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Stellungnahme der deutschen evangelisch-lutherischen Bischöfe

Stellungnahme der Bischofskonferenz der
Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD)
zu Fragen der Bioethik
(März 2001)

Auf ihrer Klausurtagung vom 10.-14. März 2001 in Rothenburg ob der Tauber hat sich die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) mit Fragen der Bioethik beschäftigt. Grund dafür ist nicht allein die Tatsache, dass das Jahr 2001 als Jahr der Lebenswissenschaften ausgerufen wurde, sondern auch die breite Beschäftigung der Öffentlichkeit mit dem Thema und die Einsicht, dass vom christlichen Glauben aus ein eigener Beitrag zu ethischen Debatte geleistet werden kann. In vielen Medien hat eine kontrovers Diskussion über bioethische Fragen stattgefunden und findet noch statt.

Die Bischofskonferenz hat sich Fachleute für verschiedene Spezialgebiete innerhalb des Themenkomplexes eingeladen, auch Juristen und Ethiker, um sich zu informieren.
Nach sorgfältiger Erwägung kommt sie zu folgender Stellungnahme.

1. Der Beginn des Lebens

1.1. Es gibt einen breiten Konsens in der medizinischen Wissenschaft, den Kirchen und der Rechtsprechung darüber, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle beginnt. Auf diese Weise entstehen Zellen, in denen ein Mensch ganz angelegt ist.
1.2. Menschliches Leben verdient schon von seinen ersten Stadien an Respekt und einen besonderen Schutz. Dazu gehört, dass es willkürlichem Zugriff entzogen ist. Weil ein menschlicher Embryo schon menschliches Leben ist, eignet ihm Würde. Diese Würde ist unantastbar und unverfügbar. Der christliche Glaube begründet die Unantastbarkeit und die Unverfügbarkeit dieser Würde damit, dass sie dem Menschen von Gott zugeeignet wurde.
1.3. Biblisch-theologische Begründung: Schöpfung und Rechtfertigung
1.3.1. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde (1. Mose 1,27). Er tat dies ohne Vorbehalt und ohne Bedingung. Gott zeichnet den Menschen unter allen Lebewesen dadurch in besonderer Weise aus, dass er ihn zu seinem Gegenüber erschafft. Der Mensch ist Gottes Gesprächspartner auf Erden und Ziel seines Heilshandelns.
1.3.2. Im Neuen Testament findet Gottes vorbehaltlose und bedingungslose Zuwendung zum Menschen ihren tiefsten Ausdruck in der Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben allein (Römer 3,21ff). Auch stellt die Rechtfertigungslehre heraus, dass der Mensch nicht vorrangig als biologisch existierendes Wesen anzusehen ist, sondern in seinem Gegenüber zu Gott.
1.4. Wir rufen darum Gesetzgeber und Forschung auf, den Schutz von Embryonen zu garantieren bzw. die ihnen durch ihre Würde gesetzte Grenze zu respektieren.

2. Ethische Konfliktfelder

2.1. Die Erforschung des menschlichen Genoms, die nach Auskunft von Wissenschaftlern im Jahr 2003 zum Abschluss gekommen sein wird, weckt oder nährt die Hoffnung vieler Menschen, besonders kranker Menschen. Krankheiten, die bisher als unheilbar galten, erscheinen als besiegbar, erbliche Belastungen als heilbar oder vermeidbar. Ob und wann dies allerdings für Menschen von Nutzen sein kann, ist offen.
2.2. In vielen Ländern ist die Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt und im Gange. Hier unterscheidet die Medizin sogenannte totipotente Zellen (bis etwa zum 3. Tag und dem 8-Zell-Stadium) von pluri- und multipotenten Zellen, aus denen bestimmte Gewebe oder Organe gewonnen werden können. Die Forschung an totipotenten Zellen berührt in besonderer Weise die Frage nach der Menschenwürde von Embryonen.
2.3. In der vorgeburtlichen Lebensphase eröffnen die verschiedenen Methoden pränataler Diagnostik die Möglichkeit, Erbkrankheiten wie etwa Mukoviszidose oder das Down-Syndrom (Mongolismus) schon im Mutterleib festzustellen.
Im speziellen Fall der künstlichen Befruchtung ermöglicht die in Deutschland verbotene Präimplantationsdiagnostik durch die Untersuchung von nicht mehr totipotenten Zellen, noch außerhalb des Mutterleibes Erbkrankheiten festzustellen, sodass entschieden werden kann, der Mutter diese Embryonen nicht einzupflanzen.
2.3.1. Allerdings können diese Erkenntnisse auch zu ethischen Konflikten führen. Werdende Eltern, denen im Rahmen vorgeburtlicher Diagnostik eine schwere Erbkrankheit ihres Kindes eröffnet wurde, sehen sich vor die Frage gestellt, ob sie dieses Kind und die damit verbundene Aufgabe annehmen können, oder ob sie sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entscheiden.
Solche Schwangerschaftsabbrüche können bis zur Geburt auf Grund medizinischer Indikation stattfinden und stellen für alle Beteiligten eine schwere seelische und körperliche Belastung dar. So wird vor allem den Eltern eine große Bürde überlassen.
2.3.2. Die Präimplantationsdiagnostik birgt vergleichbares ethisches Konfliktpotenzial: Hier könnte entschieden werden, ob an den Zellen ein Gentest vorgenommen werden soll. Schon vor der Einpflanzung des Embryos in den Mutterleib könnte auf diese Weise eine Auswahl (Selektion) stattfinden.
2.4. Die ethische Frage stellt sich aber nicht nur den Eltern, sondern auch den Ärzten und den Forschern. Ärztinnen und Ärzte haben die Aufgabe, Leben zu bewahren und Krankheiten zu heilen. Nach christlichem Verständnis haben sie Teil am heilenden Handeln Gottes und Jesu (z. B. 2. Mose 15,26: Ich bin der Herr, dein Arzt; Markus 1,30-31). Einerseits wird von ihnen erwartet, dass sie Wege entdecken und gehen, auf denen Krankheiten bekämpft bzw. deren Ausbruch oder Entstehung verhindert werden. Andererseits haben sie Gesetze zu respektieren, die sie möglicherweise in ihren Forschungen oder Handlungen begrenzen.
Solche Grenzen empfinden manche Forscherinnen und Forscher als Einengung. Allerdings gibt die Haltung vieler an der Forschung Beteiligter gerade im Bereich beginnenden Lebens zu erkennen, dass sie die ethische Dimension ihres Berufsfeldes erkennen und an den Lösungen der anstehenden Fragen verantwortlich und konstruktiv mitarbeiten. Die Bischofskonferenz der VELKD würdigt den Ernst und das Niveau, auf dem die ethische Debatte in der Biowissenschaft geführt wird.
2.5. Ethisch herausgefordert ist schließlich auch die Gesellschaft, besonders die Verantwortungsträgerinnen und -träger in ihr. Kann sie bejahen, dass Kinder geboren werden, die behindert sind und dadurch auch Anforderungen an die Gesellschaft stellen, obwohl die Behinderung vorgeburtlich hätte erkannt werden können? Wird sie darauf verzichten, Druck auf solche Eltern auszuüben, die sich bewusst für die Annahme der Elternschaft gegenüber einem behinderten Kind entscheiden, weil sie dies als die ihnen zugewiesene Aufgabe akzeptieren? Und wird sie darauf verzichten, die Anwendung pränataldiagnostischer Methoden von immer mehr Schwangeren zu fordern? Gerade Behindertenverbände wie auch die Diakonie warnen davor, dass sich die Akzeptanz Behinderter in der Gesellschaft durch neue Methoden in der Biomedizin verringern könnte.
2.6. Grundsätzlich ist im Hinblick auf die Forschung am vorgeburtlichen Leben zu bedenken, dass die Eingriffe verschiedene Grade an Tiefe haben. Die pränatale Therapie kann aufgrund der pränatalen Diagnostik bestimmte Krankheiten des Kindes im Mutterleib heilen. Dies ist ein Glück für die werdenden Eltern und das Kind. Davon zu unterscheiden sind die Möglichkeiten, das Erbgut einer totipotenten Zelle zu verändern (Keimbahnmanipulation) oder auch der vorgeburtlichen Selektion.
2.7. Die Nötigung zu einer ethischen Entscheidung ist mit der Übernahme von Schuld verbunden, die von den Menschen besonders dann empfunden wird, wenn sie sich gegen das werdende Kind entscheiden. Auch Ärzte, die an der Tötung von
 ungeborenen Kindern mitwirken, laden Schuld auf sich.

3. Entschließungen

3.1. Schutz des Lebens und Respektierung seiner Würde
Dem werdenden Leben kommt schon in seiner frühesten Phase Würde zu, weil hier ein Mensch vollständig angelegt ist. Deshalb lehnen wir alle Praktiken ab, die den Embryo als ein beliebig manipulierbares Objekt behandeln. Dazu gehören die verbrauchende Embryonenforschung und das Klonen ebenso wie die Keimbahnmanipulation.

3.2. Zur Pränatalen Diagnostik
Pränatale Diagnostik, die in ihren verschiedensten Ausprägungen schon angewendet wird, soll nur in besonderen Fällen und nur auf den nach umfassender Beratung erklärten Willen der Schwangeren hin durchgeführt werden. Routinemäßig vorgenommen, führt sie in der Regel bei entsprechender Indikation zum Abbruch. Diese Schwangerschaftsabbrüche sind häufig Spätabtreibungen, d.h. Abtreibungen bereits außerhalb des Mutterleibes lebensfähiger Kinder. Diese Spätabtreibungen lehnen wir ab. Wir fordern den Gesetzgeber auf, die hier bestehende Gesetzeslücke zu füllen. Im Rahmen pränataler Diagnostik ist das Recht der Eltern auf Nichtwissen zu akzeptieren. Werdende Eltern sind auf die Risiken der Untersuchungen (z. B. Fehlgeburten) aufmerksam zu machen, und es ist ihnen darzulegen, welche Krankheiten auf diese Weise frühzeitig erkannt werden können. Es ist ihnen aber ebenso zu erklären, dass die Untersuchung in einen ethischen Konflikt mit der Frage des Schwangerschaftsabbruches führen kann, und sie sind in dieser Konfliktsituation zu begleiten. Beratungen bei pränataldiagnostischen Methoden sollten zur Pflicht werden.

3.3. Zur Präimplantationsdiagnostik
Die in Deutschland verbotene PID könnte es Paaren, die einen starken Kinderwunsch, zugleich aber die Anlage zu einer Erbkrankheit oder eine Erbkrankheit haben, möglich machen, eine Erbkrankheit ihres Kindes schon im Stadium vor der Einpflanzung in den Mutterleib zu erkennen. Hier liegt eine Chance, Leiden frühzeitig zu vermeiden. Wir verstehen den Wunsch von Eltern, durch PID für sie untragbar erscheinendes Leid ausschließen zu wollen. Aber eine Garantie auf ein gesundes Kind gibt es nicht. Wir müssen es neu lernen, dass Leben mit Behinderung ebenso wie "gesundes" Leben vor Gott seine eigene Würde hat.
Die Methode der PID birgt erhebliche Möglichkeiten des Missbrauchs: Stichworte wie "Eugenik", "Selektion" und "Designerkind" deuten diesen Missbrauch an. Die Bischofskonferenz der VELKD lehnt zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts dieser Missbrauchsmöglichkeiten eine gesetzliche Zulassung der PID ab.

3.4. Zur Verantwortung der Forschung
Die Forschung, die sich mit dem Beginn des menschlichen Lebens beschäftigt, ist faszinierend und beunruhigend zugleich, und es ist noch nicht absehbar, wohin sie führt. Die Sprache mancher Forscher, die, wenn sie ihre neuen Erkenntnisse der Öffentlichkeit präsentieren, bisweilen einen religiösen Ton annimmt, offenbart die Gefahr einer unangemessenen Selbstüberhebung, vor der die Bibel etwa in 1. Mose 11 (Turmbau zu Babel) warnt. Die Sterblichkeit des Menschen ist auch durch die Anwendung gentechnologischer Praktiken nicht zu überwinden.
Gleichwohl lassen viele Forscher tiefe Einsichten in die ethische Dimension ihres Handelns, zum Beispiel bei ihrer konstruktiven Mitarbeit in verschiedenen Ethik-Kommissionen, erkennen. Das Engagement, mit dem medizinische Forschung betrieben wird, wird von der Bischofskonferenz begrüßt, sofern es fundiert ist in dem Wissen um die Verantwortung vor Gott und den Menschen. Dies bedeutet die Achtung des Grundgesetzes und der geltenden Gesetze (etwa zum Embryonenschutz) und die Achtung der Gottebenbildlichkeit des Menschen, auch des noch nicht geborenen.

3.5. Zur Verantwortung der Eltern
Werdende Eltern sehen sich durch die Erkenntnisse der neueren Diagnostik-Methoden häufig vor schwerwiegende ethische Herausforderungen gestellt. Letztlich sind sie es, die Entscheidungen über das Leben von (möglichen) Kindern zu fällen haben. In dieser Situation fühlen sich insbesondere Schwangere selbst oft allein gelassen, manchmal sogar zu einer Entscheidung gegen ein Kind gedrängt.
Werdende Eltern sollten darum sehr sorgfältig abwägen, welche Methoden der Diagnostik sie anwenden wollen. Liegt eine begründete Möglichkeit oder eine hohe Wahrscheinlichkeit vor, dass erbliche Belastungen beim Kind vorliegen? Dann ist eine genaue vorsorgende Untersuchung gut zu begründen. Ein Test, bei dem eine unheilbare Erkrankung festgestellt wird, die aber erst spät zum Ausbruch kommt, kann dagegen zu einer lebenslangen schweren seelischen Belastung führen. Generelle Gentests, die auch später auftretende Krankheiten wie etwa Alzheimer anzeigen, oder Untersuchungen auf multigenetische Erkrankungen, bei denen die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs ganz unsicher ist, lehnen wir ab.

3.6. Zur Verantwortung von Gesellschaft und Kirche
Der Gesellschaft (z. B. der Politik, den Medien, der Forschung und der Wirtschaft) kommt für die behandelte Fragestellung ein hohes Maß an Verantwortung zu. In ihr bildet sich das Klima, in dem Menschen leben, in dem Kinder aufwachsen, und sie stellt die Rahmenbedingungen unseres Lebens auf. Schließlich ist sie der Raum, in dem eine Konsensbildung im Hinblick auf ethische Fragen zu geschehen hat.
Die Bischofskonferenz fordert die Verantwortlichen in der Gesellschaft auf, im Zusammenhang von Lebensfragen anderen als wirtschaftlichen Kriterien den Vorrang zu geben. Besonders die Kostenträger im Gesundheitswesen sind aufgefordert, alles zu unterlassen, was als Druck auf mögliche Eltern erscheinen könnte. Genauso wenig dürfen Arbeitgeber von Arbeitnehmern einen Gentest anfordern etwa im Hinblick auf künftige Krankheiten.
Kranke und behinderte Menschen haben ein Recht auf Leben und sind Träger derselben Würde wie die "Gesunden" - wobei die Grenzen zwischen gesund und krank, behindert und nicht behindert fließend sind.
Eltern, die sich bewusst für die Geburt eines behinderten oder erblich belasteten Kindes entscheiden, haben ein Recht auf Respekt für ihre Entscheidung, und sie haben Anspruch auf Solidarität (biblisch: Liebe) der Gesellschaft.
Die Kirchen sind aufgefordert, sich in die Debatte weiterhin mit ihrer unverwechselbaren Stimme einzubringen. Gleichzeitig gilt ihre besondere Solidarität den betroffenen Müttern und Vätern, denen sie sich begleitend und beratend zuwendet.

4. Schlusswort

Die Bischofskonferenz begrüßt es, dass die Debatte um Fragen der Bioethik seit einigen Monaten auf breiter Basis und auf hohem Niveau geführt wird. Sie erkennt, dass die anstehenden Fragen in medizinisch-wissenschaftlicher wie auch in theologisch-ethischer Hinsicht sehr komplex sind. Gründliche Information ist nötig, schnelle und einfache Antworten sind der Komplexität des Themas nicht angemessen.

Mit dem Vertrauen auf die dem Menschen durch Gott gegebenen Würde, mit der Bindung des Gewissens von Eltern, Forschern und Gesellschaft an Gottes Gebot wie ans Evangelium und mit dem Gebot der Nächstenliebe besonders im Hinblick auf bedürftige Menschen meint sie jedoch, vorgegebene ethische Maßstäbe festhalten zu müssen, die in der konkreten Urteilsfindung tragfähig sind.

Christinnen und Christen verstehen ihr Leben als eine Gabe, die sie von Gott dankbar empfangen. Hierin gründet sich ihr grundsätzliches und vorbehaltloses Ja zu allem Leben. In dieses Ja eingeschlossen ist das Ja zur Unvollkommenheit eines jeden Menschen, die ihren tiefsten Ausdruck in seiner Sterblichkeit hat.
Leben bleibt immer Leben auf den Tod hin. In der natürlichen Möglichkeit, Leben weiterzugeben, hat der Mensch Anteil an Gottes schöpferischem Wirken. Die Zufälligkeit der Vermischung von Erbanlagen, die hierbei wirksam wird, wird gerne angenommen.

Die Kirchen der VELKD sind bereit, sich weiterhin an der Urteilsbildung in bioethischen Fragen zu beteiligen. In der Beratung und Begleitung von Menschen, die im Zusammenhang mit den angesprochenen Fragen in Gewissenskonflikte kommen, sehen sie für sich selbst eine dringende Aufgabe.

Rothenburg, den 13. März 2001