim Krause, Musik:
Wolfgang Scheffler)
Ich brauchte
neue Schuhe. Und ich hatte riesiges Glück. In einem Laden, den ich aufsuchte,
gab es Halbschuhe, die mir gefielen, Leder, dezent rotbraun, gefälliges Design
– und sie waren aus Italien! Das konnte eigentlich nicht wahr sein, und dazu
waren sie gar nicht teuer. Ich griff zu, trug meine Errungenschaft ab sofort
stolz an den Füßen. Aber wenige Tage später musste ich entdecken, dass sich
die Sohle löste. Bei West-Schuhen ... Ich trug die Treter in das Geschäft
zurück. Dort war meine Größe zum Glück noch vorrätig, und ich erhielt Ersatz.
Aber eine Woche später war auch da die Sohle ab. Als ich erneut im Laden
aufkreuzte, herrschte dort betretenes Schweigen. Ich bekam keine Ersatzschuhe
mehr, sondern mein Geld zurück. Mit einer Erklärung und Entschuldigung: Die DDR
hatte bei einem Großeinkauf auf dem internationalen Markt gemeint, mit diesen
Schuhen - für extrem niedrige Preise - ein Schäppchen gemacht zu haben. Zu spät
erst hatte man gemerkt, dass Schuhe erworben worden waren, mit denen gar
niemand laufen sollte, sondern die man in Italien Toten mit in den Sarg gibt
...
Unsere Kinder
spielten mit Nachbars Rangen gern in der „Drachenschlucht“ gegenüber, einem
kleinen Tal mit alten Bäumen und mancherlei interessantem Müll und
Schmetterlingen und anderem Getier.
Eines Abends
kam der Sohn nach Hause und erzählte, dass die Kinderschar am Nachmittag einen
Maulwurf gefunden und mit ihm gespielt habe, er sei aber nun leider tot und man
habe ihn feierlich begraben.
Meine Frau
hatte aber am gleichen Tag in der Zeitung gelesen, dass in unserem Stadtgebiet
bei Wildtieren die Tollwut ausgebrochen. Und so war Panik angesagt. Ein totes
Tier, spielende Kinder ... Ein Anruf beim Veterinäramt ergab: Wenn das so ist,
müssen Sie das Tier finden und zu uns bringen, nur mit einer Untersuchung
können wir Tollwut ausschließen, sonst müssen alle Kinder. die mit dem Tier
Kontakt hatten, geimpft werden, was bei Tollwut ziemlich langwierig und unangenehm
ist. Nach einer schlaflos verbrachten Nacht, in der es auch noch pausenlos
geregnet hatte, musste der Sohn die Mutter in die Drachenschlucht begleiten.
Mit einiger Mühe wurde der Maulwurf tatsächlich gefunden, konnte untersucht
werden, und es gab Entwarnung.
Eine Freundin
war bei uns zu Besuch, in Dresden, oben auf dem Hang. Dämmerlicht, Rotwein, das
Gespräch plätscherte so dahin. Plötzlich war da etwas. Irgendwas stimmte nicht.
Dann sahen wir, wie im Aquarium, das im Bücherschrank stand, das Wasser hin und
her schwappte. Aus der benachbarten Küche kamen merkwürdige Geräusche. Ich
ging hinüber und sah, wie dort Gläser auf dem Tisch hin und her rollten. Wir
alle wussten, obwohl wir das noch nie erlebt hatten: Das ist ein Erdbeben! Die
Kinder wurden aus dem Bett gerissen, aber ehe wir die Treppe hinuntergehen
konnten, war alles schon wieder vorbei. Der Puls raste noch, aber war das
wirklich ...? Am nächsten Tag stand es amtlich in der Zeitung, dass die Erde
gebebt hatte, es war also doch nicht der Rotwein gewesen.
In der DDR gab
es, nicht nur wegen der ständigen Mangelwirtschaft, sondern auch als grundsätzlich
ganz sinnvolles Prinzip die staatliche Vorgabe, dass alle heimischen
Ressourcen an Obst genutzt werden sollten. Damit das funktionierte und sich
auch lohnte, war festgelegt, dass in jeder angebotenen Menge Obst aufgekauft
werden musste, und dafür gab´s auch noch richtig Geld, was das Pflücken lohnte.
So kriegte der Staat etwas Obst in die Verkaufsstellen, aber der Bürger hatte
einen Anspruch darauf, dass sein Obst immer aufgekauft werden musste, auch in
Jahren mit „Obstschwemme“.
Wir haben also
immer im Herbst unsere Äpfel und Birnen - vorsichtig gepflückt und
wohlsortiert in Tafelobstqualität - in die Verkaufsstellen der HO
(„Handelsorganisation“) gebracht, und zehn Minuten später waren sie schon in
der Auslage zu finden Dabei war der staatlich vorgegebene Aufkaufpreis
manchmal höher als der - ebenfalls festgelegte - Verkaufspreis, zu dem sie nun
angeboten wurden.
Es gab aber auch die Pflicht zum Aufkauf von „Mostäpfeln“ minderer Qualität,
die nur für die industrielle Verarbeitung oder zur Saftherstellung geeignet
waren. Mit Kisten und Säcken standen wir in der Schlange der Lieferer, die
Äpfel wurden gewogen, in andere Kisten umgefüllt, und wir bekamen dafür gutes
Geld. In knappen Jahren wurde das Obst auch wirklich schnell abtransportiert
und verwertet, aber wenn zu viel gewachsen war, waren die
Verarbeitungskapazitäten einfach überfordert, dann wurde trotzdem aufgekauft,
aber anschließend standen manchmal die überquellenden Kisten wochenlang in
der Sonne und das Obst faulte, umschwärmt von Wespen, in den Kisten vor sich
hin. Irgendwann wurde alles weggeschmissen.
Viele besserten
mit der Haltung von kleinen und großen Tieren ihr Einkommen auf: Hühner,
Karnickel, Schweine, Mastochsen wurden zu Hause gefüttert und verkauft – an den
„Staat“, denn der zahlte garantierte und relativ hohe Aufkaufpreise. Da lohnte
es sich eben, die Hühnereier im „Konsum“ zunächst „abzuliefern“ und diese fünf
Minuten später – es waren die gleichen Eier (!), nun aber für´s halbe Geld -
für den eigenen Bedarf zurückzukaufen. Wer rechnen konnte, holte auch das
Futter für sein Viehzeug zu staatlich subventionierten Tiefstpreisen in der
Verkaufsstelle, einmal einen Kasten Trinkmilch und ein paar Brote für´s Schwein
und ein andermal Haferflocken für die Gänschen oder Wintermöhren für die
Schafe.
Das befreundete
Ehepaar A. hatte eine Zeitlang in Moskau studiert. Und neben manchen anderen
spannenden Erfahrungen brachten sie ein Kochrezept mit, das sie von einem Kollegen
aus Usbekistan übernommen hatten. Eines Tages wurden wir eingeladen: Es gäbe
PLOW (gesprochen „Ploff“). Nie gehört, aber neugierig machten wir uns auf den
Weg. In der ganzen Wohnung waberten würzige Dämpfe. Später türmte sich auf dem
Tisch auf einem großen Holzbrett ein Berg aus Reis, aus dem Möhren und
Fleischstückchen hervorragten, und dessen Gipfel mit Zwiebelringen belegt war.
Alle versammelten sich erwartungsvoll in enger Runde um den Tisch. Teller,
Essbesteck ? – Fehlanzeige. Wir lernten, dass in Moskau der Originalplow oft
einfach auf einer „Prawda“ (Zeitung) als Unterlage ausgebreitet worden war, und
dass dieses Gericht stilvoll eben nur mit den Fingern gegessen würde. Zunächst
etwas zögerlich begannen wir, uns in den heißen Reisberg hineinzuarbeiten.
Klebrig, deftig, würzig, köstlich! – das war unsere Erstbegegnung mit einem
Gericht, das in den Folgejahren im Freundeskreis zur Legende wurde. Im Laufe
der Zeit wurde das Originalrezept den Geschmackserwartungen von Mitteleuropäern
sowie den Bedingungen und Möglichkeiten der DDR angepasst. Manche Gewürze
mussten ersetzt werden. Von den zwei in der DDR angebotenen Reissorten erwies
sich nur der „Brühreis“ als geeignet. Der musste allerdings zuerst aus der Tüte
geschüttet und ausgelesen werden (kleine Steinchen und Ratten-Köttel waren
immer zu finden). Und dieser Reis brauchte manchmal eine Stunde, um weich zu
werden! Frische Möhren gabs auch nicht immer – also wurde mit Gemüse aus dem
Glas experimentiert. Um für einen PLOW an der Ostsee die nötigen Zwiebeln zu
bekommen, haben wir einmal sogar die Besucher eines Chorkonzertes (das wir
gestalteten) um Naturalspenden gebeten – mit Erfolg. Und was für eine
Fleischqualität man erwischte, war immer auch ein Glücksspiel – manchmal haben
wir heftig an den Sehnen und Schwarten alter Kühe herumgesäbelt. Wenn man sich
mit Freunden traf – zu Geburtstagen oder Kindstaufen – immer öfter dampften
PLOW-Berge auf den Tischen. PLOW gabs sogar am Arbeitsplatz: In dem Institut,
in dem ich damals arbeitete, war es eigentlich Tradition, dass zu Geburtstagen
in der Abteilung eine Torte „ausgegeben“ wurde. Ich habe diese Regel
durchbrochen, einmal in jedem Jahr die Küche okkupiert – und dann saßen
eigentlich wohlerzogene Akademiker im Kreis, schnappten sich gegenseitig die besten
Fleischbrocken vor der Nase weg und schleckten genüsslich die letzten
Reiskörnchen von den Fingern. Auch unter erschwerten Bedingungen war PLOW ein
Muss. Zu unseren Zelturlauben an der Ostsee schleppten wir immer den
DDR-typischen, für die PLOW-Bereitung bestens geeigneten
Fünf-Liter-Schnellkochtopf (SKT) aus Aluminium mit. Es war nicht ganz einfach,
quasi im Freien rund um den Campingkocher eine Großküche zu improvisieren, aber
jede Woche einmal wurden vier oder fünf Campingtische in einer langen Reihe
zusammengestellt, sauber abgewischt, die PLOW-Hügel wurden direkt auf der
Tischplatte errichtet - und dann luden wir die ganze Nachbarschaft mit Kind und
Kegel ein, und 20 und mehr Menschen saßen beim fröhlichen Palaver stundenlang
beisammen. Ich habe inzwischen bestimmt hundert Mal PLOW gekocht, und dabei
alle Extreme probiert. Als ich einmal zum Geburtstags-PLOW eingeladen hatte,
konnte mein Freund H. auf einer Dienstreise nur vormittags mal kurz
vorbeikommen. Und da habe ich ihm zu Ehren eben extra einen „Ein-Mann-PLOW“
zubereitet. Und der größte PLOW, dessen Zubereitung ich zu verantworten hatte,
wurde von mehr als hundert Menschen gegessen. Es war mein Abschiedsfest im
Dresdner „Weinberg“. Da saßen ein Dutzend nette Helfer schon Stunden vor dem
Mahl bei der Vorbereitung zusammen und „schnippelten“ Gemüse. Ich erinnere mich
an vier Eimer, gefüllt mit geschnittenen frischen Zwiebeln, an mehrere
Kinderbadewannen mit Bergen geschnittener Möhren. Gekocht wurde parallel in
zwei Küchen. Unsere Freunde wohnten auf der anderen Straßenseite, so war
Blickkontakt von Küchenfenster zu Küchenfenster möglich, die Telefonleitung
glühte, und manchmal wurde ein Bote auf die andere Seite geschickt, um Salz zu
holen oder ein paar Tüten Reis zu bringen. Sechs riesige Töpfe dampften, nahmen
nach und nach die Zutaten auf – und später am Abend im Garten an
kerzenbeschienenen Tischen wurden tatsächlich alle Gäste satt.
Der Mann, der an allem „schuld“ war, hieß Bachrom. Er war Astrophysiker, und er
kam eines Tages zu Besuch nach Dresden. Und: Er würde PLOW für uns kochen, er,
der Meister, und „richtigen“ PLOW! Ich ließ es mir nicht nehmen, live dabei zu
sein. Abends gegen 8 Uhr sollte das Essen stattfinden, ich ging also schon am
Nachmittag hin, um nichts zu verpassen. Bachrom saß – in Socken und im
schwarzen Anzug – in der Küche der Familie A. und aß Marmeladenschnitten; das
schmecke doch viel besser als jeder PLOW, meinte er. Im Topf schmorte (als
kompaktes Stück) ein 2-Kilogramm-Rinderbraten vor sich hin. Das dauerte
natürlich, aber Bachrom hatte alle Zeit dieser Welt. Die Gäste trudelten ein,
gespannt, hungrig, es wurde 8, es wurde 9, in der Küche war keine Hektik. Es
gab ja Marmeladenbrote. Endlich war der Braten durch, wurde zerschnitten, der
Rest der PLOW-Zutaten kam in den Topf, und endlich gegen 10 wurden die Gäste an
den Tisch gebeten, und sie stürzten sich – dem Verhungern nahe - auf den
Reishügel, der schnell zusammenschrumpfte. Bachrom saß entspannt in der zweiten
Reihe, angelte sich immer mal gelassen ein Reisbällchen – und er war etwas
verstört, denn bei ihm zu Hause war PLOW-Essen nicht ernährungsorientierter
Selbstzweck, sondern eine schöne Nebensache, um Gäste zu ehren, stundenlang in
Gemeinschaft zusammenzusitzen, und in aller Ruhe und Gelassenheit mehr oder
wenige wichtige Dinge zu bereden.
Rezept zur Bereitung eines köstlichen
PLOW
a) Das braucht man:
(für 12
„plowerfahrene“, hungrige Esser;
die Mengen können reduziert und die Relationen abgewandelt werden,
Vorsicht aber vor zu viel Salz oder Pfeffer!)
b) So macht mans:
Das Fleisch
wird in kleine Stücke geschnitten (2-3 Zentimeter große Würfel, wie Gulasch).
In einem großen Topf (am Ende muss ALLES hineinpassen, also möglichst 5 Liter
oder mehr) wird zunächst das Öl erhitzt. In das heiße Öl wird unter Rühren das
Fleisch gegeben. Unter schwacher Hitze wird das Fleisch weiter erhitzt, bis
sich die ersten Stücke bräunen (zwischendurch rühren, damit das Fleisch nicht
am Boden festbrennt).
Inzwischen
werden die Zwiebeln (grob) und der Knoblauch (fein) geschnitten und dann zu dem
Fleisch gegeben, umgerührt und weiter gekocht, bis die Zwiebeln glasig geworden
und praktisch verschwunden sind.
In der
Zwischenzeit (oder schon vor Beginn des Kochens) werden die gewaschenen Möhren
in 3 bis 4 Zentimeter lange Stücke zerteilt und anschließend kreuzweise
geschnitten, sodass grobe Stifte entstehen (etwa 1x1x4 Zentimeter). Variante:
Manche Köche raspeln die Möhren auch nur grob.
In den Topf mit
dem vorgebratenen Fleisch- und Zwiebel-Gemisch werden nun zunächst die Möhren-Stäbchen
gegeben. Ab jetzt darf nicht mehr umgerührt werden! Man füllt kochendes Wasser
auf, bis es etwa 2 bis 4 Zentimeter über den Möhren steht. Man erhitzt
vorsichtig, bis alles köchelt (Fleisch und Zwiebeln sollen möglichst nicht nach
oben „durchkochen“). Dann gibt man den Saft einer Zitrone sowie Salz, Pfeffer
und Kreuzkümmel zu (vorsichtig, die oben
angegebene Richtmengen beachten, wenn sich das ganze vermischt hat, sollte man
die Brühe kosten und evtl. nachwürzen).
Die Brühe
sollte jetzt etwa 2 bis 3 Zentimeter hoch über den Möhren stehen. In die
köchelnde Brühe gibt man nun den gesamten Reis - schön locker einstreuen, denn
er soll nun in der Brühe ziehen und ihren Geschmack aufnehmen. Der Reis muss
vollständig (1 bis 2 Zentimeter hoch) von der Brühe bedeckt sein.
Deckel drauf, auf schwacher Flamme am Kochen halten. Man sollte die Reisschicht
während des Kochens immer einmal durchstechen und lockern, und wenn der Reis
das Wasser aufgenommen hat, sollte man immer einmal etwas kochendes Wasser zugeben,
damit er von Feuchtigkeit bedeckt bleibt. Man kann auch gegen Ende des
Kochvorgangs immer einmal mit dem Stiel eines Holzlöffels bis zum Topfboden
durchstechen, dann brodelt die Brühe von unten hoch. Und auch am Topfrand kann
man immer mal mit einem Eierkuchenwender oder anderen flachen Küchengegenstand
(Schaumkelle) den Reis von der Topfwand trennen und nach innen drücken (damit
auch der außen an der kühleren Topfwand liegende Reis mal auf hundert Grad
kommt). Der PLOW muss immer feucht bleiben. Durch Kosten – Proben am Topfrand
entnehmen, da dauerts am längsten mit dem Garwerden – wird festgestellt, wann
der Reis „durch“ ist. Der Reis kocht immer deutlich länger, als auf der
Verpackung steht!
Es ist durchaus sinnvoll, dann zwar die Heizung abzustellen, aber die
Reisschicht des PLOW noch einmal „durchzugraben“ und ihn dann weitere 10
Minuten lang mit geschlossenem Deckel ziehen zu lassen.
c) So wirds serviert und verzehrt:
Der PLOW wird
im Original mit den Fingern gegessen – das klingt gewöhnungsbedürftig, ist aber
sehr kommunikativ. Das bedeutet aber, dass mehrere Personen eine gemeinsame
„Quelle“ nutzen. Bei 12 Leuten werden das zwei oder auch drei Ess-Plätze am
gemeinsamen Tisch sein. Man benötigt – wenn man den PLOW nicht direkt auf der
gesäuberten Tischplatte servieren will – 2 oder 3 größere Kuchenteller oder
Kuchenbretter oder Holzplatten (z.B. Schneidebretter).
Auf jeder Unterlage wird jetzt ein PLOW „gebaut“, der am Schluss ähnlich
aussieht wie ein großer Napfkuchen. Zunächst entnimmt man dem Topf den Reis und
baut daraus die unterste Schicht auf die Teller. Dann werden die Möhren darüber
geschichtet und ganz zum Schluss wird die oberste Schicht aus Fleisch und
Zwiebeln gebaut. Mit dem Eierkuchenwender oder einem anderen flachen Gegenstand
werden nun dir Ränder angedrückt und das Ganze zu einer Halbkugel-förmigen
Torte geformt.
Man schneidet noch 2 bis 3 frische zarte Zwiebeln in Scheiben und streut die
Ringe oben auf den PLOW. Über das Ganze (alle Einzel-PLOWs) wird noch der Saft
einer Zitrone geträufelt.
Man sollte die Gäste den PLOW erst sehen lassen, und zu Tisch bitten, wenn
alles fertig gestaltet ist.
Als Getränk wird im Original grüner Tee gereicht, aber in Mitteleuropa ist
alles andere auch erlaubt.
Die Finger sind
das Ess-Besteck! Servietten können also hilfreich sein.
Der PLOW wird
von unten her gegessen. Man beginnt also am Reis zu kratzen, formt kleine
Bällchen und führt sie zum Mund. Das Fleisch ist –eigentlich und zunächst –
tabu. Es fällt später herunter und darf dann gegessen werden. Es ist zulässig,
dass der Hausherr mit seiner sauberen Hand zwischendurch oben auf den PLOW
drückt und ihn flach macht.
Eigentlich
bleiben keine Reste übrig. In Usbekistan geht der Hausherr freundlich herum,
formt Reisbällchen und stopft sie den Gästen persönlich in den Mund. Wir haben
aus den Resten manchmal am nächsten Tag eine köstliche PLOW-Suppe gerührt.
Guten Appetit!
Es gab in der DDR
vieles nicht, aber eigentlich gab es doch fast alles. Die Dinge waren nur nicht
zur rechten Zeit am rechten Ort, wo der Kunde sie gerne gekauft hätte. Man
musste entweder die richtigen Leute kennen - „Beziehungen“! - oder man musste
den richtigen Riecher dafür haben, wann es wo etwas gab.
Ferngläser gab es in Dresden schlecht, obwohl Carl Zeiss in Jena doch gute
Gläser herstellte. Aber ich musste nur einem Kollegen, der zur Dienstreise nach
Berlin aufbrach, meine Bitte sagen, dann machte er – neben dem dienstlichen
Besuch im Ministerium – einen Abstecher in einen bestimmten Laden, und am
nächsten Tag war ich stolzer Besitzer eines Feldstechers.
Ein andermal
suchte ich eine Schreibmaschine, aber es gab eben keine. Nach längeren Recherchen
hatten mir Eingeweihte verraten, wie das ging: Man musste einfach - ohne
Voranmeldung und ohne Beziehungen zu haben - montags früh um 8.30 Uhr
möglichst als erster Kunde vor einem bestimmten Fachgeschäft in der
Räcknitzstraße stehen. Und tatsächlich, das klappte: Es gab immer vier bis fünf
Schreibmaschinen. Nun hatte ich auch mal was zu bieten! In den nächsten Monaten
habe ich die ganze Verwandtschaft mit solchen Geräten versorgt.
In der ständigen Suche nach irgendwas aber merkte man manchmal zu spät, dass
man nach stundenlangem Stehen in einer Schlange etwas erworben hatte, was man
so dringend eigentlich gar nicht brauchte ...
Peter ging in
unserer Familie ein und aus, trank literweise Tee, diskutierte nächtelang über
Gott und die Welt und die DDR. Nun stand ihm etwas Wichtiges bevor. Er durfte
das erste Mal zur Wahl gehen (es war so etwa 1980). Wir hatten vorher über das
Pro und Contra geredet, er war entschlossen, hinzugehen. Er war früh als erster
im Wahllokal erschienen, bekam – wie jeder „Erstwähler“ – einen Blumenstrauß.
Er hätte nun, den DDR-Spielregeln für eine Wahl folgend, folgendes tun müssen:
den Wahlzettel in Empfang nehmen und dann auf direktem Weg zur Wahlurne gehen
und den unveränderten Schein einwerfen. Das hieß „offene Stimmabgabe für die
Kandidaten der Nationalen Front“, wäre politisch erwünscht und staatbürgerlich
korrekt gewesen.
Peter aber ließ sich, geduldig und eben als demokratie-unerfahrener Neuling,
zeigen, wo die Wahlkabine stand, was entsetzte Blicke der Wahlhelfer hervorrief.
Aber es gab wirklich eine Kabine – weit hinten in der Ecke. Er schritt tapfer
dorthin, machte irgendwas und steckte dann seinen Wahlschein in die Urne.
Abends nahm er mich mit zur öffentlichen Auszählung der Stimmen. Peter guckte
sich das interessiert an, aber als alles fertig war und das Protokoll verlesen
wurde, sagte er knapp: „Falsch, mein Zettel war jetzt nicht dabei, ich habe
nämlich mit NEIN gestimmt.“ Es gab eine erneute Auszählung, bei der nun nicht
nur sein Stimmzettel „gefunden“ wurde, zusätzlich kamen noch einige weitere
NEIN-Stimmen zutage, die in der ersten Runde im vorauseilenden Staatsgehorsam
„übersehen“ worden waren.
Die DDR hatte
seit 1970 ihr „Landeskulturgesetz“, hier gab es einen der ersten Umweltminister
in Europa, Umweltschutz war schon früh in die Verfassung geschrieben worden –
aber in Wirklichkeit war die DDR an vielen Stellen ein Saustall. Ich war seit
1982 auch Umweltbeauftragter bei der Kirche in Sachsen. In dieser Tätigkeit
begegnete ich zwangsläufig vielen Dingen, über die offiziell geschwiegen
wurde: Da litten Hunderte von Kindern in Dohna an Umweltschäden, die durch eine
örtliche Chemiefabrik verursacht waren. Da berichteten mir staatliche Bedienstete
– die ich heimlich in ihrer Wohnung traf
- über die tatsächlichen Ursachen und das Ausmaß des Waldsterbens im
Erzgebirge, da druckte eine Apotheker(!)-Zeitschrift aus Versehen konkrete
Daten zu Schwermetallbelastungen in Nahrungsmitteln im Raum Freiberg.
Um solche
Sachen kümmerte ich mich: Fakten sammeln, Verlässlichkeit der Informationen
prüfen, und dann Informationen in die Öffentlichkeit bringen. Die „Organe“
diffamierten das zwar als „staatsfeindlich“, aber angesichts der genau recherchierten
und belegbaren Fakten waren sie hilflos. Irgendwie war das ja auch peinlich,
wenn öffentlich vorgerechnet werden konnte, dass sogar Daten im Statistischen
Jahrbuch der DDR gefälscht waren. Z.B. waren bei der Schwefeldioxidbelastung
der Luft trotz stark gesteigerter Braunkohleverbrennung eine Million Tonnen
des schädlichen Gases einfach aus der Jahres-Bilanz „verschwunden“.
In dem
Institut, in dem ich arbeitete, befassten wir uns mit Korrosionsschutz. Im
engeren Sinne ging es dabei darum, das Rosten von Eisenwerkstoffen zu
verhindern. Aber auch alle möglichen anderen Metalle galt es zu schützen. In
einem Sondereinsatz entwickelten Kollegen von mir sogar mal ein Verfahren, mit
dem ein berühmter Sandsteinfelsen in der Sächsischen Schweiz, die „Barbarine“,
vor dem Zerbröseln gerettet wurde; durch Imprägnieren mit irgendwelchen
Silikonwerkstoffen wurde der Fels zusammengeklebt. Korrosion hat viel mit
Luftschadstoffen zu tun. Und davon gab es in der DDR mancherlei. Vor allem die
hohen Schwefeldioxid-Konzentrationen, verursacht durch die allgegenwärtige
Verbrennung der schwefelhaltigen Braunkohle, machten Eisen- und
Stahlkonstruktionen schwer zu schaffen. Wir versuchten, Anstrichstoffe zu
finden, die das Eisen wenigstens ein paar Jahre schützten. Aber an manchen
Industriestandorten war die Luft derart aggressiv, dass unsere besten und
dick aufgetragenen Lackschichten schon nach einem halben Jahr die ersten
Rostflecke zeigten. Im Erzgebirge war die Stahlkonstruktion von Gittermasten
für Fernsehumsetzer, die eigentlich 50 oder 80 Jahre halten sollten, schon
nach 8 Jahren „hin“. Ehe ich das Wort Waldsterben gehört hatte, wusste ich,
dass in unseren Belastungskarten manche Erholungsorte des Erzgebirges unter
„Industrieklima II“ eingeordnet waren.
Wir testeten
Anstrichstoffe unter den konkreten Belastungssituationen an verschiedenen
Industriestandorten. Dienstreisen dorthin verschafften mir einen Einblick, was
sich hinter „Leuna I“ oder „Leuna II“, verbarg, was „Buna“ in Schkopau
bedeutete oder wie Industriegiganten wie „Bitterfeld“, „Wolfen“, „Piesteritz“,
„Coswig“, „Schwarze Pumpe“ usw. aussahen. Der „Blick von hinten“ in die
DDR-Kombinate war sehr lehrreich. Diese Vorzeigebetriebe waren großzügig,
manchmal auch großkotzig errichtet worden, aber im Laufe der Jahre war der
Glanz verblichen. In Leuna forderte mich z.B. ein Begleiter auf, den sowieso
vorgeschriebenen Schutz-Helm doch wirklich aufzusetzen, man wisse nie, was da
von oben aus den Rohrbrücken heruntertropfe; „wenn hinten aus einer Leitung
nichts mehr rauskommt, legen wir lieber gleich eine neue Leitung“. In
Bitterfeld stiegen wir auf ein Dach hoch, auf dem unsere Testplatten gelagert
waren. Schon im Treppenhaus hatte ich mich gewundert, warum da überall
Glasvitrinen standen, in denen Gasmasken für unterschiedliche giftige Gase
gelagert waren. Oben auf dem Dach hatte ich das Pech, in die dicke Abgasfahne
aus einer benachbarten Produktionsanlage zu geraten, hochkonzentrierter
Ammoniak setzte mich schlagartig außer Gefecht; zum Glück gelang es meinen Begleitern,
mich schnell wieder wach zu klopfen.
Seit 1982 war
ich als Naturwissenschaftler bei der Kirche angestellt. Ich war für „Glaube und
Naturwissenschaft“ zuständig, sollte mich also um Fragen kümmern, wo
Entwicklungen in Naturwissenschaft und Technik, bei Weltbildern oder im
medizinischen Bereich Herausforderungen für den christlichen Glauben
darstellten. In der „realsozialistischen“ DDR-Situation mit ihren gravierenden
Umweltproblemen und dem staatlich verordneten Schweigen dazu war eine meiner
Aufgaben, mich zu konkreten Fragen sachkundig zu machen, darüber zu
informieren und Betroffenen Hilfe anzubieten.
Mein erster
Fall hieß „Dohna“. Dohna ist ein Städtchen in der Nähe von Dresden. Ein Freund
von mir war dort Zahnarzt und erzählte mir von bedrückenden Beobachtungen.
Praktisch alle Kinder und Jugendlichen aus dem Ort, die er behandelte, hatten
typische Zahnschäden. Die zweiten, bleibenden Zähne, die nach dem Milchgebiss
durchbrachen, waren oft gelblich bis schwarz verfärbt, waren spröde, schnell
brachen also Teile ab. Ein Blick in viele Münder zeigte ein Ruinenfeld. Grund
für diese Schäden war der Ausstoß von Schadstoffen aus einem im Ort ansässigen
Betrieb, dem „Fluorwerk“. Das Werk arbeitete mit Flusssäure und ihren Salzen.
Schon im Routinebetrieb wurden schädliche Gase freigesetzt, manchmal gab es
aber auch Havarien, und dann wehten giftige Nebel durch den ganzen Ort. Das
Trinkwasser war belastet, die Früchte, die in den Gärten geerntet wurden,
enthielten hohe Fluorkonzentrationen. Nun wird ja manchmal Fluor Zahnpasten
zugesetzt oder in Tablettenform empfohlen, um die Mineralisation der
Zahnsubstanz zu verbessern. Aber in Dohna erhielten alle Einwohner zwangsweise
und tagein tagaus eine extreme Überdosis. Dadurch wurden die Zähne zu hart und
spröde.
Das Problem war bekannt - und ein Fall für die Wissenschaft. Die betroffenen
Bewohner blieben im Unklaren. Ich erfuhr durch eine Indiskretion davon, dass
drei Zahnärztinnen an dem Problem geforscht hatten und nun ihre gemeinsame
Doktorarbeit verteidigen würden. Verteidigungen waren eine öffentliche
Angelegenheit, mein Freund lieh mir einen weißen Arzt-Kittel - woraufhin ich
prompt mit „Herr Kollege“ angesprochen wurde -, und dann saß ich im Hörsaal und
hörte das, was ich nie hätte hören dürfen – die Fakten zum Schicksal der Kinder
von Dohna.
Inzwischen hatte ich auch selbst recherchiert und in medizinischen Fachzeitschriften
der DDR einiges zu dem Fall gefunden. Einen der Autoren, Mediziner in Dohna,
suchte ich auf, um von ihm noch einiges über die Hintergründe zu erfahren.
Denkste. Vielleicht hatte er ja einfach Angst, weil er mich gar nicht kannte
und weil er wusste, in welch gefährlichem Terrain wir uns bewegten. Beunruhigt
hat mich aber doch - ganz grundsätzlich - seine Reaktion. Ich erzählte ihm,
was ich aus den Fachartikeln an Informationen entnommen hatte, worauf er
trocken meinte: „Da habe ich etwas falsch gemacht. Das, was ich da
aufgeschrieben habe, war nur für Fachkollegen gedacht. Sie hätten das nicht
verstehen dürfen.“
Das Institut,
an dem ich arbeitete, lag am Stadtrand. Genauer war es eine ehemalige Wohnbaracke,
in der wir nun forschten. Wir hatten moderne Chemie-Labors, eine hochkarätige
Spezial-Bibliothek, mehrere Werkstätten, ein Fotolabor, und es gab nette
Kollegen. Eine meiner Spezialaufgaben im „Kollektiv der sozialistischen
Arbeit“ war es, zu Geburtstagfeiern mit dem Auto zur Arbeit zu kommen,
unterwegs beim Bäcker in Weißig anzuhalten und eine Quarksahnetorte zu kaufen.
Die musste ich dann - je nach gerade vorhandener Zahl feierwütiger Kollegen –
ganz gerecht in exakt gleichgroße Stücke zu zerteilen, was bei 7 oder 11 gar
nicht so einfach ist. In der Weihnachtszeit schleppte ich auch schon mal
meinen Plattenspieler mit auf Arbeit und wir stellten uns gegenseitig unsere
Lieblingsplatten vor. Solche Sorgen also hatten wir manchmal.
Eines Morgens
fuhr ich mit dem Bus zur Arbeit, aber schon beim Näherkommen war klar: Irgendetwas
stimmte nicht. Auf den zweiten Blick Erschrecken: Dort, wo gestern noch mein
Arbeitsplatz gewesen war, standen rauchende Trümmer. Ein Teil unserer Baracke
war völlig abgebrannt, auch mein Zimmer existierte nicht mehr. Feuerwehrleute
räumten ihr Gerät ab. Einige Kollegen standen versteinert in Gruppen zusammen,
andere stürzten hektisch herum. Da kam ein Abteilungsleiter auf uns zu und
sprach mich gezielt an – man wolle mich als ersten befragen. In einem
provisorisch eingerichteten Untersuchungsraum saßen einige mir völlig fremde
Menschen - ich rate mal: Feuerwehrfachleute und Stasi -, und nun wurde ich
hochnotpeinlich ausgeforscht, was ich gestern als letztes getan, wie ich meinen
Arbeitsplatz verlassen, was ich in der letzten Nacht getrieben habe usw. Es
war schon ziemlich beklemmend und unheimlich. Und es sah nicht gut aus: Die
Experten hatten z.B. durch Untersuchung der zusammengeschmolzenen Reste aus
meinem Labor herausgefunden, dass ich den Hahn an der Propangasflasche nicht
zugedreht hatte; aus Faulheit sperrte ich immer nur die Gasleitung am
Bunsenbrenner ab. Aber ich durfte erst einmal gehen, andere Kollegen wurden
befragt. Zum Glück war einige Stunden später klar, dass es „nur“ eine normale
Brandstiftung war - ein institutsfremder Mensch hatte aus Liebeskummer
gezündelt - und dass kein politischer oder staatsfeindlicher Hintergrund
bestand. Gerade dieser Verdacht aber, erfuhr ich später, hatte mir die „Ehre“
eingebracht, als Hauptverdächtigter in Frage zu kommen. Ich lag politisch
etwas quer zur DDR, und das machte mich eben auch zu einem potenziellen
Brandstifter.
Wir hatten
Kinder. All unsere Freunde hatten Kinder. Wir hatten nach gemachten schlechten
Erfahrungen das Gefühl, dass wir in der DDR-Gesellschaft ziemlich AUTORITÄR
behandelt wurden. Darauf reagierten wir - es war die 68er Zeit, auch im Osten!
- allergisch und waren alle etwas ANTI.
Und da machten
wir uns Gedanken, über Erziehung im Allgemeinen, über neue Lebensentwürfe: Wer
war bereit, irgendwo auf dem Lande eine Kommune mit zu gründen?
Mit Heißhunger
verschlangen wir die Bücher des britischen Reformpädagogen Alexander S. Neill
über sein Projekt „Summerhill“, über seine Erfahrungen mit „antiautoritärer
Erziehung“, seine theoretischen Ansätze dazu. Neill hatte wichtige Anregungen
für sein Erziehungskonzept in Hellerau erhalten, einem Stadtteil von Dresden,
nur wenige Kilometer von uns entfernt. SO ungefähr konnte es aussehen! Mehr
Loslassen, mehr Freiheit, mehr Offenheit – danach war uns doch auch zumute.
Nicht immer vorschreiben, selber suchen lassen, auch um den Preis von
Irrwegen. Begleiter sein, nicht Spitze einer Marschkolonne.
Die Berichte in den Büchern machten beschwingt und mutig. Die Praxis zu Hause
in unseren Wohnzimmern war etwas beschwerlicher. Die Kinder mussten nun nicht
mehr zu einer festen Zeit ins Bett, sie durften auch mal auf dem
Wohnzimmerteppich einschlafen, es war kein Problem, wenn sie Zucker aufs Schnitzel
wollten. Was aber tun, wenn sie nach eins in der Nacht immer noch im Zimmer
herumtobten, wenn sie den selbstgewünschten Essensmix nun gar nicht mochten
...?
So richtig ein
Programm mit festeren Vorstellungen ist die Idee von der antiautoritären
Erziehung für mich nie gewesen, eher ein flockiger, verlockender Traum, der
einen die gewohnten Verkrustungen hinterfragen ließ.
In der
alltäglichen Erziehungspraxis ging´s bei uns bald wieder ziemlich „normal“ zu.
Ich ging mit
Kollegen aus dem Institut zum Mittagessen. Sie redeten über das Fußballspiel,
das am Nachmittag in Dresden stattfinden würde. Ich fragte: „War das nicht
gestern? Ich habe doch darüber was in der Zeitung gelesen.“ Mein Irrtum ward
aufgeklärt, das Spiel würde tatsächlich erst heute Nachmittag stattfinden. Ich
erzählte, dass ich im Traum Zeitung gelesen habe. Ich konnte mich noch genau
erinnern, dass ich die Zeitung erst herumdrehen musste, um den Spielbericht zu
lesen. Ich wusste natürlich auch das Ergebnis noch: 2:1.
Am Nachmittag fand das „echte“ Spiel statt. Es endete 2:1.
Schräg
gegenüber von unserem Wohnhaus im Dorf stand das kommunale Gemeindeamt. Ich
dachte eigentlich, dass wir zu einem ganz konstruktiven Verhältnis zwischen
Kirche und Staat hier im Kleinen gefunden hätten. Beim Lesen meiner Stasiakte
Jahre später wurde ich aber eines Besseren belehrt. Auf Vorschlag der
misstrauischen Bürgermeisterin wurde im Gemeindeamt jahrelang die ganze
Wohnung im ersten Stock freigehalten. Von dort hatte man freie Sicht auf unser
Grundstück, um „feindliche“ Bewegungen zu beobachten. Eine später tatsächlich
dokumentierte Beobachtung sah z.B. so aus, dass unsere Jungs gerade „Pirat“
spielten und auf unserem Küchenbalkon eine selbstgefertigte Totenkopfflagge
gehisst wurde – da wurde nun lang und breit sinniert, welchem Feind der
Republik damit welche Botschaft signalisiert werden sollte ...
Jeder, der fortan mit dem Auto in unser Grundstück einfuhr, hatte die Chance,
aktenkundig zu werden.
Nach der Wende
entdeckten wir in einem kleinen Nebenraum im Gemeindeamt ein Bündel dünner
Drähte, das aus der Wand kam; hier bestand die Möglichkeit, in kritischen
Zeiten die Telefone im Ort gezielt anzuzapfen.
Familie
Schubert
Unser
Freund B. hatte – mit einem Plakat auf dem Rücken – gegen die Verhaftung von
Rudolf Bahro protestiert, und nun saß er in Untersuchungshaft. Verschiedene
Leute aus seinem Umfeld bekamen in den nächsten Tagen Besuch. Herren erschienen
an der Wohnungstür und wollten Gespräche führen. Für einen solchen Fall hatten
wir unter uns immer den Tipp weitergegeben, penetrant nach dem Namen zu fragen.
B.s Freund in Leipzig fragte also seinen Besucher, der ordentlich mitteilte, er
hieße Schubert. Bei einer Befragung in Dresden in gleicher Sache stellte sich
heraus, dass auch hier der Mann vom „Organ“ Schubert hieß. Als dann an noch
anderer Stelle wieder der gleiche Name genannt wurde, roch das doch sehr nach
geschulter Identität.
Anfang der 70er
Jahre bekam ich ein dünnes Büchlein in die Hand, das mein Weltbild und meinen
weiteren Lebensweg nachdrücklich verändert hat. Der „Club of Rome“ beschäftigte
sich schon länger mit Krisensignalen in der Welt wie Bevölkerungswachstum,
Rohstoffverbrauch und Umweltbelastung, und er hatte einen Bericht dazu
erstellen lassen, der die „Grenzen des Wachstums“ ansagte. Das war in einer
Welt, die in Ost und West auf „schneller-höher-weiter“ orientiert war, in der
Fortschritt gleichgesetzt wurde mit Expansion und Wachstum, unzeitgemäß und
ein Schock. Mein Fortschrittsoptimismus jedenfalls kriegte einen deutlichen
Knacks und wich der Nachdenklichkeit. Ich habe sofort das ganze Buch mit Hilfe
unseres freundlichen Institutsfotografen als Fotokopie vervielfältigt und in
Umlauf gebracht. Ich habe Dias von Grafiken angefertigt und begonnen, im
kleinen Kreis meiner Freunde Vorträge zu halten. Ich habe mich mit dem Autor
des Buches in den USA in Verbindung gesetzt, und er schickte mir sein einziges
deutschsprachiges Belegexemplar – aber auch den ausführlichen
wissenschaftlichen Bericht. Dass ich den besaß und bereit war, ihn zur
Auswertung zur Verfügung zu stellen, habe ich damals der Strategieabteilung
beim ZK der SED mitgeteilt, die sich zwar mit einem freundlichen Brief
bedankte, aber das Buch (offiziell) nicht lesen wollte – oder nicht lesen
durfte.
Bei der
Beschäftigung mit dem Thema UMWELT begegneten mir in Dresden Gleichgesinnte,
was in den nächsten Jahren zu einer intensiven Zusammenarbeit führte. Ende der
1970er Jahre ging ich mit einem Freund gemeinsam in die breitere
Öffentlichkeit. Ein meditativer Diavortrag in der zentralen Kreuzkirche mit
anschließender Diskussion war der Startschuss für eine organisierte Beschäftigung
mit Umweltfragen im Raum der Kirche. Der „Ökologische Arbeitskreis“ wurde
gegründet, und in Arbeitsgruppen wurde fortan ein schnell breiter werdendes
Themenspektrum naturwissenschaftlich-fachlich, gesellschaftspolitisch,
pädagogisch und theologisch bearbeitet.
Zur gleichen
Zeit hörte ich auch zum ersten Mal vom „Kirchlichen Forschungsheim“ in der
Lutherstadt Wittenberg, einer kleinen, aber schlagkräftigen Einrichtung, die
in den folgenden Jahren ein dicker Knoten im Netz der kritischen kirchlichen
Umweltarbeit in der DDR wurde. Ich kam zu spät nach Wittenberg, denn die gerade
noch unbesetzte Stelle eines naturwissenschaftlichen Mitarbeiters in dem
Institut, mit der ich geliebäugelt hatte, war nicht mehr zu haben ... Ich
lernte aber neue interessante Leute kennen. Ein Dutzend kritische
Wissenschaftler aus allen Teilen der DDR arbeiteten im „Erde-Kreis“ zusammen.
Er hieß so, weil hier eine Broschüre entstand, die mit dem doppelbödigen Titel
„Die Erde ist zu retten“ sowohl eine fundierte Analyse des Zustands der Umwelt
in der DDR versuchte als auch Handlungsempfehlungen - für die Gesellschaft, für
die Kirche, für den Einzelnen - vermittelte. Das Heft erschien in mehreren,
immer wieder aktualisierten Auflagen und fand Verbreitung weit über den kirchlichen
Bereich hinaus. Vervielfältigt wurden die Hefte im kirchlichen Halb-Untergrund.
Der Aufdruck „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ war für den Staat
immer ein Signal zur Zurückhaltung, weil er sich nicht offen mit der Kirche
anlegen wollte, der hier auch gewisse Freiräume zugestanden wurden. Das
Forschungsheim gab in mehrmonatigen Abständen eine Zeitschrift mit einer
Auflagenhöhe von 2000 Stück heraus, in der auch aktuelle Probleme dargestellt
und diskutiert werden konnten, die „Briefe zum Konflikt Mensch – Erde“. Es
erschienen weitere Broschüren, z.B. zum Thema Waldsterben („Wie man in den
Wald rußt ...“), zu „Anders Gärtnern macht Spaß“. Ich begann, mich auch als
Autor zu versuchen, schrieb ein Mutmach-Heft „Fang an – Tipps für
umweltgerechtes Verhalten im Alltag“ und nach dem Unfall in Tschernobyl ein
Papier mit grundlegenden Informationen zur Nutzung der Kernenergie und das Pro
und Contra dazu („... nicht das letzte Wort – Kernenergie in der Diskussion“).
Der Staat fand unsere publizistische Tätigkeit gar nicht gut, intervenierte
auch ständig bei der kirchlichen Obrigkeit, aber von dort her stärkte man uns
immer wieder den Rücken und verteidigte unseren Einsatz als Aufgabe der Kirche
in der Gesellschaft, und so waren wir unbequem, wurden aber geduldet. In der
Dresdner Ökogruppe hatten wir diskutiert, ob das Thema Umwelt nicht zu wichtig
sei, um es nur so nach Feierabend nebenbei zu bearbeiten. Wir hatten erwogen,
dass ein Freundeskreis von Spendern in einem gesicherten Arbeitsverhältnis
durch verbindliche monatliche Zahlungen eine Stelle finanzieren könnte. Wir
schrieben auch Appelle an kirchliche Dienststellen, für diesen Themenbereich
hauptamtliche Stellen zu schaffen. Dann stellte sich heraus, dass bei der
Sächsischen Evangelischen Kirche gerade eine Stelle frei geworden war, deren
Inhaber sich damit beschäftigt hatte, wie christlicher Glaube aussehen und
gelebt werden kann in einer Welt, die von Naturwissenschaft und Technik
nachhaltig geprägt ist, welche weltanschaulichen und ethischen Fragen sich
daraus ergeben. Die Stelle war da und sollte auch wieder besetzt werden, unser
Antrag auf Einrichtung einer hauptamtlichen Stelle mit Schwerpunkt Umwelt lag
auf dem Tisch, ich führte einige Gespräche im Landeskirchenamt – und dann
wurde ich gefragt, ob ich das nicht machen wolle. Ich entschied mich für den
Berufswechsel, und fortan war ich auch Umweltbeauftragter meiner Kirche. Das
eröffnete mir gute neue Arbeitsmöglichkeiten, und die weiter bestehenden
Kontakte zu den Netzen in Wittenberg und anderswo erwiesen sich in den
Folgejahren als sehr hilfreich.
Bedrucktes
Papier hatte in der DDR einen ganz anderen Stellenwert als in der
Postwurfgesellschaft des Westens. Unsere Materialien zu Umweltthemen
erschienen nur in begrenzter Auflagenhöhe, ein paar hundert bis wenige tausend
Exemplare je Heft, aber die wurden uns aus der Hand gerissen, durchgelesen, zu
Hause als Rarität archiviert oder zerfledert an Dritt- und Viertleser
ausgeliehen. Dabei war die Qualität manchmal grottenschlecht. Eine Variante
der Vervielfältigung hieß ORMIG. Der Text wurde - möglichst im ersten Anlauf
fehlerfrei, man hatte nur einen Versuch! - auf eine besondere Matrize
geschrieben. Von einem zweiten, untergelegten Blatt übertrug sich dabei blaue
Farbe auf die Buchstaben, die angeschlagen wurden. Die Matrize wurde dann in
einem Gerät auf eine Rolle gespannt, die sich mit einer Handkurbel drehen
ließ. In einem Vorratsgefäß befand sich Alkohol, der einen Filz nässte, der seinerseits
Papierblätter befeuchtete, die auf einer zweiten Walze gegenläufig an die
Druck-Vorlage gepresst wurden. Dabei übertrug sich immer ein wenig von dem
blauen Farbstoff auf das Papier. Von Umlauf zu Umlauf und von Blatt zu Blatt
verblassten die Kopien. Wenn man Pech hatte, waren nur 20 Exemplare lesbar, bei
frischen „West“-Vorlagen gingen auch mal 120 durch.
Für größere
Auflagen eignete sich ein Verfahren, bei dem auch Matrizen beschrieben wurden,
allerdings wurden hier die Buchstaben durch den Schreibmaschinenanschlag fein
herausgestanzt, und durch die entstandenen Öffnungen wurde dann Druckfarbe gepresst,
die zähflüssig auf einer Walze verteilt war.
Jedes Mal, wenn wir etwas drucken wollten, hatten wir auch mit anderen
DDR-spezifischen Problemen zu kämpfen. Woher sollten wir das Papier kriegen?
Wir brauchten für eine Auflage einer Broschüre z.B. 80 500-Blatt-Pakete
A-4-Papier. Der Drucker wünschte sich zwar eine bestimmte Papierqualität, aber
er bekam immer eine Mischung quer durch das DDR-Angebot. Konkret fuhr ich, wenn
es wieder einmal so weit war, mit dem Trabbi auf Dienstreise, Anhänger hintendran.
Ich informierte mich im Telefonbuch von Dresden oder Karl-Marx-Stadt oder wo
ich gerade war, über die Anschriften von Geschäften mit Bürobedarf. Die
klapperte ich dann systematisch ab. Rein in den Laden, Frage nach Papier: Gab´s
überhaupt welches?. Spätestens bei der nächsten
Frage, wie viele Pakete ich denn nun bekommen könne, guckten manche Verkäufer
schon misstrauisch. Also lieber etwas weniger, um keinen Verdacht zu erregen,
und weiter zum nächsten Laden. Der Hänger füllte sich, da lagen nun 13 Pakete
mit handgeschöpft Bütten, 18 hatten weiße holzfreie Qualität, 25 Päckchen
enthielten eine gelblich-graue raue Papiersorte, bei der kleine Holzspänchen
zu erkennen waren usw. Entsprechend „bunt“ sahen später auch die gedruckten
Hefte aus.
Wenn wir die
fertigen Drucke endlich abholen durften, bekamen wir sie als lose Blätter in
die Hand, als Bündel von je einer Seite. Dann wurden ein paar Freunde
zusammengetrommelt, der erste ging mit Seite 1 im Kreis um einen großen Tisch
herum und legte die Blätter nebeneinander, dahinter lief der nächste und legte
jeweils Seite 2 drauf, dann kam Seite 3 usw. usw.
Der Trabbi war
ein Allroundgerät. Man konnte mit ihm einfach „Auto“ fahren. Aber da ging noch
mehr! Bei den jährlichen Urlaubsfahrten war er uns ein zuverlässiger Lastesel.
Es musste ja der gesamte Haushalt für die Familie für drei Wochen Camping
transportiert werden, einschließlich Kinderbett und Küchenzelt und
Lieblingsbär. Also wurde ein Anhänger geliehen und beladen, bis die Räder
schief standen. Dann kam ein Dachgitter auf den Trabbi, das die Zeltsäcke
aufnahm, umhüllt von einer haltbaren, aber hässlichen Plaste-Plane. Innen war
das Auto auch gut gefüllt, es musste nur etwas Platz bleiben für die zwei
Kinder, die bei der nächtlichen Fahrt in der Hutablage ruhten.
Noch
Schlimmeres hatte der Trabbi zu bewältigen, wenn es eine reichliche Apfelernte
gegeben hatte. Dann wurde das Fallobst zur Mosterei gebracht, und damit sich´s
lohnte, das Auto bis unters Dach vollgestopft und der Rest im Hänger verzurrt.
Als Rekord erinnere ich mich an 28 Säcke zu je 30 bis 50 Kilogramm auf einer
Fahrt.
Ein bisschen
gewöhnungsbedürftig waren für die Mitdörfler hinter dem Gartenzaun unsere
jährlichen Fahrten mit dem Schaf. Bei uns standen immer ein paar Schafe im
Garten, die die Wiese kurz hielten. Einige wurden im Herbst verkauft, weil wir
nur einen Mini-Stall hatten. Aber ein weibliches Tier blieb immer da, und
seine Aufgabe war es, uns die Lämmer fürs nächste Jahr ins Haus zu bringen.
Das passiert aber auch bei Schafen nicht von allein, da musste man „zum Bock“
fahren. Der stand bei einem Bauern im Nachbardorf, und ihm wurden im Herbst
die Schafe zugeführt zum nachwuchszeugenden Sprung. Einmal nur hatten wir versucht,
das Schaf an einer Leine durchs Dorf zu führen, aber halb, weil wir vor Lachen
nicht mehr konnten, halb, weil wir ziemlich ohnmächtig an dem Tier zerrten,
gaben wir auf und machten´s fortan anders. Im Trabbi wurde vorn der
Beifahrersitz ausgebaut. Das Schaf wurde hineingeschoben. Hinter dem Schaf auf
der Rückbank saß meine Frau und hinderte das Tier daran, sich zu setzen.
Während der Fahrt guckte das Schaf etwas verdutzt durch die Frontscheibe – und
die Passanten guckten noch verdutzter zurück. Aber es lohnte sich, denn im
nächsten Jahr blökten wieder junge Lämmer im Garten.
In den 1980er
Jahren begannen wir in der „kirchlichen Umweltbewegung“, systematisch die Umweltsituation
in der DDR „aufzuklären“ - im doppelten Sinne verstanden, als Erfassung der
Fakten und als Information der Bevölkerung. Mitstreiter M. hatte - als
Autodidakt - begonnen, sich mit den materiellen Hinterlassenschaften und den
Gesundheitsschäden zu beschäftigen, die im Gefolge des Uranbergbau der „SDAG
WISMUT“ („Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft“) in Sachsen und Thüringen
auftraten.
Freunde aus der grünen Bewegung im „Westen“ hatten für ihn einen Geigerzähler
besorgt. Ein netter „Grenzgänger“ schmuggelte ihn in die DDR. Interessant war
für mich, später in der Stasiakte zu lesen, dass die Stasi von Anfang an
gewusst hatte, dass wir dieses Gerät besaßen, aber sie griffen nicht zu,
sondern ließen uns messen. Offenbar war die Stasi selbst daran interessiert, so
indirekt etwas über den WISMUT-Bereich zu erfahren, der nämlich auch für
diese sonst allmächtige Organisation weithin tabu war.
Wir hatten nun
jedenfalls ein richtiges Messgerät, das uns brauchbare Aussagen über die
Strahlenbelastung lieferte. Wir fuhren zu zweit im Trabbi über Land, besuchten
alte Bergbauanlagen, inspizierten Halden und – heimlich – noch aktive
WISMUT-Einrichtungen. Immer tickte der Geigerzähler und wir notierten die
Messwerte.
Wir bemerkten, dass es überall „tickte“, vor allem, wo Granit aus dem Erzgebirge
lag. Aber auf manchen Halden oder an Becken mit Abfallschlämmen aus der
Urangewinnung war die Aktivität noch deutlich höher. Und oft waren diese
Anlagen ja auch längst für die normale Bevölkerung zugänglich. Die weitaus
höchsten Messwerte ergaben sich an völlig unerwarteten Stellen, z.B. im Keller
von alten Häusern im Erzgebirge, wo es hinter dem Regal mit dem Eingemachten
einen direkten Weg, einen alten Schachteingang in den Berg gab, oder im
Schotter auf Feldwegen Dutzende Kilometer weit weg vom Bergbau. Die WISMUT
hatte Gestein, das als minderwertiges Erz eingestuft worden war, als
Wegebaumaterial verschenkt, manche LPG hatte es dankbar abgeholt und zur
Befestigung ihrer Wege eingesetzt – da lag nun aber manches Stück stark
radioaktives Erz in der Landschaft herum und strahlte.
M. schrieb eine
Studie zum Uranbergbau und seinen Folgen in der DDR mit dem doppelbödigen
Titel „Pechblende“. Das Heft wurde 1988 „Nur für innerkirchlichen
Dienstgebrauch“ in Tausend Exemplaren gedruckt und in den betroffenen Gebieten
gezielt verteilt. Für M. hatte das bedrückende Folgen. Ich erinnere mich, dass
er einmal zu einem Vortrag gebeten worden war in eine Kirchgemeinde in
Thüringen. Im Vorfeld gab es massive Versuche staatlicher Behörden, über die
Kirchenleitung die Veranstaltung verbieten zu lassen, der Ortspfarrer erhielt
die unverblümte Mitteilung, dass „empörte Bergleute“ bei der Veranstaltung
erscheinen würden und die Sicherheit des Referenten leider nicht zu garantieren
sei ... Ich hielt dann an M.s Stelle einen Vortrag in der voll besetzten Kirche
über „Bewahrung der Schöpfung – konkret“, und so hörten die WISMUT-Gesandten
mancherlei über DDR-Umweltprobleme.
„Unser Schulhof strahlt“
Es war im April
1989. Meine Familie saß beim Mittagessen zusammen. Ich war gerade mit M. von
einer Tour zurückgekommen, bei der wir nach strahlenden Altlasten des
Uranbergbaus gesucht hatten. Dabei fahndeten wir nicht nur gezielt an
verdächtigen Orten, sondern wir legten während der Autofahrten den Geigerzähler
einfach eingeschaltet auf den Rücksitz, und wenn die Piep-Töne in schnellerer
Folge erklangen, dann waren wir wieder einmal „fündig“ geworden; in solchen
Fällen war das uran-haltige, strahlende Gestein als Schotter im Straßenbau
eingesetzt worden.
Wir diskutierten über unsere neuesten Entdeckungen, als meine Tochter plötzlich
mitteilte „Auf unserem Schulhof strahlt es auch.“ Nun konnte sie das zwar so
genau nicht wissen, aber einer ihrer Klassenkameraden hatte mal erzählt, dass
beim Anlegen des Schulgeländes vor 10 Jahren auch Gestein aus dem Uranbergbau
verwendet worden sei. Die Mitteilung elektrisierte uns. Eine halbe Stunde
später schlichen wir auf dem Schulgelände im Nachbardorf herum und ließen den
Geigerzähler piepsen. Und der Verdacht bestätigte sich: Hier steckte zweifellos
WISMUT-Material unter der Asphalt-Decke! Schnell wurden einige besonders
auffällige Messorte grob auf einer Lageskizze eingetragen. Ein paar Wochen
später schickte ich per Brief eine Auflistung der Messwerte von einigen
„Fundstellen“ in der Region – auch die vom Schulhof meiner Kinder - an das
dafür zuständige „Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz“
(SAAS), um so auf die von uns entdeckten Gefahren aufmerksam zu machen. Damit
hängten wir uns ziemlich weit aus dem Fenster, denn es war nicht abzuschätzen,
was nun passieren würde. Natürlich bekam die Stasi sofort Wind davon; eine
Kopie des Briefes wurde in „meiner“ Stasi-Akte abgeheftet. Aber offiziell
erfolgte eine sehr „normale“ Reaktion, die wir so gar nicht erwartet hatten.
Das SAAS schickte umgehend seine eigenen Leute zwecks amtlicher Kontrollmessungen
auf den Schulhof. Dort wurde an verschiedenen Stellen die Asphaltdecke
aufgehackt. Gesteinsproben wanderten zur Untersuchung nach Berlin. Und dann gab
es viel Aufregung und Stress, denn der auch nach DDR-Maßstäben (das heißt wegen
Nicht-Einhaltung von Grenzwerten) unzulässige Zustand wurde tatsächlich
umgehend in Ordnung gebracht. Noch im Juli wurden alle betroffenen Flächen mit
erheblichem Aufwand durch eine zusätzliche 10 Zentimeter dicke Schicht aus
Beton und Bitumen abgedeckt und abgeschirmt. Danach lagen die Messwerte – das
bestätigten auch meine heimlich durchgeführten Kontrollmessungen – im
zulässigen Bereich.
Die Schulhof-Affäre hatte noch ein paar pikante, DDR-typische
Begleiterscheinungen. Bei unserer ersten Messung war der Hausmeister der Schule
aufmerksam geworden und hatte dann interessiert unser Tun verfolgt. Er erzählte
aufgeregt dem Physiklehrer vom Ticken und Pfeifen des Geigerzählers - der aber
meinte, er solle sich nicht verrückt machen lassen, das sei nur Panikmache.
Sofort anschließend aber lief der Lehrer, Genosse zudem, eilends zum
Bürgermeister und informierte diesen von den gefährlichen und illegalen
Aktivitäten des Vaters K. Der wütende Bürgermeister wiederum wies den
Hausmeister der Schule an, „ab sofort jeden vom Schulhof zu schmeißen, der da
irgendwelche Messungen macht“. Ich ahnte von alledem nichts, und weil ich
eigentlich immer versuchte, mit offenen Karten zu spielen, besuchte ich einige
Tage später ausgerechnet den Physiklehrer in der Schule und berichtete ihm von
meinen Entdeckungen - mit wenig Resonanz.
Und in meiner Wahrnehmung gehörte auch folgende Episode noch zu den
Nachwirkungen: Ende September 1989 wurde ich mit meiner Frau offiziell zu einem
Elterngespräch in die Schule „geladen“. Es ging um den weiteren Bildungsweg
unseres 15-jährigen Sohnes. Anwesend war neben dem alten Schuldirektor und der
neuen Direktorin auch der Physiklehrer, der zugleich Klassenlehrer war. Und nun
erfuhren wir: Der Zugang zum Abitur sei für unseren Sohn leider nicht möglich,
er „würdige das Fach Russisch herab“ und „stelle die Errungenschaften des
Sozialismus in Frage“. Konkret hatte er z.B. in einer Diskussion gemeint, wenn
derzeit im Staat DDR offenbar vieles zwischen Gesellschaftstheorie und Lebenspraxis
nicht mehr übereinstimme, dann müsse man vielleicht auch bereit sein, die
Verfassung ändern. Das alles geschah zwar spät im Herbst ´89, aber noch immer
lief eben vieles in den alten Gleisen und pädagogischen Denkgewohnheiten! Jetzt
aber überschlugen sich die Ereignisse, und schon am gleichen Abend diskutierten
auf dem „Klassen-Elternabend“ mutig gewordene Mütter und Väter kritisch und
heftig und laut mit der schulischen Obrigkeit über die Gefahren von
Wismutschotter auf dem Schulhof und Asbeststaub in der Turnhalle. Und die
Verfassung der DDR änderte sich wenig später auch.
Der Bürgermeister war übrigens einer von ganz wenigen, die nach der Wende
eingestanden, Fehler gemacht zu haben. Er entschuldigte sich für sein Verhalten
in der Schulhofgeschichte bei mir.
Anfang des
Jahres 1989 war ich auf Dienstreise in Norwegen, also im Westen, oder doch mehr
im Norden ...
Wir hatten
etwas Freizeit. Drei Ossi-Teilnehmer erkundeten Oslo. Wir besuchten das
Munch-Museet mit den großformatigen Munch-Gemälden, die Ausstellung am Hafen
über Thor Heyerdahls Weltreisen, und dann hatten wir Hunger. In einem normalen
Lebensmittelgeschäft entdeckten wir in der Auslage ein kleines rundes
Pfund-Brot – und mussten dafür 8 Westmark bezahlen. Nahrungsmittel sind hier so
teuer, weil sie uns das wert sind - so erfuhren wir später von Eingeborenen.
Norwegen möchte weiter eine eigene bodenständige Landwirtschaft haben, die auch
produziert. Aber nach Weltmarktkriterien lohnt sich das überhaupt nicht,
Importe wären viel günstiger. Die Norweger sind bockig und sagen: Das leisten
wir uns! Aus solcherlei Gründen sind sie später auch nicht der EU beigetreten.
Ich habe dann
noch eine private Extratour gestartet. Mit der Straßenbahn hinauf zur berühmten
Holmenkollen-Schanze. Herrlicher Blick auf die Bucht vor Oslo,
Spielzeug-Flugzeuge, die weit unter mir zur Landung einflogen. Und dann stand
ich vor einem Denkmal. Es wurde von den dankbaren Norwegern für ihren König
errichtet. Nach der deutschen Besetzung Norwegens im April 1940 stand König
Haakon zwei Monate lang an der Spitze des Widerstands, erkannte die von den
Nazis eingesetzte Regierung nicht an, ging dann nach England und stand dort
der norwegischen Exilregierung vor. Das Denkmal machte mich nachdenklich. Hier
stand kein Herrscher mit Fernblick auf einem Sockel, kein Krieger hoch zu Ross
– nein, ich stand vor der lebensgroßen Bronzeskulptur eines skilaufenden
Königs, begleitet von seinem – ebenfalls in Bronze gegossenen - Hund.
Wir wohnten auf
dem Dorf. Wir hatten Kinder. Wir hatten eine Riesen-Wiese, die bewirtschaftet
werden musste. Gründe über Gründe, auch Schafe zu halten. Nun sah´s im Garten
ländlich aus, die Kinder konnten streicheln gehen, das Gras blieb kurz – und
man konnte mit dem Verkauf von Schafwolle in der DDR richtig Geld verdienen.
Unser Mutterschaf hatte drei Lämmer geworfen. Aber ein Schaf ist biologisch
nur für zwei Junge eingerichtet, am Euter gibt es nur zwei „Zapfstellen“ zum
Milchtrinken. Das Muttertier wusste das wohl, und es hat daher
konsequenterweise ein Junges „verstoßen“ – es wurde im Wortsinne immer wieder
beiseite gestoßen, bekam nichts zu trinken und wurde schnell schwächer.
Erfahrene Bauern, die wir befragten, sagten: „Duutschlahn!“ Das hieß:
totschlagen, das wird sowieso nichts. Das konnten und wollten wir nicht. So
stellten wir eine Plaste-Wanne, gefüllt mit Heu, als Liegestatt in die Küche,
kochten Milasan-Babynahrung, füllten dies Lebenselixier in eine Babyflasche -
und das Schaf trank, taumelte und stand! Es hat, auch dank mancher
Fütter-Nachtschichten, überlebt. In den nächsten Tagen hatten wir Besuch. Die
Freundin hörte ein zartes Blöken aus der Küche, deutete es aber falsch. „Ich
wusste ja gar nicht, dass ihr noch ein Kind ...“. Das Schaf gehörte in den
nächsten Wochen richtig zur Familie. Wir mussten uns mit allerlei Tricks aus
dem Grundstück schleichen, weil uns das Tier gern auch auf der Straße
begleitete. Wir haben mit ihm auch Fußball gespielt. Und als das Schaf später
längst normal im Garten wohnte, klingelten eines Tages früh zeitig die
Handwerker, da schlüpfte als erstes das Schaf ins Haus, rannte die Treppe hoch
und bettelte in der Küche.
Am Zaun vor
unserem Haus hing der Schaukasten der Kirchgemeinde. Er war da, manchmal sah
auch jemand nach den Aushängen, aber ein Blickmagnet war er nun nicht gerade.
Umso erstaunter war ich, als ich eines Morgens gegen fünf – normalerweise war
ich so früh sonst nicht auf den Beinen - einen Blick aus dem Fenster warf und
ungewohnte Betriebigkeit vor unserem Grundstück bemerkte. Im Dämmerlicht sah
ich einen Trabbi am Straßenrand stehen. Zwei Männer bauten ein Fotostativ auf
und fotografierten – den Schaukasten!
Mir war sofort
klar, dass sie ein (geheim-)dienstliches Interesse hergeführt hatte. Die
Jugendlichen in der „Junge-Gemeinde“-Gruppe der Kirchgemeinde hatten zwei Tage
zuvor eine heftige Diskussion geführt. In wenigen Tagen stand die
Kommunalwahl in der DDR an - es war die letzte im Frühjahr ´89 -, und da war
viel Kritisches zu bereden über „Wahlen“ generell. Im Ergebnis des Abends
hatten die Jugendlichen ihre Einsichten und Gefühle zum Thema in Plakaten
gestaltet, und diese waren in den Schaukästen der Kirchgemeinde öffentlich
ausgestellt. In unserem Schaukasten war ein Bild zu sehen, bei dem ein Mensch
durch eine Gasse von grauen Gestalten den Weg zur Wahlkabine ging. Überhaupt in
die Wahlkabine zu gehen, war nach dem Staatsverständnis der DDR schon ein öffentliches
Ärgernis, und wenn, dann ähnelte das Ganze tatsächlich einem Spießrutenlauf.
Die Leute von „Horch und Guck“ hatten nun jedenfalls ihre Beweise für die Untat
im Kasten. In den nächsten Tagen gab es einige heftige Gespräche zwischen
Pfarrer und Staatsmacht, was in der Öffentlichkeitsarbeit der Kirche zulässig
sei und was nicht.
Ich „durfte“
auf Dienstreise in die Schweiz fahren, in ein idyllisches Schlösschen am Genfer
See. Erste Entdeckung: Es gibt Privateigentum ...
Zweite Entdeckung: Schweizer sind stolz darauf, Schweizer zu sein. ...
Dritte
Entdeckung: Ich war mit der Bahn unterwegs. Und da ich nicht wusste, ob ich
jemals wieder in die Schweiz kommen würde, hatte ich die Reiseroute als
Rundfahrt geplant. Es ging das Rheintal runter, über Basel rein, Genf, zurück
über Bern, Zürich, Bodensee, München. Deshalb war es mir ein wichtiges
Anliegen, gleich nach der Ankunft einen Fahrplan zu inspizieren, um optimale
Termine für die Rückfahrt zu finden. Enttäuschung, denn von den sonst so
ordentlichen Schweizern hatte niemand einen Fahrplan. Weil, so lernte ich, der
Schweizer keinen Fahrplan braucht. In der Schweiz kann man sich darauf
verlassen, dass man von zeitig morgens bis nach Mitternacht sicher überall noch
einen Zuganschluss bekommt. Von jedem Bahnhof bzw. von jeder Haltestelle fährt
mindestens im Stundentakt - auf stark frequentierten Strecken auch häufiger -
immer zur gleichen Minuten-Zeit, also 8.05, dann 9.05, 10.05 usw. ein Zug ab.
Bei der Ankunft am nächsten Knotenpunkt kann man sich darauf verlassen, dass
zur gleichen Zeit Züge auch aus allen anderen möglichen Richtungen eintreffen,
man steigt in Ruhe um, und nach 5 bis 8 Minuten fährt alles wieder sternförmig
auseinander. Die gleiche Passung gibt es auch am nächsten und am übernächsten
Knotenpunkt, und das alles klappt auch um Mitternacht noch; wenn sich die Fahrt
eines ganzen Zuges nicht mehr lohnt, kann der Kunde zum Bahntarif ein Taxi
kommen lassen. Auch viele Busse, Schiffe und Bergbahnen sind an das System
angetaktet. Praktisch alle Schweizer, die hin und wieder mit der Bahn fahren,
hatten damals schon ein „Halbpreisabo“: Man kauft sich einen Pass für reichlich
hundert Schweizer Franken, und dann gelten halbe Preise auf allen Verkehrsmitteln.
Mich hat das damals sehr beeindruckt, weil wir zu Hause gerade in Überlegungen
steckten, wie das marode Reichsbahn-System der DDR modernisiert werden könnte –
das Vorbild Schweiz wäre ein Modell nicht nur für uns, sondern auch für die
Bundesrepublik West gewesen.
Kurz vor der
Wende besuchten uns vier junge Männer aus Münster. Sie waren noch nie in der
DDR gewesen und konnten sich über Dinge wundern, die wir gar nicht mehr
beachteten. Eines Tages fuhren sie im Nieselregen in unsere triste Kreisstadt
auf Erkundungstour. Erst nach Stunden kamen sie zurück, und sie erzählten
beeindruckt von ihren Entdeckungen. Da hatten sie doch z.B. einen Laden
gefunden, da wurden wirklich Regenschirme repariert! Im Westen war so was
längst ein Wegwerfartikel, aber hierzulande wurden Risse und Löcher kunstvoll
gestopft.
Wenn an unserem
großen Urlaubszelt ein Reißverschluss klemmte, gab es selbstverständlich eine
Werkstatt, die das richten konnte, da wurden schon auch mal rundum neue Ösen
eingesetzt oder neue Fensterfolien eingenäht.
Man hatte in
der DDR einen rechtlich verbrieften Anspruch darauf, dass es für jeden
Gegenstand, den man gekauft hatte, mindestens 10 Jahre lang alle Ersatzteile
geben musste. Die konnte man im Notfall auch direkt beim Hersteller besorgen.
Wenn also der Griff an der Thermoskanne gebrochen war, wurde er für 70
Pfennige als Päckchen losgeschickt, und ein paar Tage später kam das
Ersatzteil. Auch zerbissene Mundstücke für meine Pfeife fanden so immer wieder
Nachfolger.
Ende der 80er
Jahre gärte es in der DDR. Politische Bevormundung, Umweltprobleme,
militaristische Kraftprotzerei ... es gab einen regelrechten Problemstau. Alle
merkten es, seit Gorbatschow gab es auch neue Spielräume, die Zeit war einfach
reif. Irgendjemand musste doch wenigstens anfangen, darüber zu reden!
Die Kirchen –
weltweit, aber nun auch in der DDR – waren bereit, dafür eine Plattform zu
bieten, stellvertretend für die Gesellschaft ein Gespräch zu beginnen, in dem
Bestandsaufnahme, aber auch Zukunftsperspektiven Thema sein sollten. Welche
Themen aber bewegten die Menschen vorrangig? Der Prozess startete mit einer
offenen Frage, die ins Land hinaus ging: Welche Probleme bewegen DICH, welche
inhaltlichen Fragen sind in unseren Tagen, in unserer Gesellschaft besonders
dringlich? Die Resonanz war überwältigend. 11.000 Zuschriften kamen zurück,
teils Stichworte auf Postkarten, teils mehrseitige Konzeptentwürfe für die
Gestaltung einer neuen Gesellschaft.
Ich saß damals in einer Gruppe, die alle Vorschläge auszuwerten hatte, die sich
mit Umweltfragen, Lebensstil, Schöpfungsverantwortung usw. beschäftigten. Es
war beeindruckend, mit wie viel Herzblut da manches geschrieben war, und in
welcher Deutlichkeit sich schnell auch Schwerpunkte für die weitere Arbeit
herauskristallisierten.
Die Vorschläge
unserer und anderer Auswertegruppen bildeten die Grundlage für die Arbeit der
„Ökumenischen Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der
Schöpfung“, die nun ihre Tätigkeit begann. In dieser Versammlung saßen
Vertreter aller wichtigen Kirchen der DDR, „Amtliche“ und Laien in guter
Mischung, Theologen und Naturwissenschaftler und Lehrer und Arbeiter. Die
Vollversammlung tagte dreimal, aber in dem Jahr ihrer Existenz wurde in
insgesamt 12 thematischen Arbeitsgruppen zwischendurch heftig gesessen,
gestritten und um Formulierungen für Texte gerungen, die als Ergebnis der
DDR-Öffentlichkeit als Diskussionsangebot vorgestellt werden sollten. Es ging
um deutliche, klare Aussagen zu schmerzlich verdrängten Themen, es galt aber
auch aufzupassen, dass die Staatsmacht nicht durchdrehte, sondern sich auch
als Gesprächspartner verstehen konnte.
Ich war als
Berater der Ökumenischen Versammlung berufen worden und war dann fachlicher Leiter
der Arbeitsgruppe, „Energie für die Zukunft“, die die Energiepolitik der DDR
analysieren, ihre Folgewirkungen vor allem im Umweltbereich darstellen und
mögliche Perspektiven für die Zukunft skizzieren sollte.
Die
Themengruppen rauften sich zu gemeinsam getragenen Formulierungen zusammen.
Die Aussagen waren klar und deutlich, manches vielleicht auch etwas blauäugig.
Der Staat bellte heftig, aber er biss nicht.
Leider sind dann im Vereinigungstaumel die zusammengetragenen Ideen schnell
weggespült worden. Manches davon war noch in die Programme neuer politischer
Bewegungen wie „Demokratie Jetzt“ oder „Neues Forum“ eingeflossen. Es wäre
spannend gewesen zu erkunden und zu erproben, ob da vielleicht auch Einsichten
und Ansätze drinsteckten, die einem wirklich erneuerten Deutschland gut getan
hätten ...
In der
kirchlichen Umweltarbeit der DDR hatte ich mich schon länger mit Energiefragen
beschäftigt. Ich galt darum wohl als exotischer Geheimtipp. Jedenfalls erhielt
ich Anfang 1989 eine ungewöhnliche Einladung nach Berlin. Kein
innerkirchlicher Zirkel, wurde mir gesagt, Fachleute. Etwas geheimnisvoll die
Vorbereitung, kein Veranstaltungsort („wir holen Sie am Bahnhof ab“). Ich fuhr
hin, den üblichen POLYLUX (Overheadprojektor) in der Hand, und wurde von einem
mir unbekannten Herrn per Auto in die Stalinallee kutschiert; die hieß
natürlich schon lange „Frankfurter“, aber sie sah immer noch aus wie
„Stalinallee“. Wir betraten ein Eckhaus, kamen in eine höchst geräumige
„Bonzen“-Wohnung, ich schätze mal: 50 Quadratmeter Wohnzimmer mit riesigen
Fenstern, wo sich nach und nach 50 Menschen versammelten. Damen und Herren
mittleren Alters, die interessiert meinen Ausführungen lauschten, offenbar
ziemlich sachkundig und kompetent waren; wahrscheinlich arbeiteten die meisten
in irgendwelchen Behörden oder Ministerien. Wir habe zwei Stunden lang im
offenen Gespräch um Fragen gerungen, die unsere gemeinsame Zukunft betrafen.
Und das ging, obwohl wir eigentlich auf verschiedenen Seiten standen. 1989 eben
- Aufbruch.
Es war 1989, da
standen manche Mauern schon nicht mehr ganz fest. Ich leitete damals eine Arbeitsgruppe
der DDR-Kirchen zu Energiefragen, suchte Informationen und Gesprächspartner,
und so stand ich eines Tages im Institut für Energetik in Leipzig. Ein
interessantes Gespräch lag schon hinter mir, darin war es auch um
Energieperspektiven für eine erneuerte DDR gegangen. Mein Gesprächspartner
hatte aus seinem Tresor ein paar Papiere mit strategischen Überlegungen geholt,
Geheimhaltungsstempel drauf, und mir zur halblegalen Einsicht mal kurz mit in
die Bibliothek gegeben. Eine Stunde Zeit, viel zu wenig, um sich Sinnvolles aus
den vielen Tabellen zu merken. Ich habe flink die Papiere in meine Tasche
gepackt, still die Bibliothek verlassen, draußen den Trabbi angeworfen und bin
zu einer kirchlichen Einrichtung gerast, von der ich wusste, dass dort ein
Kopiergerät stand - es war noch DDR, und solche Geräte waren eine Rarität! Ich
habe hektisch Dutzende von Seiten kopiert, dann ging´s schnell den ganzen Weg
zurück, Haare gekämmt, und die Papiere wurden mit Unschuldsmine dankbar wieder
abgeliefert.
Die Kopien in meiner Tasche haben uns dann sehr viele spannende Informationen
gebracht.
Heißer
Herbst
Im Herbst 89
überschlugen sich die Ereignisse. Auf der einen Seite war die DDR nach außen
hin noch ziemlich robust. So habe ich im Oktober 1989 – drei Wochen später war
die Mauer weg – noch bange 12 Stunden in Berlin gesessen, weil ich den Pass für
eine längst genehmigte Dienstreise nach Wilhelmshaven nun doch nicht bekommen
sollte.
Dabei kochte
und brodelte es schon seit Wochen. Nach und nach ließen oppositionelle Gruppierungen
die Tarnkappen fallen und wurden öffentlich erkennbar. Aber das meiste geschah
auch im September noch höchst konspirativ - so konspirativ, dass sogar in
meinem Terminkalender ein falsches Datum und ein falscher Ort für die folgende
Begebenheit eingetragen sind. Es war wohl am 17.9., es war aber nicht in
Leipzig, wie da steht, sondern es war in Berlin, und es war keine Vortragsveranstaltung,
sondern ein Treffen, zu dem ich von einem Freund – telefonisch, erkennbar dringlich,
aber ohne konkrete Inhaltsangabe - eingeladen worden war. Ich fuhr nach Pankow.
Dort versammelten sich im Haus und im Garten der Evangelischen
Superintendentur immer mehr Menschen, schweigsam - man kannte nur wenige von
den anderen -, Grüppchenbildung. Es waren fast nur Leute aus Berlin, und ich
stellte gemeinsam mit zwei weiteren Freunden fest, dass wir die einzigen aus der
„Provinz“ waren, weil man offenbar gemerkt hatte, dass Berlin eben doch nicht
die ganze DDR abdeckte. Je 1 oder 2 Vertreter der wichtigsten oppositionellen
Gruppen waren da, vom „Neuen Forum“, von „Demokratie jetzt“, vom
Demokratischen Aufbruch“, von der DDR-SPD. Es war wohl auch das erste Mal, dass
diese Gruppierungen formell Kontakt miteinander hatten. Alle hatten ihre -
legendären und für uns in der „Provinz“ bis dahin nicht greifbaren -
Verlautbarungen, Programme und Aufrufe dabei, die ich natürlich begierig
einsackte. Die zwei SPD-Bundestagsabgeordneten, mit denen wir uns eigentlich
treffen wollten, wurden an der Grenze gestoppt, aber die Kontaktgespräche „unter
uns“ waren doch sehr ergiebig.
Für den 1.
Oktober hatte ich erneut eine Einladung nach Berlin erhalten. Diesmal sollte
der „Demokratische Aufbruch“ offiziell als Organisation gegründet werden. Ich
hatte bei einem Freund übernachtet, der dann – neugierig geworden - gleich mitkam. Als wir die Straße zur
Samariterkirche hinaufliefen - dort wollten wir uns bei Rainer Eppelmann
treffen -, standen schon Stasiautos und Stasibeobachter demonstrativ auffällig
und in großer Zahl herum. Wir trafen zwei weitere „Spaziergänger“ aus Dresden,
die zu dem Treffen wollten, und die hatten schon neue Zielkoordinaten
erfahren: Das Treffen sollte nun in Ehrhart Neuberts Wohnung in der Innenstadt
stattfinden. Wir fuhren ein Stück weit mit dem Auto der Dresdner, wurden aber
erkennbar verfolgt. Wir stellten das Auto ab, flitzten in die U-Bahn und
fragten uns zum Treffpunkt durch. Aber vor Neuberts Haus standen schon
bewaffnete Polizisten, die niemanden hinein ließen. Andere Ausgesperrte auf der
Straße flüsterten uns einen weiteren Ausweich-Treffpunkt zu. Also neue
Verfolgungsjagd in U-Bahn-Schächten – es ging nun zum Kirchgemeindehaus
Alt-Pankow im Berliner Norden. Dort warteten schon einige bekannte Gesichter.
Etwas ratlos angesichts der Situation saßen wir herum. Aber nach kurzer Zeit
waren alle wieder draußen. Aufregung: Polizei war vorgefahren, einer stand am
Gartentor, auch hier durfte jetzt niemand mehr rein oder raus! Ein paar Meter
weiter am Gehsteig war ein LO geparkt (sprich Ello, ein DDR-LKW-Typ, der vor
allem bei Polizei und Feuerwehr im Einsatz war), dessen Motor lief und bei dem
hinten die Plane geöffnet, die Klappe heruntergelassen und eine Leiter
angestellt war – fertig zum Einladen! Eine Drohgebärde nicht ohne Wirkung! Es
lief dann aber nicht ganz so heiß. Teilweise wurde es sogar grotesk. Wir - drinnen
- bekamen Hunger, durften aber nicht raus. Aber wir konnten über den Gartenzaun
mit den Uniformierten und den unsrigen, die ausgesperrt waren, reden – und dann
durften die draußen für uns drinnen was zu essen besorgen, gaben es dem
Uniformierten und der gab´s uns über den Zaun. Gründen konnten wir nun nichts.
Aber wir haben natürlich diskutiert. Zu meiner Rechten saß Ibrahim Böhme,
später Vorsitzender der DDR-SPD - und Stasi-IM! -, zu meiner Linken saß Wolfgang
Schnur, später Vorsitzender des „Demokratischen Aufbruchs“ - und ebenfalls
Stasi-IM! – was ich damals natürlich weder wusste noch ahnte. Die Situation war
ungemütlich, und eigentlich wollte ich auch nach Hause. Zur Entkrampfung der
Situation tauchte dann der Berliner Bischof auf, er war bereit, mich in seinem
Auto ein Stück mitzunehmen, und so war ich wieder draußen.
Am 28. Oktober
gab es dann einen zweiten Anlauf zur Gründung des „Demokratischen Aufbruchs“.
Die Versammlung unter Leitung von Schnur lief teils erzbürokratisch, teils sehr
basisbewegt ab. Die inhaltlichen Ziele waren für mich nicht klar erkennbar,
oder sie waren nicht die meinen. So habe ich dann auch Nein gesagt auf die
Frage nach einem Sitz im Vorstand. Überhaupt bin ich danach wieder zu meiner
alten Gewohnheit zurückgekehrt, keinem politischen Verein beizutreten, damit
ich unverkrampft mit allen reden kann.
Ich hatte das Glück,
nach der Wende in meinem Beruf weiterarbeiten zu können. Manche Fragen, mit
denen ich vorher intensiv zu tun hatte, z.B. die Auseinandersetzung mit
DDR-spezifischen Umweltproblemen, waren nun nicht mehr aktuell. Andere Fragen
sind systemneutral spannend geblieben – z.B. der sich abzeichnende Klimawandel
– oder stellten sich nun neu, wie etwa ethische Fragen am Anfang und am Ende
des menschlichen Lebens.
Im Folgenden
sind auch einige Ausschnitte aus meinen „Jahresbriefen“ wiedergegeben, in
denen ich Freunden und Bekannten davon berichte, was ich im letzten Jahr erlebt
habe und was mich bewegt.
Wende
I
(aus meinem Jahresbrief über das Jahr 1989)
... jetzt ist
wieder Dezember. Aber eben Dezember im 89er Jahr, und da steht alles Kopf. Ich
kneife mich manchmal und frage, ob das alles wirklich wahr ist, oder ob ich in
einem Traum - ein sehr schöner meist, manchmal inzwischen aber auch ein
Albtraum - eingefangen bin. Totale Reisefreiheit - für uns, bisher nicht für
Euch drüben! -, völlig verwandelte Menschen, daneben schnell verfallende
Monumente, Entlarvungen über einen Feudalstaat im 20. Jahrhundert, aber eben
nicht nur Empörung, sondern auch Rache-Geschrei, viele haben einfach vergessen,
dass sie alle bis vor wenigen Wochen noch dieses blöde Spiel perfekt
mitgespielt haben, dass in diesem DDR-Klima sehr viele korrupt und bestechlich
gewesen sind, jeder stolz war auf seine „Beziehungen“. Ich bin hin- und
hergerissen. Keine Nachrichtensendung möchte man verpassen, um den Lauf der
Zeit nicht zu verschlafen. Überall möchte man sich nun einmischen,
mitgestalten, endlich gibt es die Möglichkeit dazu. Aber dann auch schnell
Resignation: Auf der Straße, das ist nicht mehr nur der Aufbruch des Volkes
(„Wir sind das Volk!“), das hat jetzt auch die Dimension einer DEMO-kratie,
eines Erzwingens ständiger Veränderungen unter dem Druck der Parolen von der
Straße. Andere - meist mäßigende - Meinungen werden in Sprechchören
niedergeschrieen, auch Leute vom „Neuen Forum“ müssen sich inzwischen als
„Verräter“ titulieren lassen. Es gibt einen starken Trend ins Nationale und
nach rechts. Die Bonzen, die den Sozialismus gepachtet hatten, haben auch alle
guten linken Ideen für die Leute höchst verdächtig gemacht. Ich kenne
SED-Genossen und Lehrer, die Morddrohungen erhalten oder deren Kinder
verprügelt werden. Ich lese in der Zeitung, dass über Beschlüsse von Gerichten
– da geht es um ganz zivile Sachen wie Zahlung von Mietrückständen oder
Unterhalt – die Verurteilten laut lachen und sich nicht daran zu halten gedenken.
Die ehemals berühmte Demo von Leipzig erinnert jetzt schon wieder ein wenig an
Weimarer Zeiten. Rücktritte sind bis in die unteren Ebenen an der Tagesordnung,
unter dem Druck von Demos und Unterschriftensammlungen schließen Betriebe ...
Meine Tochter Birgit hat immer mal gefragt, was ANARCHIE ist. Ich glaube, jetzt
erleben wir so etwas, aber das nun in Mitteleuropa – viele hier haben zunehmend
Angst. Es geht alles so schnell und trifft uns unvorbereitet. Demokratie will
gelernt sein, dieses mühselige Geschäft haben wir noch vor uns. Neuwahlen
müssen sicher schnell stattfinden, um diesem Land eine legitimierte Regierung
zu geben, aber wenn ich mir die neuen Gruppierungen und Parteien ansehe und
die alten in ihrem schlechten Zustand dazu – angesichts der fehlenden
inhaltlichen und personellen Profile wird eine sinnvolle Wahl eigentlich
unmöglich. Im Hintergrund ja auch immer die Frage, ob es eine eigenständige
DDR überhaupt noch lange geben wird. Ich befürchte, die schweigende Mehrheit
hat schon entschieden, bewusst oder resigniert: Wir lassen uns einkaufen und
vom reichen Westonkel sanieren. Mir gefällt das nicht ganz, das scheint mir
doch ein zu einfacher Weg zu sein. Wir sollten unsere Schwierigkeiten hier, an
denen wir doch alle ein bisschen mit Schuld haben, erst einmal selbst in
Ordnung bringen. Natürlich mit westlicher Hilfe und von mir aus in einer
konföderativen Ordnung – aber so viel Stolz sollten wir doch haben, den Karren
selbst aus dem Dreck zu ziehen und erst einmal in Ruhe zu erkunden, was wir
unter neuen Bedingungen leisten können, was aus unseren letzten 40 Jahren wir
retten und sichern wollen. Ich glaube, viele hier ahnen gar nicht, was das
neben Apfelsinen und Bananen noch heißen würde, wenn uns der reiche Nachbar
jetzt gleich schluckt: härtere Bandagen im Sozialen, weit höherer und
ungewohnter Arbeitsstress, Sich-selbst-um-alles-kümmern-dürfen aber auch
–müssen ...
Ihr merkt, ich alter Mann hätte gern eine etwas ruhigere Gangart.
Dabei ist das
alles doch so wunderschön. Eine spontane Bürgerversammlung in unserem Dorf
macht sich Gedanken um eine politische, kulturelle, ökologische Verbesserung
der Heimat. Freunde berichten mit belegter Stimme am Telefon, dass sie dabei
waren bei der Erstürmung der Bastille, sprich der Besetzung des verhassten
Stasi-Hauptquartiers durch Bürgerkomitees. Das gute Gefühl, dass nun nachts
keine Anrufe mehr kommen werden, weil Freunde verhaftet sind, oder dass man vor
Angst Schriftstücke verbrennt ...
Schafe
sehen schön aus in einem ländlichen Garten. Schafe zu halten brachte aber zu
DDR-Zeiten auch richtig Geld. Der Staat DDR kaufte Schafwolle für etwa 70 Mark
pro Schaf auf. Und zusätzlich brachten Schafe ja auch noch Fleisch in den
Kochtopf. Nach der Wende war alles schlagartig anders. Es gab keinen Staat
mehr, der Wolle kaufte, also wohin damit? Eines Tages stand eine Annonce in
der Zeitung: In Lengefeld, 40 Kilometer weit weg, würde dann und dann Schafwolle
aufgekauft. Wir luden ein paar Säcke mit Wolle, die sich angesammelt hatte,
frohgelaunt in den Trabbi und fuhren hin. Lange Schlange, na ja, das kannten
wir noch, also anstellen. Dann aber gab´s lange Gesichter. Für 1 Kilogramm
Wolle - das ist etwa das, was auf einem ganzen Schaf drauf ist - erhielten wir
70 Pfennige! Da war es auch kein Trost, dass das West-Pfennige waren.
In den ersten
Wochen und Monaten nach der Währungsunion (1.7.1990) hatten wir zwar Westgeld
in der Hand, aber noch gab es keine West-Läden in unserer Nähe. Lange Kolonnen
von Trabants und Wartburgs wälzten sich Tag für Tag über die Grenze, hin zu den
Tempeln des Glücks in Hof oder Bayreuth. Auch wir hatten uns anstecken lassen
und machten uns auf die Reise. Irgendwo hielten wir dann vor einem ALDI. Der
Markt war hoffnungslos überfüllt, also: Schlangestehen bei der Wagenausgabe,
Schlangestehen vor dem Eingang. Dann waren wir endlich drin. Aber auch hier gab
es nur eine einzige dichte Menschentraube, die langsam in Dreierreihen in
Richtung Kasse weiterrückte und in der wir willenlos mitschwammen. Aus den
Regalen, an denen wir vorbeigedrängt wurden, packten wir das eine oder andere
in unseren Wagen. Mitten im Gewusel zogen sich ungerührt Leute an und aus, um
Kleidungsstücke zu probieren. Die Viertelstunden vergingen, das Knurren in der
Masse wurde merklich lauter. Irgendwann verloren wir schlicht die Nerven,
ließen einfach unseren Einkaufswagen stehen und flohen.
Wende II
(aus meinem Jahresbrief über das Jahr 1990)
... Die Schule im allgemeinen
ist überhaupt ein Phänomen. In gerader, kaum gebremster Fahrt nebst fast allen
Lehrern aus der alten Zeit fährt der Zug weiter. Neue Schlagworte (wie im Westen),
neue Schulmodelle (wie im Westen), neue Strukturen (ich sitze jetzt in einer
Schulkonferenz) – man staunt. Manches ändert sich auch wirklich, aber die
Menschen - auch die Lehrer sind ja solche - wohl viel langsamer. Befreiung und
gleich wieder neue Anpassung; mir ging da vieles zu glatt.
Was
ist über mich zu sagen? Etwas rundlicher geworden - ist´s der Kummer oder der Wohlstand?. Anzug gekauft - die Zeiten machen´s nötig. Viel
zu tun - das ist ja für uns Ossis plötzlich auch was Wertvolles geworden nebst
zugehörigem Arbeitsplatz. Im vergangenen Jahr war ich zum Teil in ganz neuer
Weise gefordert. Da fand ich mich eingeladen an die verschiedensten Runden -
oder eckigen - Tische. Mitreden beim Aufarbeiten der Vergangenheit und bei
Neu-Entwürfen für die Zukunft. Das war spannend, sehr lehrreich, wenn auch im
Rückblick meist auch Nulleffekt vom wirklichen Ergebnis her - die Wirklichkeit veränderte sich einfach noch
schneller. Schule der Demokratie, Bändigen der Aggressionen der alten und neuen
Kräfte - es war schon der Mühe wert, dass der Umsturz im Gespräch stattfand.
Plötzlich waren unsere lange im Untergrund ausgebrüteten Ideen salonfähig.
Mancher staatliche Widersacher aus alten Tagen klopfte unsereinem locker
marktwirtschaftlich-gewendet auf die Schulter: „Wir konnten doch schon immer gut
miteinander ...". Bärtige Gesichter waren gefragt im Fernsehen. Ich hatte
ja mal im heißen Herbst ´89 den „Demokratischen Aufbruch" mit gegründet.
Schon vergessen? Das war die „Allianz-für-Deutschland-Partei“ mit
Stasi-Häuptling Schnur an der Spitze. Aber die politische Richtung war mir sehr
schnell verdächtig, und so war ich bald, wie früher immer, in keinem Verein
mehr, habe es genossen, dass man so mit allen weiter gut reden konnte, ohne
gleich in Schubladen einsortiert zu werden.
Irgendwann
hatte ich dann das Gefühl, schon wieder unbequem zu sein; Opposition, wie in
den letzten 20 Jahren gelernt. Ich geb´s zu: Mir ging das alles viel zu
schnell. Ich wünsche mir noch immer mal ein paar Monate Zeit, das alles zu
kapieren, was sich da gedreht hat. Wenn´s nach mir gegangen wäre, säßen wir
vielleicht heute noch irgendwo zwischen Krenz und de Maiziere mit einer erst
halb eingerissenen Mauer. Fürchterliche Vorstellung - aber ich bin eben ein
vorsichtiger Mensch, der einen durchschaubaren Schritt nach dem anderen machen
möchte.
Aber ich hab´s schon genossen, was da so
passierte. Die bisher so
unterwürfig-angepassten DDR-Menschen: Plötzlich waren sie aufgewacht und
gingen selbstbewusst zu ihren revolutionären Wanderungen, pünktlich montags
nach Feierabend - zum Glück war im Herbst ´89 das Wetter stabil gut. Da kippte
die verhasste Mauer unter dem Druck von fröhlichen Menschen, die zunächst
„rüber“ gingen mit der freundlichen Drohung „Wir kommen wieder!"; viele
davon sind dann doch endgültig gegangen, dahin, wo es mehr Geld gibt und
weniger Probleme. Bis nachts gegen zwei habe ich am Fernseher erlebt, wie –
ausgelöst durch ein paar nebulöse und deutbare Sätze in einem Interview des
Politbüromitglieds Schabowski - das Bauwerk von einer Flut fröhlicher
Menschenmassen einfach überspült wurde, das mein Leben seit meinem 14.
Lebensjahr so sehr geprägt hatte. Da kam die späte Erfüllung meiner 68er Träume:
Wieder versammelten sich - und diesmal siegreich - fröhliche Menschen auf
Prager Straßen, und die Tschechen hatten einen sympathischen Dissidenten-Präsidenten;
solch ein Analytiker mit Tiefgang und Durchblick hat uns in der „DDR“ sehr
gefehlt.
Und
noch vieles hat mir Spaß gemacht. Manchmal muss ich mich mit Gewalt daran
erinnern, dass es schon ein Wunder ist, als „OV" nicht vorsorglich in ein
Lager gebracht worden zu sein. Ich war solch ein „Operativer Vorgang“ bei der
Stasi. Der „Firma“ habe ich überhaupt einiges zu verdanken, z.B. einen
„Ehrendoktor-Titel“: Ich werde in meinen Stasi-Akten als „Dr. Krause“ geführt –
hihi. Oder wie herrlich entkrampft das Verhältnis zwischen Ost und West ist,
wenigstens im militärischen Bereich: keine Feinde weit und breit in Sicht,
welch mühsames Geschäft für Generäle! Und gleich daneben auch Angst an der
gleichen Stelle: Wie gestalten wir reich-gemachten Ossis und alle Deutschen unser neues Verhältnis zu den östlichen
Nachbarn, die es ja mit einem Neuanfang - ohne reichen Westonkel - noch viel
schwerer haben? Schon zeigen es denen manche meiner Mitbürger gern: Dicke
Brieftasche mit richtigem Geld – und nun tischt mal auf! In Tschechien kostet
1 x Mittagessen plus Getränke für die ganze Familie 5 DM.
Jaja, meine Mit-Ossis habens nicht
leicht mit mir. Weil ich das Gerede von „Revolution“ nicht hören kann (die
Zeit war reif, Gorbi sei Dank); weil ich das Gejammere nur schwer ertrage vom
Wie-sind-wir-doch-betrogen-worden (da haben doch viele ihr Schäfchen im
Trockenen gehabt und sich selbst und andere kräftig mit betrogen); weil ich mir
zwischen fast 16 Millionen Widerstandskämpfern etwas merkwürdig vorkomme.
Dass viele auf die D-Mark hin gehofft
und gewählt haben, ist mir irgendwo verständlich, wie auch das schnelle
Lossagen von der eigenen Vergangenheit. Aber dass die gewünschte
Hochleistungsgesellschaft ihre Kehrseite hat, dass hartes Geld auch hart
erarbeitet sein will, dass man nur aus einer starken Position heraus ein
großes Stück vom Kuchen kriegt - das haben viele sich nicht vorstellen können
und erleben es nun schmerzlich am eigenen Leibe. Arbeitslosigkeit, mit der man
nicht gelernt hat umzugehen, die ist längst Realität in allen Nachbarhäusern.
Die Industrie in unserer Heimat bricht flächendeckend zusammen. Fernost macht
Textilien billiger und Trabis will keiner
mehr - also gibt es Zehntausende freigesetzte Arbeitskräfte und wenig Hoffnung
auf eine schnelle Trendwende.
Da sind die vielen
neuen Freiheiten und Werkzeuge, mit denen wir nicht gelernt haben umzugehen,
z.B. Streiks. Der Reichsbahnstreik im November brachte mir einen
Zwangsaufenthalt im Westen ein. Ich denke da auch an Drogen, neue Kriminalität,
PS-Raserei, Kreditversuchungen. Für mich ist das schon ein richtiger
Kulturschock, was wir so erleben. Hineingeworfen in eine völlig anders
aufgebaute Gesellschaft - die gleiche Sprache kann da sehr irreführen-, die auf
Hochtouren läuft, dazu noch belastet mit Sorgen um den Arbeitsplatz,
Schwierigkeiten mit der eigenen Identität usw. - da fällt es schon schwer,
innerhalb von wenigen Monaten all das zu verstehen und richtig anzuwenden, was
die lieben Wessis im Laufe von 40 Jahren langsam und ohne Bruch gelernt haben.
Wie fülle ich die vielen nicht vertrauten Formulare aus, um meine Rechte und
Pflichten wahrzunehmen, wie gehe ich mit Konsum-Versuchungen um, ohne mich zu
verschulden, wie lebe ich mit Risiko sinnvoll und wo wird´s gefährlich, wie
beiße ich mich durch den für mich zutreffenden Berg von Gesetzen, welches neue
Amt ist wo und was muss ich dort ...? Da kriegt man schon manchmal seine Wut,
wenn man aus Wessi-Mund erfährt, dass in der DDR eine ordentliche Verwaltung ja
überhaupt erst einmal aufgebaut werden muss - das klingt, als kämen wir aus
der Steinzeit, dabei hatten wir eine aufgeblähte, aber leider ungeeignete Bürokratie
deutschester Art . Und dass West-Fachleute in Justiz und Verwaltung
unverzichtbar sind für die „FNL" (die „fünf neuen Länder“) - die kennen
eben einfach ihr altes und unser gemeinsames neues System und wir nicht. Immer
kriege ich gute Ratschläge von Wessis, die nichts, aber auch gar nichts neu
lernen müssen, die so weiterleben dürfen wie gewohnt, da fühle ich mich doch
bestraft von den neuen wie von den alten Besserwissern. Das ist auch die
Quittung für 40 Jahre fürsorgliche staatliche Aufsicht mit Maulkorb, für das
DDR-Leben ohne Risiko im warmen, wenn auch nicht zu komfortablen Nest.
Ich jammere dem Alten keine Träne nach,
aber ich befürchte, wir werden noch viele Verschiedenheiten und
Missverständnisse entdecken, ehe wir EIN VOLK sind. Die Losung „Wir sind d a s
Volk" hat mir übrigens damals besser gefallen; aber das mit
dem e i n e n Volk ist ja irgendwo auch sehr sehr normal,
nur hatte man´s fast vergessen.
Hoch hinaus
Eines meiner
Kinder hatte mir einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt: Ich solle mal beim
Bischof anrufen, es gehe um eine Terminabstimmung. Solche Kontakte gab es nicht
allzu häufig. Ich suchte also die Telefonnummer heraus, griff nach dem Hörer
und wählte. Zunächst knisterte es, dann meldete sich eine weibliche Stimme:
„Hier Herrgott.“ Ich musste etwas schlucken und stotterte dann: „So weit nach
oben wollte ich eigentlich gar nicht – kann ich vielleicht mal den
Landesbischof sprechen?“ Die Verwirrung wurde aufgeklärt. Die Chefsekretärin
des Bischofs hieß tatsächlich Herrgott.
Die Wendezeit
brachte mir erstaunliche Ehrungen und neue Aufgaben ein.
So wurde ich für ein halbes Jahr Vorsitzender von GREENPEACE für das Land DDR -
ein Land in Abwicklung. Ich gewann erstaunliche und ernüchternde Einsichten in
das Machtgefüge und die Arbeitsweise eines Umweltkonzerns.
„Greenpeace DDR
e.V.” wurde im Juni 1990 in Berlin als Verein gegründet. 17 Gründungs-Mitglieder
waren formell dabei, das war dann aber auch schon „Greenpeace DDR“ im
eigentlichen Sinne. Alle Leute, die in der Folgezeit Mitglieder bei Greenpeace
wurden, waren nur Mitgliedsbeitrag zahlende Fördermitglieder ohne Stimmrecht
bei irgendetwas.
Ich wurde – für
mich etwas überraschend – zum Vorstandsvorsitzenden gewählt, hatte aber, da die
Geschäfte straff von Greenpeace International und aus Hamburg ferngesteuert
wurden, in der Folgezeit kaum etwas zu entscheiden. Nur die Abwicklung des
Vereins ein halbes Jahr später musste ich selbst tätigen. Das war relativ
schwierig, weil das vor einem richtigen Notar passieren musste, mit Siegel und
so, und ein solcher war 1990 in Ostdeutschland nur mühsam und erst in 30
Kilometern Entfernung zu finden.
Mit der
Vereinigung übernahm die Bundesrepublik Deutschland-West auch die Zuständigkeit
über einige schwierige Hinterlassenschaften der DDR im Umweltbereich. Dazu
gehörte die „SDAG WISMUT“ (Sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft), ein Staat
im Staat DDR, der bei der Gewinnung von Uran ganze Landstriche verwüstet und
durch radioaktive Altlasten verseucht hatte, und durch dessen hartes
Arbeitsregime Tausende von Bergleuten zu Tode gekommen oder schwer geschädigt
worden waren. Diese Vergangenheit galt es nun aufzuarbeiten, die Umweltschäden
mussten saniert und den Geschädigten zu ihrem Recht verholfen werden.
Im Umweltministerium in
Bonn hatte man anfangs kaum Vorstellungen vom tatsächlichen Umfang der anstehenden
Aufgaben. „Wir dachten, wir schicken da mal ein paar Beamte hin, und dann
läuft´s ...“ sagte mir später ein Ministerialer. Immer mehr Probleme wurden in
der Presse publik, die Wut in der Bevölkerung wuchs. Umweltminister Töpfer kam
nach Schneeberg, um sich selbst einen Eindruck von der Situation zu verschaffen.
In einer bis auf den letzten Platz besetzten Kirche hörte er sich die Vorwürfe
und Fragen der Bevölkerung an und versuchte, Antworten zu geben. Ein Verdacht,
der ihm entgegenschlug, war: Könnte die WISMUT jetzt, in der unklaren Übergangssituation,
vielleicht belastende Unterlagen über die gesundheitlichen Auswirkungen des
Uranbergbaus auf die Bergleute und die Bevölkerung manipulieren oder
verschwinden lassen? Töpfer versprach, da schnell etwas zu tun.
Ein paar Tage
später bekam ich aus heiterem Himmel einen Anruf aus dem Bonner Ministerium. Ob
ich - doch wohl einigermaßen sachkundig im Uranbergbau, bekanntermaßen in
kritischer Distanz zum DDR-System und wegen meiner Tätigkeit bei der Kirche
auch in einer neutralen Mittler-Position - mir vorstellen könne, Herrn Töpfer
bei der Sicherung der Gesundheitsunterlagen der WISMUT zu beraten. Ich konnte,
und dann saßen ein paar Tage später zwei Ministeriale in meinem heimatlichen
Arbeitszimmer und besprachen mit mir Genaueres. Dann musste ich noch „amtlich“
beauftragt werden, was mir eine nächtliche Fahrt mit dem Zug im schwarzen Anzug
nach Bonn einbrachte. Dort wurde ich sehr förmlich die Leiter der Hierarchie
hochgereicht, plauderte also erst einmal eine halbe Stunde mit meinem
Kontaktmann, dann wurde ich weitergereicht zum Abteilungsleiter (der
offensichtlich Schwierigkeiten damit hatte, dass auch ich Fragen stellte oder
Position bezog), und dann saß ich endlich beim Staatssekretär, der mir feierlich
eine Urkunde über meinen Beraterstatus aushändigte. Anschließend ging´s als
Abschluss feierlich zum Essen, und obwohl das Lokal, wie sich herausstellte,
nur einige Hundert Meter entfernt war, zwängten wir uns zu fünft in die
gepanzerte Dienstlimousine des Ministeriums, fuhren um die Ecke, und dann
tafelten und tranken wir ausgiebig.
Zu Hause
angekommen habe ich mich dann in diese „ehrenamtliche Nebentätigkeit“
gestürzt. Erst nach und nach wurde mir die wirkliche Dimension des Molochs
WISMUT deutlich. Da gab es nicht nur Dutzende von Standorten, an denen im Laufe
von 40 Jahren nach Uran gesucht und gegraben worden war. Da gab es noch mehr
Einrichtungen des eigenständigen „Gesundheitswesens WISMUT“: Arztpraxen,
Ambulatorien, Polikliniken, Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen, Archive
usw.. Ich musste mir mühsam einen Überblick
verschaffen; die WISMUT-Insider waren mit Unterstützung sehr zurückhaltend.
Und dann habe ich eine Einrichtung nach der anderen besucht und Berichte über
den vorgefundenen Zustand geschrieben und Empfehlungen für die Sicherung der
Akten gegeben. Zum Glück hat sich nach meinen Beobachtungen in keinem Fall der
Verdacht bestätigt, dass gezielt gesundheitsrelevante Unterlagen „beiseite
geschafft“ worden wären. Aber es gab schon manchen Missstand. Ich fand
Karteikästen in der Besenkammer einer Baracke, es gab Einrichtungen, die hatten
den Kumpels einfach „ihre“ Unterlagen mit nach Hause gegeben, ich musste einem
ehemaligen WISMUT-Arzt seine halbe Krankenkartei wieder wegnehmen lassen; er
hatte einfach die Akten aller Bergleute, die früher bei ihm in Behandlung
waren, bei der Privatisierung seiner Praxis als Kundenstamm mit „übernommen“.
Der Briefbogen, auf dem
ich zum „Beauftragten“ ernannt worden war, erwies sich als ein Generalschlüssel.
Wo ich auch anklopfte im ehemals hermetisch abgeschlossenen „WISMUT“-Imperium –
plötzlich öffneten sich mir alle Türen. Ich konnte - auch wenn es jetzt gleich
sein sollte! - mit jedermann reden, ich durfte in Akten lesen, die mich interessierten
und ich konnte besichtigen, was mir wichtig erschien. So bin ich eines Tages
auch noch zu der Ehre gekommen, in den tiefsten Schacht Europas einzufahren.
In zwei Etappen ging es mit dem Fahrkorb bis auf 1800 Meter hinunter. Da es in
dieser Tiefe eigentlich 60 oder 70 Grad heiß ist, gab es „im Berg“ eine
gigantische Klimaanlage, die mit kalter Frischluft („Bewetterung“) das
Arbeits-Klima erträglich machte. Weil die Wege vom Fahrschacht bis zum
Arbeitsplatz oft mehrere Kilometer weit waren, fuhr da unten eine Kleinbahn.
Und dann standen wir vor dem „Erz“. Von Uran wurde in der DDR nie gesprochen,
bei der WISMUT war immer nur von „Erz“ oder „Metall“ die Rede. Mein
Geigerzähler tickte nicht mehr, sondern ging zu einem fiependen Pfeifton über. Ich
durfte auch einmal versuchen, mit einem der schweren Presslufthämmer ein Loch
ins Gestein zu bohren und bekam ein Gespür dafür, welch harte Knochenarbeit
das auch heute noch ist.
Ein andermal besuchte ich
eine Abteilung, die sich mit den Berufskrankheiten der Uranbergarbeiter
beschäftigt hatte. Etwas bedrückend war es schon, in nüchternem
Mediziner-Latein Erläuterungen zu Tausenden von Gewebe-Proben zu erhalten,
wenn diese Präparate jeweils der Beleg für den tödlich verlaufenen Lungenkrebs
eines Menschen sind.
Irgendwann später habe ich
einmal auf einer Tagung vor Fachleuten über meine Rechercheergebnisse
berichten sollen. Ich hatte mir ein Stück Uranerz mitgebracht, das ich vor mir
auf den Tisch legte. Im Laufe des Gesprächs holte ich meinen Geigerzähler aus
der Tasche, um die vorhandene Radioaktivität „hörbar“ zu machen. Interessant
war, wie meine Nachbarn zur Rechten und zur Linken, allesamt nüchterne
Naturwissenschaftler und beim Thema Strahlung eigentlich recht gelassen, von
einer Sekunde auf die andere unruhig wurden und darum ersuchten, dass das
Erzstück aus dem Raum verschwand. Über Strahlengefahren theoretisch zu reden
oder ihnen wahrnehmbar zu begegnen, das war eben doch zweierlei.
Ich wollte mich
kundig machen, welche modernen Untersuchungsmethoden und Messgeräte es gab, um
Radioaktivität nachzuweisen, in der Luft, im Gestein, in Lebensmitteln. In
Schlema im Erzgebirge existierte eine Arbeitsgruppe, zusammengesetzt aus
diplomierten und promovierten Naturwissenschaftlern, die bereit waren, mich
einen ganzen Tag lang zu betreuen.
Eines blieb mir
besonders eindrücklich. Wir waren hinaus gefahren auf eine Bergwiese, um dort
die Radonbelastung im Erdboden zu messen. Und damit wir ordentlich was messen
konnten, sagte man mir, müssten wir an einer Spalte messen, wo der Untergrund
zerklüftet war. Man zeigte mir zunächst, dass in der Landschaft in einigen
hundert Metern Entfernung deutlich eine geologische Verwerfung zu sehen war,
eine Bruchkante, an der sich schon vor langer Zeit Gesteinsschichten um
hundert oder mehr Meter gegeneinander verschoben hatten.
Nun galt es, diesen
Spalt auch in der Nähe zu orten, um Messungen durchzuführen. Um den Spalt zu
finden, ging einer der Geologen an sein Auto und holte ein paar gebogene Drähte
hervor. Als ich interessiert guckte, war es ihm irgendwie peinlich, aber er
sagte: Das ist eine Wünschelrute, das machen alle so, das funktioniert noch am
besten. Wünschelrute – das war für mich was Verdächtiges, aus dem
Esoterikkabinett, und nun gar noch in der Hand eines WISMUT-Geologen? Die
Wissenschaftler bemerkten meine Irritation und meinten, das könne ich gleich
auch selbst einmal ausprobieren. Auf der Wiese war ein Entwässerungssystem
installiert worden, von dem nur im Abstand von jeweils einigen zig Metern
Betondeckel zu sehen waren. Von einem dieser Gullys zum nächsten verliefen jeweils
in gerader Linie Rohrleitungen, das war klar. Nun bekam ich die Wünschelruten
in die Hand gedrückt; in diesem Fall waren es etwa 4 Millimeter dicke Drahtstangen
aus Schweißdraht (Eisen), etwa 60 Zentimeter lang, davon die letzten 15
Zentimeter rechtwinklig nach unten gebogen. Ich sollte in jede Hand einen der
Drähte nehmen, die Hand um die kurze Seite geschlossen, locker, damit sich die
Drähte bewegen konnten. Nun wurde ich an eine Stelle geführt, die etwas
außerhalb der Verbindungslinie zwischen zwei Gully-Öffnungen lag. Und dann hieß
es: Einfach geradeaus losgehen, Stäbe voran. Es war verrückt, aber die langen
Seiten der Stäbe bewegten sich nach einigen Schritten plötzlich erkennbar nach
außen! Ich ging ein Stück weiter, versuchte es diesmal in der Gegenrichtung –
und wieder kam ein Ausschlag, genau über der unter mir liegenden Wasserleitung.
Ich war etwas durcheinander.
Später zu Hause
habe ich mir aus verschiedenen Metalldrähten solche Stäbe gebaut. Nur Eisen
funktionierte gut. Ich bin im Garten umher gegangen, dort, wo wir vor 20
Jahren unsere Hauswasserleitung vergraben hatten, ich habe die unterirdische
Telefonleitung geortet, ich habe in einem anderen Grundstück erfolgreich die
Abwasserleitung gesucht, ich habe Mitmenschen die Drähte in die Hand gedrückt.
Der heiße Test
fand statt, als Monate später mitten auf unserer großen Wiese plötzlich Wasser
zutage trat. Die Vermutung war, es könne die alte Wasserleitung sein, die vom
Sammelbecken hinten im Garten das Wasser ins Haus führte. Ich bin mit meinen
Drähten ein paarmal hin- und hergegangen, und dann habe ich mutig mit dem
Spaten ein tiefes Loch gegraben. In anderthalb Metern Tiefe stieß ich
tatsächlich auf die Leitung, die aus Eichenholzröhren gefügt war. Ich hatte mit
meiner Wünschelrutenmessung nur 10 Zentimeter daneben gelegen!
Fazit
spielerischer Studien: Manchmal klappt´s und manchmal klappt´s nicht. Wenn ich
sicher bin, dass da wirklich was zu finden ist, dann habe ich relativ gute
Chancen, auch fündig zu werden. Ich würde mir aber nie wagen, für jemanden eine
Wasserader oder Quelle zu suchen, wo der Erfolg unsicher und die (Fehl-)Investitionen
erheblich sein könnten. Und ich habe festgestellt: Wer relativ locker rangeht,
kann´s besser, als jemand, der verkrampft ist. Und bei benebeltem Kopf
(Schnupfen z.B.) geht gar nichts.
1991 (aus
meinem Jahresbrief)
Es war -
den dürftigen Auskünften der Sippe nach - wohl ein recht unauffälliges Jahr,
normal eben. Geschichten zum Lachen fallen mir keine ein, meinte meine Frau.
Dieses Gefühl hab ich auch, obwohl ich mich und andere eigentlich recht oft in
Hektik und Dauer-Stress erlebe, aber warum eigentlich? Das wird an den Zeiten
liegen. Der Umbruch greift doch viel tiefer in das Alltagsleben ein, als
mancher zunächst gemeint hatte. Unsicherheit mit dem Arbeitsplatz, ständig sich
verändernde Preise und Tarife, bisher unbekannte Formulare und Behörden in
Hülle und Fülle, die vielen Dinge, um die man sich jetzt selbst kümmern darf,
aber eben auch kümmern muss, das Balancieren zwischen notwendiger Hilfe und
oft begleitender Bevormundung aus dem Westen - solch ein Leben strengt einfach
an. Und so hat jeder viel mehr als früher mit sich selbst zu tun, einige Kontakte
sind eingeschlafen - mancher wird´s an ausbleibenden Briefen oder sparsameren
Besuchen gemerkt haben. Und ein Thema ist in jeder Runde, in der man
zusammensitzt, nach spätestens ein paar Minuten ganz vorn: GELD - woher,
wieviel, wohin? Das hab ich früher bei Gesprächen im Westen nie verstanden,
wie man um dieses eigentliche Hilfsmittel zum Leben so viel Gewese machen kann;
jetzt hat´s auch uns voll erwischt. ...
Wir stellen
uns also um: auf neue Teesorten (passionierte Teetrinker werden es
nachempfinden können, wenn die gewohnte Lieblingsmarke nicht mehr zu haben
ist), auf neue Einkaufsgewohnheiten (einmal in der Woche mit ein paar Kisten
in den Supermarkt statt wie bisher täglich mit Körbchen und Plausch in den
Dorf-„Konsum": der ist längst wegrationalisiert worden), auf mehr
Ellenbogen im menschlichen Miteinander, auf mehr Selbstdarstellung (ich denke
da an junge Möchte-gern-Manager in lila Modejäckchen). ...
Jammern
kann man viel hören, ich kann´s manchmal nicht mehr erhören, dieses
„Wie-haben-wir-doch-gelitten-wie-hat-man-uns-betrogen-wie-schlecht-gehts-uns-jetzt".
Natürlich haben manche schreckliche Repressionen erdulden müssen, manche haben
die Wahrheit wirklich nicht gewusst – (aber wo haben die eigentlich gelebt?).
Einige finden sich nun am Sozialhilferand dieser reichen Gesellschaft wieder.
Aber die meisten haben im „Sozialismus" in ihrer bequemen Nische
gekuscht, und den meisten geht es jetzt materiell deutlich besser als vor
einem Jahr. Die Bewältigung der Vergangenheit, der eigenen kleinen wie der
großen - mit all dem Stasi-Ballast -, wird uns noch eine Zeitlang beschäftigen.
Ich hoffe, dass wir uns auch die Zeit dafür nehmen und nicht zum zweitenmal in
diesem Jahrhundert im Aufbruchsrausch alles verdrängen. ...
In diesem
Sommer ist auch unser großer Teich vorm Haus verschwunden, schlicht
eingetrocknet. Eines Tages wurden vom Pächter die großen Fische gerettet,
etwas später haben wir einige hundert Winzlinge, die in den letzten Pfützen
strampelten, in den Bach befördert - und dann blieb tief aufgerissener Schlamm
übrig. Es sah aus wie auf manchen Fotos aus Dürregebieten. Nun jammern die
Kinder im Dorf, weil erstmals seit Jahren das beliebte Schlittschuhfahren
ausfällt. Bange Frage: War´s nun schon der Treibhauseffekt oder war´s nur ein
normaler Schlenker im Wettergeschehen?
1992 (aus
meinem Jahresbrief)
... Ich
fahre dann gleich zu einem Seminar, bei dem wir nicht nur an Adventsplätzchen
knabbern wollen, sondern an der Frage, wie das eigentlich mit dem Christ-Sein
in der Marktwirtschaft aussieht: Kann sie wirklich so „sozial" und
„ökologisch" gemacht werden - und wie geht das? -, dass man laut JA sagen kann ? Und wenn nicht, was dann ...? Jedenfalls ist das
schon spannend, mitten im weihnachtlichen Marktgetümmel solches zu tun. Es
haben sich übrigens ganze sieben Leute zum Seminar gemeldet; die anderen haben
offensichtlich mit dem Glück und mit den Tücken praktischer Marktwirtschaft
genug zu tun. ...
Eindrücke: Das Leben ist hektischer geworden. Die Kontakte untereinander
sind seltener geworden, im Dorf, aber leider auch zu manchen von Euch – haben
wir wirklich keine Zeit ...? Beim Zahnarzt wird jetzt manchmal bar gezahlt.
Wenn man schon mal auf die Autobahn muss, trifft man auf LKW in lückenloser
Schlange, die die Segnungen des Westens in den Osten fahren. In der
Gegenrichtung nach Westen fahren die Pendler und die Wegzieher - die Jungen,
die Beweglichen - auf der Suche nach Arbeit und mehr Geld. Wenn ich Termine in
hundert Kilometern Entfernung habe, brauchte ich früher mit dem Trabi
anderthalb Stunden, jetzt muss ich zwei Stunden zusätzlich (!) einplanen, um
trotz Verkehrschaos und Umleitungen rechtzeitig dazusein (Aufschwung Ost?).
Der Wohlstandsmüll verstopft die Täler. Wir lesen weniger, meist nur noch
irgendwelche Formulare, die uns die Bürokratie schickt. Trotz gestiegener
Miete (jetzt 500 Mark West statt 39 Mark Ost vor vier Jahren) und ähnlicher
dramatischer Veränderungen - es geht uns gut. Materiell besser als in der alten
Zeit, wir haben Arbeit (schon ein Wert an sich), die auch noch Spaß macht. ...
Manchmal sind es auch ganz kleine Dinge, die uns froh machen. So
steht in unserer bisher im Winter wegen eisiger Kälte kaum nutzbaren Küche
jetzt ein von Nachbarn ausrangierter Dauerbrandofen (25 Jahre alt!), es ist
gemütlicher geworden. Noch knarrt im Wohnzimmer vor dem Kachelofen die Ofenbank,
nächstes Jahr soll im Haus eine Heizung gebaut werden. Jemand hat uns aus
gehamsterten DDR-Alt-Beständen ein neues (geruch-dichteres) Becken für unser
Plumps-Klo versorgt - bis bald auch
hier ein WC sein soll.
1993 (aus
meinem Jahresbrief)
Idyllisches
Landleben in Schönberg? In diesem Jahr auch Alarm, der uns ziemlich in Trab
gebracht hat. Wir erfuhren nur durch Zufall, dass eine wildgewordene West-Firma
den Antrag gestellt hatte, das ganze Gebiet zwischen Meerane und Schönberg bei
der Suche nach Kies, Lehm, Kalkstein usw. in einen 340 Hektar großen Tagebau
zu verwandeln, und der sollte gleich hinter „unserem“ Teich beginnen. Große
Aufregung, Gründung einer Bürgerinitiative, Suche nach Verbündeten in den
Verwaltungen, Briefe, Zeitungsartikel, Unterschriftensammlungen ... Wir immer
mittendrin, selbst Karen – unsere Jüngste - trat eines Morgens im Nachthemd
durch die Küchentür und sprach: „Ich komme wegen dem Gesteinsabbau und möchte
Unterschriften sammeln." Nebenher war es interessant zu beobachten, wie
die Leute im Dorf, weil es um ihre Heimat ging, aus dem gewohnten Trott kamen,
sich interessierten und auch engagierten. Eine wichtige Erfahrung für uns
brachten auch die kleinen Gespräche an den Haustüren beim Unterschriftensammeln
- man redete mit Leuten, zu denen es sonst kaum Kontakte gegeben hätte, nicht
nur über Gesteinsabbau, sondern auch über Arbeit, Familiäres; es war
spannend. Und es war hektisch und schön alternativ: Der Landesbeauftragte (der
ich bin) fuhr in bunten Bermudashorts und grellrotem T-Shirt nebst Gattin auf
dem Fahrrad in die Stadtverwaltung, und dort war Krisensitzung mit dem Bürgermeister,
der nebenbei sein Schnitzel „mampfte" ... Aber das gute Fazit nach all der
Aufregung lautet: Der Aufstand hat sich gelohnt, die Bagger kommen endgültig
nicht!
XIV 1148/83
- sagt das jemandem was? Oder die Erläuterung „OV Grüner", TV 4 im ZOV
„Konflikt"? Für mich waren das auch Böhmische Dörfer, bis ich im
Frühjahr anfing, meine Stasi-Akten zu lesen. 1993 auch als Jahr der Akten. Da
fand sich - in vier „Vorgängen" seit 1968 zusammengetragen - viel
Banales und Belangloses, Dummes, Bösartiges und Giftiges, neben- und durcheinander,
es gab Wahres und Falsches. Namen von Informanten tauchten auf, auch aus dem
näheren Umfeld, z.B.███████████████
Mit solchen schwarzen Balken ist in den Akten das gelöscht, was den Leser
nichts angeht, also mach ich´s auch hier so, weil´s nicht so wichtig ist und
nicht weiterhilft. Schmerzlich und das Haupt-Problem war eigentlich, dass wir
zwar gerne abschließend mit einigen hätten reden wollen, damit man normal
weiter miteinander leben kann, dass ein solches Gespräch aber nicht zustandekommt.
(Späterer Nachtrag: Ich habe den Stasihauptmann, der mich in Berlin jahrelang
in einem „Zentralen Operativen Vorgang“ bearbeitet hat, nach der Wende mal bei
einer Buchlesung getroffen. Dort stellte er seine Lesart der Dinge dar, konnte
sich an vieles erst erinnern, wenn man faktensicher bohrte, Wahrheit
scheibchenweise. Und er schrieb mir als Widmung in sein Buch „Mit frdl.
Grüßen“!)
Ich saß in der
Bezirksstelle der Gauck-Behörde und las in meinen Stasiakten. Der für mich zuständige
Bearbeiter hatte mir ein Formular auf den Tisch gelegt. Wenn ich bei der
Lektüre auf Decknamen stoßen sollte, die ich entschlüsseln konnte, sollte ich
das aufschreiben. An einer Stelle der Akte berichtete ein „IM“, dass er gezielt
Kontakt mit mir gesucht hatte, und dass wir uns dann tatsächlich auch einmal
getroffen und unterhalten hatten. Die Schilderung war so präzise, dass mir der
Vorgang wieder klar vor Augen stand: Da war ich bei einem Arzt gewesen, der
sich lange um einen Gesprächstermin bemüht hatte, und der sich nun mit mir
ausführlich über Umweltprobleme in der DDR unterhielt. Der Name fiel mir auch
ein, und ich schrieb ihn in das Formular. Als der Bearbeiter den Zettel an sich
nahm, stutzte er und meinte, das könne nicht stimmen. Er lief weg, kam nach 10
Minuten wieder und sagte: Sie hatten recht. Peinlich. Der von mir „enttarnte“
IM arbeitete inzwischen als Betriebsarzt bei der Gauck-Behörde.
Vom Kiffen
und Bremsen
Eines Tages
kam Besuch für mich. Zwei Leute klingelten uns früh aus dem Bett.
Polizeiausweis, Haussuchungsbefehl, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz
- eine Anzeige läge vor. Die aber hatte ich - in Doofheit und Unkenntnis der
Gesetze - selbst erstattet! Ich hatte nämlich in der Zeitung gelesen, dass
der Anbau von Hanf, soweit er kein THC enthält (Tetrahydrocannabinol
ist der Hauptwirkstoff von Cannabis
/ (Haschisch), also zum Rauchen als Marihuana nicht geeignet
ist, in Deutschland nicht mehr genehmigungspflichtig ist, sondern nur noch
„angezeigt" werden muss. Zusammen mit einem Buch über die Wunderpflanze
Hanf hatte ich ein Tütchen Samen erhalten, ich wollte die Pflanzen einmal
wachsen sehen und habe die Körnchen in die Erde gestreut. Und dann hatte ich,
um nichts falsch zu machen, in deutscher Gründlichkeit der Behörde davon
Mitteilung gemacht. An der fraglichen Stelle im Garten, wo nichts gewachsen
war, hat die Kripo sich das „nichts" zeigen und erläutern lassen. Ich
musste danach noch zu einer amtlichen Vernehmung reisen, und Monate später bekam
ich es schriftlich, dass außer Spesen nichts gewesen war.
Endlich hat
sich für mich auch ein (Alp-)Traum erfüllt. Ich wollte immer schon wissen, wie
das ist, wenn man im Zug die Notbremse zieht. Das weiß ich jetzt. Ich saß etwas
aufgeregt in einem Zug, weil ich Angst hatte, meinen Anschlusszug nach Hause
nicht mehr zu erreichen. Als nun der Zug auch noch – kurz vor dem Dresdner
Hauptbahnhof - auf freier Strecke anhielt, wollte ich sehen, was los war, griff
blind nach oben und zog den vermeintlichen Fensterriegel nach unten - es war
aber der Griff der Notbremse, den ich erwischt hatte. Großes Zischen setzte
ein, Bremsengerumpel. Ich hatte erst einen Fluchtreflex, fand aber dann doch
den Weg zum Zugbegleiter, der noch gar nichts bemerkt hatte, der Lokführer
kam aber schon gesaust, und zum Glück ließ sich der Schaden so schnell beheben,
dass wohl keiner der anderen Fahrgäste überhaupt etwas mitbekommen hat. Also
hatte ich den „Test“ doch recht geschickt gemacht! Natürlich wurde noch ein
Protokoll ausgefüllt wegen möglicher Schadensforderungen, aber da kam später
nichts mehr nach ...
1998 (aus
meinem Jahresbrief)
... Irgendwann
im Frühsommer lag eine Gruppe jugendlicher Entdecker bäuchlings am Teichufer
und staunte, was da im flachen Wasser alles krabbelte und schlängelte und
ruderte. Mein Töchterchen hat dann mit mir ein altes Aquarium mit Steinen und
Wasser gefüllt und es wohnlich mit Wasserpflanzen eingerichtet. Ein paar
„Froschkinder“ (Kaulquappen) wurden vorsichtig eingefangen und zusammen mit
Schnecken, Wasserkäfern und weiteren Krabbeltieren in die neue Heimat
umquartiert. Als Ehrengäste - und ziemlich mühsam zu fangen - nahmen wir noch
ein Pärchen Teich-Molche mit. Das Männchen entpuppte sich als ein
kampflustiger kleiner Drache mit gespreiztem Kamm, schwarz-weiß gestreiftem
Gesicht und einem himmelblau-orangenen Bauch. In den nächsten Tagen drückten
neugierige Kinder sich die Nasen an der Glasscheibe platt. Bald wuchsen den
ersten Froschbabys Beine ... Für mich war das alles nach 45 Jahren eine schöne
zweite Entdeckungsreise durch die Natur gleich vor der Haustür.
1999: Neulich bin
ich nachts gegen vier Uhr aufgewacht. Und dann habe ich gewartet auf das, was
immer um diese Zeit passiert: dass der alte Trabi vorfährt, dass später in der
Wohnung die Türen krachen, geschäftiges Teller-Klappern in der Küche
einsetzt. Ich wollte mich wie immer kurz ärgern - aber es ist diesmal still
geblieben.
Eigentlich
hatten wir uns schon fast abgefunden mit den Turbulenzen, die das Zusammenleben
mit erwachsen werdenden Kindern bringt. Manchmal kann einen das schon nerven,
diese Zeit der Umbrüche, des Ausprobierens, die quälend langen Monate zwischen
Schule und Bundeswehr und Beruf und Studium. Wenn die groß gewordenen „Kinder“
zwar noch im elterlichen Hause sind, aber so ganz anders leben, ihren völlig
eigenen Rhythmus haben, nachts spät oder gar nicht nach Hause kommen, dafür
mittags noch im Bett liegen. Computer-Partys, Disco, Sport - immer unterwegs,
nie richtig zu greifen, für häusliche Pflichten schon gar nicht zu begeistern.
Manchmal kommen wir Eltern uns ein wenig vor wie Verpflegungsstelle und Hotel
und Wäsche-Service: alles organisieren, aber ja keine Fragen stellen oder
Ratschläge geben! Die bange Frage taucht auf: Haben wir was falsch gemacht? Und
dann wünscht man den Kindern (und sich selbst): Flieg doch endlich aus, bloß
raus aus dem Nest, mach endlich alleine, was dir Spaß macht ...!
Und eines Tages
ist es dann wirklich so weit. Der Termin für den Studienbeginn oder die Aufnahme
einer „richtigen“ Arbeit ist da. Umzug, ein eigenes Zimmer ist gemietet. Im
bisherigen Kinderzimmer wird sortiert und ausgemistet. Wäsche und andere
nützliche Dinge wandern päckchenweise aus dem Haus. Anderes nimmt seinen Weg
auf den Dachboden, dorthin, wo schon das alte Spielzeug aus Kindertagen liegt,
wo die Schulhefte verstauben - Erinnerungen an frühere Abschiede.
Elterliche
Augen verfolgen aufmerksam jeden Schritt (sie dürfen sich´s nur nicht anmerken
lassen!). Bange Fragen: Was erwartet unsere Kinder da draußen? Haben wir sie
genügend darauf vorbereitet, nun auf eigenen Füßen zu stehen, wirklich für sich
selbst verantwortlich zu sein?
Und was wird aus uns Zurückbleibenden? Der Abschied war ersehnt und doch ist er
schmerzlich. Bedeutet der frei gewordene Platz am Tisch mehr Erleichterung und
Freiheit, oder ziehen nun auch Leere und Einsamkeit ein?
Abschied nehmen, loslassen, Neues beginnen - das gehört zum Kreislauf des
Lebens.
Mach´s gut,
„Kind“, du darfst gehen, du wirst ankommen, unsere Gedanken begleiten dich und
gute Wünsche sowieso.
Wir halten erst
einmal ein Zimmer und ein Bett frei. Vielleicht schreckt uns demnächst nachts
wieder das Aufheulen eines Trabi-Motors hoch. Dann wird auf jeden Fall vieles
anders sein.
Seit 1982 bin
ich im Auftrag meiner sächsischen Landeskirche tätig als „Beauftragter für
Glaube, Naturwissenschaft und Umwelt.“
Im Alltag
bedeutet das hauptsächlich, dass ich im Lande unterwegs bin. Ich werde
eingeladen von Menschen, die in dieser Welt hier und heute leben, und die
Antworten suchen auf ihre Fragen. Ich habe die Antworten oft auch nicht, aber
ich stehe zur Verfügung, um Informationen zu geben und die Nachdenklichkeit zu
befördern. In Gesprächsrunden und Seminaren oder bei Fortbildungen ging es
dabei in den letzten Jahren z.B. um folgende Themen:
·
„Gentechnik
– Frevel oder Fortschritt?“
·
„Lebensstil
– gut leben statt viel haben!“
·
„Wir
sind Sternenstaub – der Mensch im Kosmos“
·
„Schöpfung
contra Evolution? – Glaube und Naturwissenschaft zwischen Weltbildern und
Bibelverständnissen, Ideologie und Ethik“
·
„Hirnforschung
und Willensfreiheit“
·
„Wie
viele Menschen (er-)trägt die Erde?“
·
„Organspende
– Pflicht aus Nächstenliebe oder Verstoß gegen die Menschenwürde?“
·
„Unter
die Lupe genommen – Biomedizin, Gentechnik, Ethik“
·
„Ist
die Welt ein Würfelspiel? – Entdeckungen der Chaosforschung“
·
„In
Würde sterben – Sterbebegleitung, Sterbehilfe, Euthanasie“
·
„Klimawandel
– vom Menschen verursacht?“
Mal bin ich bei
Jugendlichen, mal in einem Akademikerkreis, mal bei Senioren. Immer erlebe ich
andere Menschen, werden mir neue Aspekte deutlich, stellen sich unerwartete
Fragen. Die begonnenen Gespräche führe ich auch auf meiner Internetseite www.krause-schoenberg.de
weiter.
Ich muss schon
von Berufs wegen neugierig bleiben.