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Ökumenischer Kirchentag Berlin Mai 2003:
Werkstatt Juden und Christen; Biomedizin am Lebensanfang,

Prof. Dr. Ulrich Körtner, Wien

Unbestimmtheit des Lebensanfangs und biblisches Zeugnis
 

1. Der evangelische Theologe W. Trillhaas hat Ethik als „in jedem Sinne angewandte Anthropologie“ charakterisiert. Die im Thema formulierte Frage greift allerdings zu kurz, weil es nicht das christliche Menschenbild und das jüdische Menschenbild gibt, sondern religiös und weltanschaulich geprägte Menschenbilder in unterschiedlichen Variationen. Die übliche Rede von dem christlichen Menschenbild stellt also eine Vereinfachung dar. Gewiss gibt es grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen den christlichen Konfessionen, was die Sicht des Menschen, seiner Größe und seines Elends, seiner Bestimmung, seiner Not und seiner Verheißung betrifft. Doch zwischen den Sichtweisen der großen christlichen Traditionen bestehen durchaus signifikante Unterschiede. Die christliche Sicht des Menschen weist also eine gewisse Pluralität auf, die z.T. sogar quer zu den Konfessionen besteht. Insofern ist es sachgemäßer, statt von dem christlichen Menschenbild von christlichen Menschenbildern im Plural zu sprechen. Der ökumenische und interreligiöse Diskurs über Fragen der Ethik hat diesem Umstand Rechnung zu tragen.

2. Im Judentum werden im Blick auf den Lebensanfang des Menschen Positionen vertreten, die zwar im Widerspruch zur lehramtlichen Position der römisch-katholischen Kirche stehen, jedoch auch von evangelischen Ethikern eingenommen werden. Es ist gerade das von der evangelischen Theologie betonte Kriterium der Schriftgemäßheit, welches unterschiedliche Sichtweisen des Lebensanfangs zulässt, weil die biblischen Grundlagen einer christlichen Anthropologie keineswegs so eindeutig sind, wie es kirchliche Stellungnahmen häufig unterstellen.

3. In diesem Zusammenhang muss auch ein eklektizistischer Umgang kirchlicher Verlautbarungen mit biblischen Texten kritisiert werden. Die stereotype Zitation von Gen 1,26, die kurzschlüssige Gleichsetzung der Gottebenbildlichkeit mit dem seinerseits klärungsbedürftigen Personbegriff und seine umstandslose Übertragung auf Blastozysten sind kaum das Ergebnis solider Exegese. Die eingehende Beschäftigung mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Bibelauslegung, die auf die Vielschichtigkeit biblischer Aussagen über den Lebensbeginn hinweist, sucht man in den ökumenischen Texten zu Bioethik vergebens.

4. Die wissenschaftliche biblische Exegese weist darauf hin, dass der Gedanke der Gottebenbildlichkeit kein Allgemeingut biblischen Denkens ist, sondern sowohl im Alten Testament bzw. der jüdischen Bibel als auch im Neuen Testament eine theologische Spitzenaussage ist, die – das mag überraschen – eine allenfalls marginale Rolle spielt. Auch wenn das systematisch-theologische Gewicht derartiger Aussagen in keiner Weise geschmälert werden soll, ist doch zu beachten, dass die Bibel zumal das Alte Testament vom Lebensbeginn „nicht nur auf der Ebene theologischer Begründungen, sondern viel konkreter, auf der Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung alltäglicher Phänomene wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt“ (H. Utzschneider) redet. Von der Bibel ist zu lernen, wie theologische Aussagen lebensweltlich eingebettet und vermittelt werden müssen.

5. Es ist exegetisch höchst problematisch, wenn ontologische oder metaphysische Grundannahmen in biblische Texte eingetragen werden, um diese einer systematisch-theologischen Gesamtinterpretation biblischer Theologie dienstbar zu machen. Texte wie
Ps 139 oder Hiob 10 lassen sich gerade nicht ohne weiteres mit kirchlichen Positionen zur Bioethik kurzschließen. Vor allem widerspricht es den biblischen Texten, wenn der ontologische und moralische Status von Embryonen abstrakt diskutiert wird. Der Mensch wird vielmehr als ein Beziehungswesen gesehen, dessen Menschwerdung und Leben ein Prozess und ein Beziehungsgeschehen sind.

6. Aus biblischer Sicht ist der Lebensbeginn „ein dreidimensionales Geschehen:

1. Der Mensch geht aus der intimen Gemeinschaft der Eltern hervor, wächst im Mutterleib heran und bringt sein Leben in die größere Gemeinschaft der Familien und Sippen ein. In dieser Gemeinschaft ist er von seiner Zeugung an aufgehoben (soziale Dimension).
2. Der Lebensbeginn ist an stoffliche, wir würden sagen: ‚natürliche’ Substrate gebunden, den Samen und den Mutterleib. In dieser stofflichen Umgebung und aus ihr heraus wird der Mensch, wie es gelegentlich in einer durchaus technischen Metapher (vgl. Dtn 25,9) heißen kann, ‚gebaut’ (biologische Dimension).
3. Der Mutterleib ist schließlich auch der diskrete Ort, an dem durch göttliches Wirken, jedenfalls aber auf wunderbare und unverfügbare Weise das Individuum, die Person gebildet wird, die später zu sich selbst ‚Ich’ zu sagen vermag (‚schöpfungstheologische’ Dimension). In allen drei Dimensionen ist der Lebensbeginn kein isolierbarer Augenblick, kein Zeitpunkt, sondern eine Lebensphase, ein Prozess, in dem der Mensch biologisch Gestalt gewinnt, sie über seine Eltern einem sozialen Kontext einstiftet und – in der Rückschau des Erwachsenen – durch Gottes Schöpferhand seine Personalität und Individualität, seine Würde, empfängt“ (H. Utzschneider, S. 139f).

7. Die von den Kirchen in Deutschland eingenommene Position, wonach mit der Kernverschmelzung von Ei- und Samenzelle bereits ein neues menschliches Individuum, ein Mensch bzw. ein menschliche Person existiert, lässt sich allein auf biblischer Grundlage gar nicht hinreichend begründen. Sie lässt sich aber auch naturwissenschaftlich bzw. embryologisch nicht zwingend begründen, sondern operiert mit einer Reihe von philosophischen bzw. ontologischen Zusatzannahmen. Das ist eine legitime, jedoch keineswegs die einzig mögliche Position im Streit um den ontologischen, moralischen und rechtlichen Status von befruchteten Eizellen oder von Embryonen.

8. Überhaupt zeigt eine Durchsicht der verschieden Positionen, die in der Frage des Status von Embryonen eingenommen werden, dass ihre Bedeutung für die bioethische Entscheidungsfindung häufig überschätzt wird. Die Alternative besteht nicht zwischen der vermeintlich objektiven Grenzziehung bei der Kernverschmelzung und anderen, scheinbar willkürlichen Definitionen des Lebensanfangs, da in jedem Fall empirisch-naturwissenschaftliche Daten und anthropologische Deutung zu unterscheiden sind. Keine der eingenommenen Positionen kommt deshalb ohne Zusatzannahmen aus.

9. Was wir sehen, ist immer mehr als die bloße Empirie. Ob wir in einem Embryo lediglich einen Zellhaufen oder aber einen werdenden Menschen sehen, hängt immer schon von unseren Intentionen und Deutungsmustern ab. Wer freilich die Charakterisierung von Embryonen als „Zellhaufen“ kritisiert und kritisch betont, dass mit Sprache Politik gemacht wird, sollte selbstkritisch einräumen, dass auch die in kirchlichen Stellungnahmen anzutreffende Sprachregelung, wonach es sich bei Embryonen und sogar schon bei befruchteten Eizellen (Zygoten) um „embryonale Menschen“ handelt, eine Form der Sprachpolitik ist, die als gegeben annimmt, was allererst zu beweisen wäre.

10. Die für die katholische Position grundlegende Instruktion „Donum vitae“ der Kongregation für die Glaubenslehre (1987) erklärt die Lehre, mit der Befruchtung der Eizelle beginne das Leben eines neuen menschlichen Wesens, das bereits Person sei und eine „Geistseele“ besitze, für verbindlich. Wenngleich diese nicht aus den experimentellen Ergebnissen der Embryologie zu beweisen sei, lieferten diese jedoch „einen wertvollen Hinweis, um mit der Vernunft eine personale Gegenwart schon von diesem ersten Erscheinen eines menschlichen Wesens an wahrzunehmen.“ Suggestiv wird die Frage angeschlossen: „Wie sollte ein menschliches Individuum nicht eine menschliche Person sein?“ Auch wenn sich das katholische Lehramt „nicht ausdrücklich auf Aussagen philosophischer Natur festgelegt“ habe, sei diese im Kontext der Abtreibungsproblematik entwickelte Lehre „unveränderlich“.

11. Die Gleichsetzung von Zygoten – gleich ob in vivo oder in vitro – mit voll entwickelten Menschen läuft freilich auf eine petitio principii hinaus. Bereits die gemeinsame Erklärung von EKD und Deutscher Bischofskonferenz „Gott ist ein Freund des Lebens“ aus dem Jahre 1989, der sich die übrigen Mitglieds- und Gastkirchen der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen angeschlossen haben, gibt daher Anlass zu kritischen Rückfragen. Diese Stellungnahme, die für die späteren gemeinsamen Texte zur Bioethik von grundlegender Bedeutung ist, behauptet eine Übereinstimmung zwischen biblischer Anthropologie und moderner Embryologie. Diese habe „zu dem eindeutigen Ergebnis“ geführt, dass „von der Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle an“ ein neues und individuelles menschliches Lebewesen vorliege. Sodann wird gefolgert, dass diesem menschlichen Lebewesen, d.h. bereits der Zygote, in vollem Umfang der Personstatus und damit Menschenwürde zukomme. Diese Einsicht gelte gleichermaßen für Embryonen in vivo wie in vitro. Daher seien an Embryonen in vitro allenfalls Heilversuche zulässig, keinesfalls aber Eingriffe, die ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nähmen, also z.B. die Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen aus der inneren Zellmasse der Blastozyste. Bereits 1989 erklärten die Kirchen gemeinsam: „Schon die kleinste Bewegung in Richtung auf die Zulassung ‚verbrauchender’ Forschung an Embryonen überschreitet eine wesentliche Grenze.“ Letzten Endes gehe es beim Embryonenschutz um die Einhaltung von Art. 1 und 2 des deutschen Grundgesetzes. Doch gibt es hierzu eine differenzierte verfassungsrechtliche Debatte. Im übrigen sollte auch die unterschiedliche verfassungsrechtliche Situation in den übrigen Ländern Europas nicht außer Acht gelassen werden.

12. Das bisherige Modell einer Konsensökumene der Kirchen stößt nicht nur auf dem Gebiet der Glaubenslehren (Dogmatik), sondern auch auf dem Gebiet der Ethik an seine Grenzen. Von einer nahtlosen Übereinstimmung in Fragen der Bioethik am Lebensanfang, wie es in Deutschland von Kirchenleitungen immer wieder behauptet wird, kann jedenfalls bei genauerer Betrachtung keine Rede sein, es sei denn, man wollte nur die bioethischen Positionen des Rates der EKD als authentische protestantische Stimme gelten lassen.

13. Gerade wenn gefordert wird, dass christliche Positionen in anthropologischen und ethischen Fragen biblisch begründbar sind, kann dies nicht ohne wenn und aber die einzig denkbare evangelische Position sein. Abgesehen davon, dass die evangelische Kirche die In-vitro-Fertilisation keineswegs generell ablehnt, ist jedoch die Frage, wann das Leben eines Menschen beginnt, nicht nur embryologisch, sondern auch philosophisch und theologisch schwer zu beantworten. Mehrheitlich wird auch in der evangelischen Kirche die Position vertreten, das Leben des Menschen beginne mit der Befruchtung, genauer: mit der Verschmelzung der Vorkerne. Anthropologisch muss man aber wohl von einer Unbestimmtheit des Lebensanfangs sprechen, die sich auch durch theologische Argumente nicht beseitigen lässt. Dies tut z.B. die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Österreich zu Fragen der Bioethik „Verantwortung für das Leben“ (2001).

14. Bei dieser Unbestimmtheit des Anfangs handelt es sich nicht etwa nur um eine empirische, etwa durch noch bestehende Wissenslücken der embryologischen Forschung begründete Unbestimmbarkeit, sondern um eine erkenntnistheoretisch-prinzipielle. Zwar war jeder geborene Mensch an seinem Anfang eine Zygote, aber nicht jede befruchtete Eizelle entwickelt sich zu einem Menschen. Mit einem plumpen Biologismus oder einem naturalistischen Fehlschluss, wie gelegentlich unterstellt wird, hat diese Feststellung gar nichts zu tun. Im Gegenteil ist es abstrakter Biologismus, wenn Potentialitäts- und Kontinuitätsargumente, die man für die Zygote in vivo diskutieren kann, unbesehen auf befruchtete Eizellen in vitro übertragen werden, zumal sie sich isoliert von einem mütterlichen Umfeld (Gebärmutter) gar nicht zu einem Menschen entwickeln können. Zwar war jeder geborene Mensch einmal eine befruchtete Eizelle, aber nicht jede befruchtete Eizelle wird zum Menschen. Wer isolierten Zygoten in vollem Umfang Menschsein zuspricht, ohne z.B. den gesetzlichen Zwang zu ihrem Transfer zwecks Schwangerschaft oder ein Verbot von Nidationshemmern zu fordern, verwickelt sich in gravierende Widersprüche.

15. Daraus folgt keineswegs, sich von einem möglichst strikten Embryonenschutz zu verabschieden. Im Gegenteil: Wenn jede Festlegung eines Zeitpunktes mehr oder weniger willkürlich erfolgt, sprechen gute Gründe dafür, gerade deshalb einen vorsorglich frühestmöglichen und umfassenden Schutz werdenden Lebens zu fordern und auch gesetzlich zu verankern. Das entbindet uns aber nicht davon, im Einzelfall, z.B. im Fall des Schwangerschaftskonfliktes, Abwägungen vornehmen zu müssen. Um derartige Abwägungen kommt man m.E. auch auf dem Gebiet der Stammzellenforschung nicht herum, zumindest dann nicht, wenn es sich um die Stammzellen von „überzähligen“ Embryonen handelt, d.h. von solchen, die bei der In-vitro-Fertilisation angefallen sind, aber aus medizinischen Gründen nicht mehr für die Reproduktionsmedizin verwendet werden. (Ethisch ist dies die Position eines gemäßigten Tutiorismus.)

16. Zweifellos besteht die Gefahr, dass intendierte Handlungsoptionen in die ethische Begründung einfließen können. Das gilt aber für jede der im Streit um den Status von Embryonen eingenommenen Positionen. Die Statusfrage ist zwar ein unumgängliches Element der bioethischen Urteilsbildung, aber nicht die entscheidende Lösung z.B. für das Problem der Gewinnung und Verwendung von embryonalen Stammzellen. So wird die ethische Legitimität einer Güterabwägung im Fall der Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen keineswegs nur von solchen Ethikern behauptet, die der Zygote oder dem Embryo den Personstatus absprechen, sondern z.T. auch von solchen Ethikern anerkannt, die bereits der Zygote den Personstatus zuerkennen wollen, aber z.B. eine Analogie zwischen der Gewinnung von embryonalen Stammzellen von überzähligen Embryonen und der Organentnahme bei Hirntoten sehen.
 

Weiterführende Literatur:

Anselm, R./Körtner, U. (Hg.), Streitfall Biomedizin. Orientierung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003
Körtner, U.: Unverfügbarkeit des Lebens? Grundfragen der Bioethik und der medizinischen Ethik, Neukirchen-Vluyn 2001
Utzschneider, H.: Der Beginn des Lebens. Die gegenwärtige Diskussion um die Bioethik und das Alte Testament, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 46, 2002, S. 135-143
Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin, im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrats A. und H.B. der Evangelischen Kirche A. und H.B. in Österreich erarbeitet von Ulrich H.J. Körtner in Zusammenarbeit mit Michael Bünker, Wien 2001