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Evolution

Danke, Darwin!

Von Jürgen Neffe © DIE ZEIT, 31.12.2008 Nr. 02

Wie auch immer die Geschichtsbücher die Ära Obama einmal bewerten mögen: Allein sein Sieg symbolisiert einen Schritt aus dem Schatten jenes Mannes, der unser Sein und Bewusstsein nachhaltiger geprägt hat als jeder politische Führer. Es war Charles Darwin, der den Menschen ihre natürliche Herkunft erklärte und »eine Zukunft von riesiger Dauer« prophezeite, in der sie »immer mehr nach Vervollkommnung streben«. Aber es war auch Darwin, der das Schicksal seiner Spezies dem Primat der Biologie unterwarf und ihrer Entwicklung damit einen gewaltigen Stolperstein in den Weg schob. Seine Evolutionstheorie leistete und leistet einem Denken Vorschub, das die Wahl eines Halbschwarzen aus kleinen Verhältnissen zum mächtigsten Politiker der Welt noch vor Kurzem utopisch erscheinen ließ.

Darwins Schatten überragt seinen Namen um genau fünf Buchstaben: ismus. Sie trennen Wissenschaft von Weltanschauung, Idee von Ideologie, Biologie von Biologismus. Keinem Naturforscher seines Ranges, keinem Newton, Einstein oder Heisenberg wurde je die Ehre zuteil, als Begründer eines Ismus in die Geschichte einzugehen. Doch dafür zahlt Darwin posthum einen hohen Preis: Unter Biologen gehört es zwar nach wie vor zum guten Ton, sich als Anhänger seiner Theorien zu bekennen und damit vom Kreationismus abzugrenzen. Im gängigen Sprachgebrauch jedoch steht Darwinismus für Sozialdarwinismus, für Ellbogen und das Recht des Stärkeren im allgegenwärtigen Verdrängungswettbewerb. Wer jemand anderen einen Darwinisten nennt, meint das in der Regel nicht freundlich. Je darwinistischer eine Gesellschaft daherkommt, desto egoistischer, unsozialer, kälter steht sie da.

Wenn in diesen Tagen von einer Krise der Märkte, ja des Kapitalismus die Rede ist, dann steckt dahinter auch die Krise eines Darwinismus der Konkurrenz und Eigensucht – und zwar nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Biologie. Für den Freiburger Neurobiologen Joachim Bauer ist »der Darwinismus mittlerweile zu einer Art Albtraum geworden«. Der Physiker und Zivilisationsforscher Freeman Dyson ruft »das Ende des Darwinschen Zeitalters« aus. Und Jürgen Habermas erklärt die »sozialdarwinistisch enthemmte Weltpolitik« zum Ausläufermodell.

Aber was hat Darwin damit zu tun? Werden ihm die fünf Buchstaben unverdient angehängt, oder trägt der (Sozial-)Darwinismus seinen Namen zu Recht? Unterliegen Gesellschaften tatsächlich seinem biologischen Grundgesetz, oder wirken im menschlichen Miteinander Mechanismen jenseits der Biologie? Wie viel Schuld trägt Darwin daran, dass er wie kein zweiter Wissenschaftler zur Reizfigur geworden ist?

Seine historische Leistung ist unbestritten: Als Erster formulierte Darwin eine weltumspannende Theorie des Lebens. Er beschrieb die kreative Kraft des Todes, ohne den es keinen evolutionären Fortschritt gäbe. Er stellte die menschliche Existenz auf eine natürliche, materielle Grundlage. Seit Veröffentlichung seiner Evolutionslehre wissen wir, was die Welt des Lebendigen im Innersten zusammenhält: ihre Entwicklungsgeschichte.

Nach der Theorie der »gemeinsamen Abstammung«, Darwins bleibendem Vermächtnis, gehen alle Kreaturen auf ein und denselben Ursprung zurück. Indem er einen plausiblen Mechanismus für den Evolutionsvorgang lieferte, forderte er wie keiner vor ihm die Schöpfungsgeschichte heraus, das zu seiner Zeit gängige Erklärungsmodell für den Ursprung der Arten. Nicht ein planender Gott hat Darwin zufolge die überbordende Vielfalt des Lebens erschaffen, sondern ein planloser Prozess namens »natürliche Auslese«, in dem sich Zufall und Notwendigkeit produktiv ergänzen.

Die Analyse des Kapitalismus steht Modell für die Evolutionstheorie

Wenn man so will, geht Darwins Dilemma auf Geburtsfehler seiner Theorie zurück, ohne die sie im 19. Jahrhundert nicht hätte entstehen können. Nachdem er anhand fossiler und moderner Arten deren Wandelbarkeit durch Evolution erkennt, vergleicht er den evolutionären Vorgang mit der Züchtung von Pflanzen und Tieren. Die Modifizierung von Arten sei nichts anderes als gesteuerte, beschleunigte Evolution. Kollegen weisen Darwin darauf hin, dass künstliche und natürliche »Zuchtwahl« sich grundlegend unterscheiden. Bei der einen wird mit (menschlichem) Wissen und Willen bewusst ein Ziel angesteuert, der anderen fehlen Ziel und ordnende Hand – wenn nicht, wie von Verfechtern eines »Intelligent Design«, der Schöpfer durch die Hintertür ins Spiel gebracht wird.

Da in jeder Generation im Durchschnitt eher die schlechter Angepassten von der Fortpflanzung ausgeschlossen sind, findet in freier Wildbahn auch keine positive Selektion statt wie bei der Zucht, sondern in der Regel negative. Würden Züchter so verfahren wie die Natur, müssten sie sehr lange auf Erfolge warten – wenn sich überhaupt je welche einstellen würden. Pinscher oder Doggen, Turboweizen oder Superkühe hätte die biologische Evolution von sich aus niemals hervorgebracht. Sie sind Produkte der Kultur.

Im nächsten Schritt holt Darwin zu seinem deduktiven Geniestreich aus. Er verknüpft seine Erkenntnisse aus der Zucht mit der Bevölkerungstheorie eines Nationalökonomen, also ebenfalls einem auf den Menschen gemünzten Gedankengebäude. Wenn sich, so sein Landsmann Thomas Malthus Ende des 18. Jahrhunderts, die Menschheit exponentiell vermehrt und innerhalb einer Generation verdoppelt, wenn aber gleichzeitig die Nahrungsproduktion nur linear ansteigt, dann kommt irgendwann zwangsläufig der Punkt, an dem nicht mehr alle genug zu essen haben.

Malthus sagt Hungerkatastrophen voraus mit dramatischen Folgen wie Krankheit, Krieg und Kannibalismus. Nur die Stärksten würden den Kampf ums Dasein überleben. Darin lebt das bellum omnium contra omnes des Philosophen Thomas Hobbes wieder auf, der Krieg aller gegen alle, der heute Konkurrenzgesellschaft heißt. Die politische Lehre aus Malthus’ Analyse gehört zu den einflussreichsten des 19. Jahrhunderts: Im Widerspruch zum Geist der Französischen Revolution wendet er sich gegen jede Art von Sozialtransfer, da Almosen die Armen nur zu mehr Nachwuchs ermunterten.

Darwin überträgt den malthusischen struggle for existence auf die Natur. So steht die ökonomische Analyse des Manchester-Kapitalismus gewissermaßen Modell für die Theorie biologischer Evolution – vom Konkurrenzkampf, jeder gegen jeden, über die Selektionsmechanismen des Marktes bis zur Entstehung neuer Nischen oder Produkte. Lebewesen werden zu Objekten der Evolution, die eine unbestechliche Warenkontrolle einem Bio-Ranking unterwirft. Der heutige Sozialdarwinismus macht im Grunde nichts anderes, als die frühkapitalistische Wirtschaftsideologie über eine wissenschaftliche Theorie wieder auf die Gesellschaft zurückzuspiegeln – und ihr damit scheinbar zu einem naturgesetzlichen Fundament zu verhelfen.

Als er sich in seinem Werk dem Menschen nähert, folgt Darwin der Logik seiner eigenen Entdeckungen. Da Homo sapiens als »noch nicht festgestelltes Tier« (Nietzsche) wie alle Lebewesen den Gesetzen der biologischen Evolution unterliegt, muss auch alles, was den Menschen ausmacht, durch die Mühle der natürlichen Auslese gegangen sein. Darwin glaubt, in heutiger Sprechweise ausgedrückt, dass kulturelle Unterschiede genetisch fixiert sind, dass Gene unser Verhalten steuern und dass sich umgekehrt das Verhalten in den Genen niederschlägt. An seinem Lebensende bekennt er: »Ich bin geneigt, mit Francis Galton« – seinem Vetter, dem die Eugenik zugeschrieben wird – »darin übereinzustimmen, dass Erziehung und Umgebung nur eine geringe Wirkung auf den Geist eines jeden ausüben und dass die meisten unserer Eigenschaften angeboren sind.«

Das »survival of the fittest« ist eine Tautologie: Sieger ist, wer gesiegt hat

Hier liegt die Ursache für Darwins blinden Fleck: Er verkennt die Macht der kulturellen Evolution, die sich spätestens mit der Sesshaftwerdung des Menschen über die biologische Evolution zu erheben begann. Anders als seine nächsten Verwandten kann Homo sapiens die verfügbare Nahrungsmenge über ihre natürlichen Grenzen steigern. Ohne Ackerbau und Viehzucht, ohne Züchtung und Lebensmitteltechnologie hätte unsere Art schon die Mitgliederzahl von einer Milliarde zu Darwins Zeiten niemals erreicht.

Seither hat die Menschheit mit kulturellen Errungenschaften, mit medizinischem und technischem Fortschritt, ihre Zahl auf bald sieben Milliarden gesteigert und die biologische Evolution mehr und mehr überwunden. Die wichtigste Voraussetzung für die natürliche Auslese – eine Überzahl an Nachkommen, von denen sich im Schnitt nur ein Teil weitervermehrt – ist in modernen Gesellschaften immer weniger gegeben. Mit zwei Kindern pro Paar und einer Überlebensrate bei Neugeborenen nahe hundert Prozent ist die Selektion im Darwinschen Sinne praktisch zum Erliegen gekommen. Jedenfalls spielt die biologische neben der ungleich effektiveren kulturellen Evolution kaum eine nennenswerte Rolle.

So wie Darwin Natur über Kultur erhebt, das Angeborene über das Erworbene, räumt er seinen Artgenossen nur wenig Entwicklungsspielraum ein: Menschen sind gut oder böse, arm oder reich, über- oder unterlegen, weil die Biologie sie so gemacht hat. Heute wissen wir, dass die biologische Evolution der kulturellen mit jedem neugeborenen Menschen ein hochempfindliches, in viele Richtungen formbares Wesen übergibt. Ob jemand Erfolg hat oder nicht, gewalttätig wird oder friedlich, geistig wach oder träge, hängt wesentlich davon ab, welche Nahrung ihm früh zuteil geworden ist – ob Essen oder Wissen, sozialer Umgang oder Seelenwärme. Je mehr Chancen ein Mensch früh erhält, desto mehr wird er später auch haben. Doch genau diese Form von Chancengleichheit gesteht der Darwinismus den Menschen nicht zu, und zwar durchaus in Darwins Sinn.

Die fünf Buchstaben seines Schattens haben ihren Ursprung in einer Tautologie, dem survival of the fittest. Den Kampf ums Dasein, sagt er, überleben die Tauglichsten, korrekter gesagt, die am besten Angepassten. Oder als tautologische Beschreibung des Status quo: Sieger ist, wer gesiegt hat. Die Formel gehört zu den folgenreichsten, die je ein Forscher zu Papier gebracht hat. Sie geht allerdings nicht auf Darwin zurück, sondern auf den Soziologen Herbert Spencer – und damit wiederum auf ein Gesellschaftsmodell.

Spencer gilt als Begründer des Sozialdarwinismus, obwohl er dessen heutige Thesen nie geteilt hätte. Er glaubt an kulturelle Evolution, an Evolution total, vom All bis in die Seele, vom Molekül bis zur Moral. Krankes, Schwaches und Entartetes merzt sich im Daseinskampf selbst aus, das Bessere ist der Feind des Guten. In Darwins Entstehung der Arten von 1859 findet er das gesuchte Stück Biologie für seine Weltanschauung.

Darwin übernimmt die Sprechweise vom survival of the fittest erst ein paar Jahre später. In seinem Hauptwerk taucht sie erstmals in der fünften Auflage 1869 auf. Da schreibt er bereits an seinem Nachfolgebuch über Die Abstammung des Menschen. Darin äußert er sich, in Anlehnung an Malthus, auch politisch: »Alle sollten sich des Heiratens enthalten, welche ihren Kindern die größte Armut nicht ersparen können. Die Armut ist nicht nur ein Übel, sondern führt auch zu ihrer eigenen Vergrößerung.« Gleichzeitig räumt er ein, »dass ich in den früheren Ausgaben meiner Entstehung der Arten wahrscheinlich der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl oder des Überlebens des Passendsten zu viel zugeschrieben habe … dies ist eines der größten Versehen, welches ich bis jetzt in meinem Werk entdeckt habe«. Doch da ist der Geist schon aus der Flasche. Er beherrscht bis heute, auch unausgesprochen, den gesellschaftlichen Diskurs.

Der Biologe Ernst Haeckel verbreitet Darwins Lehre noch zu dessen Lebzeiten wie kaum ein anderer, vor allem in Deutschland. Haeckel macht die natürliche Auslese zum Teil einer »universellen Entwicklungstheorie, die in ihrer enormen Spannweite das ganze Gebiet des menschlichen Wissens umfasst«. Er stellt biologischen Darwinismus in den Dienst politischer Ideologie, erklärt Selektion und Konkurrenz zur Grundlage gesellschaftlichen Fortschritts und versteht den deutschen Nationalstaat als darwinistisches Projekt. Und wie kein anderer verschafft er dem Rassismus ein wissenschaftliches Fundament.

»Diese Naturmenschen«, schreibt er in seinen Lebenswundern, »stehen in psychologischer Hinsicht näher den Säugethieren (Affen, Hunden), als dem hochcivilisirten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswerth ganz verschieden zu beurteilen.« Wenn es heißt, der Nationalsozialismus und andere Tyrannenregime beriefen sich auf Darwin, dann ist damit eigentlich Haeckel gemeint.

Schuld im Sinne von Vorsatz trifft Darwin nicht. Anders als Haeckel betrachtet er Menschen aller Hautfarben als Vertreter einer Art – und kämpft zeitlebens gegen Sklaverei als Besitz eines Menschen durch einen anderen. Gleichwohl sieht er im Geiste seiner Zeit »Rassen« auf unterschiedlichen biologischen Entwicklungsstufen – als seien die einen, zu denen er selbst gehört, durch natürliche Selektion höher gezüchtet. Die anderen, glaubt er fälschlicherweise, brauchen noch viele Generationen, bis sie seinen Stand erreichen. In den Differenzen sieht er sogar »Beweise, dass alle zivilisierten Nationen einst Barbaren waren«.

Heute wissen wir, dass der Begriff »Rasse«, wie ihn Züchter benutzen, auf Menschen übertragen, keinen Sinn ergibt. Unsere Spezies ist trotz Eugenik und Rassenwahn kein Resultat gezielter Züchtung. Eher entsprechen wir alle Promenadenmischungen, die sich innerhalb einer Population individuell mehr unterscheiden können als von Kontinent zu Kontinent.

Barack Obama als Mischling mit europäischstämmiger Mutter und afrikanischem Vater überbrückt den Rubikon der Rassen in idealer Weise. Mit ihm erhält das Zeitalter des Postrassismus ein Gesicht. Seinen Triumph verdankt er nicht geerbten Privilegien, sondern ererbten Begabungen und der Chance, sie durch gute Bildung zu entwickeln. Er liefert den lebendigen Beweis für die Richtigkeit eines der wichtigsten Prinzipien zur Befriedung der Welt: Chancengleichheit mit gesellschaftlicher Durchlässigkeit.

Anders als Obama kam Darwin nicht von unten. Er entstammt einer privilegierten, wohlhabenden Bürgerfamilie. Erfolg und Ruhm hat er weniger seinen Genen als dem Geld seines Vaters zu verdanken. Wäre er in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, hätte er sich trotz seiner Begabung vermutlich eher als Arbeiter in einer Fabrik oder Kohlengrube wiedergefunden.

Dass dies allerdings auch zu seiner Zeit schon keine Naturnotwendigkeit mehr war, zeigt der Lebensweg seines Kontrahenten Alfred Russel Wallace. Der Sohn aus armem Elternhaus bildete sich autodidaktisch zum Naturforscher aus und entwickelte unabhängig von Darwin dieselben Ideen einer Evolution durch Modifikation und Selektion. Doch während der menschliche Körper, so Wallace, seine Evolution weitgehend abgeschlossen hat (eine sehr moderne Auffassung), entwickelt sich ihm zufolge der menschliche Geist weiter und erhebt sich über die biologische Selektion.

Nicht Darwin, sondern der Mann im Blendschatten seines Ruhms begreift den entscheidenden Punkt: Kulturelle Evolution läuft nicht darwinistisch ab, sondern lamarckistisch; Eigenschaften wie Sprache, Werkzeuggebrauch, medizinische Kenntnisse oder Mythologie werden kulturell tradiert, nicht über Gene. Information fließt schneller als Blut.

Das darwinistische Programm findet seine moderne Fortsetzung in der Soziobiologie, die tierisches wie menschliches Verhalten evolutionsbiologisch zu erklären versucht. Darin lebt Darwins Idee auf, neben körperlichen Merkmalen auch Geistiges über die Mechanismen der biologischen Evolution zu erklären – und ihr damit die kulturelle unterzuordnen. »Gerade in seiner Kultur zeigt sich des Menschen Natur«, erklärt der Gießener Biophilosoph Eckart Voland. »Sie mögen außergewöhnlich lernfähig sein, aber dass Menschen deshalb belehrbar wären, heißt das nicht. Das ist im Kern die Auffassung der Soziobiologie.« Der Mensch ist schlecht, er kann nicht anders.

Soziobiologen und ihre jüngsten Ableger, die Evolutionspsychologen, werfen uns auf Steinzeitniveau zurück und behaupten (ohne Beweise liefern zu können), unser heutiges Verhalten habe sich im Wesentlichen als biologische Anpassung an die damaligen Verhältnisse entwickelt. Ihr Argument folgt der darwinistischen Denkweise: Da es existiert, muss es sich als vorteilhaft durchgesetzt haben – auch Gier oder Pädophilie, Fremden- oder Frauenfeindlichkeit. Da heißt es, Vergewaltigung sei eine »während der Stammesgeschichte begünstigte Spezialisation«, da wird das Gewaltverhalten der Männer in einer Weise für evolutionär erklärt, dass es fast wie ein Freispruch klingt. Denn schuld sind – die Gene!

Niemand wird die herausragende Rolle von (angeborenen) Instinkten für das menschliche Handeln bestreiten. Wir sind ja nicht sexuell erregt oder erleben bei Gefahr Adrenalinschübe, weil uns das jemand beigebracht hat. Aber deshalb gleich zu behaupten, wir seien die Marionetten jener Gene, die sich bei unseren frühesten Vorfahren als vorteilhaft durchgesetzt haben, verleugnet den Einfluss von Zivilisation und Kultur.

Genau dies machte im Prinzip der britische Biologe Richard Dawkins, als er 1976 die Debatte mit seiner gleichermaßen originellen wie gefährlichen Hypothese vom »egoistischen Gen« zuspitzte. »Wir sind Überlebensmaschinen – Roboter, die blind darauf programmiert sind, diese egoistischen kleinen Moleküle zu erhalten, die gemeinhin als Gene bekannt sind.« Damit folgte Dawkins direkt dem Gedanken des survival of the fittest: Die Gene, die uns formen, haben sich gegen alle anderen Konkurrenten durchgesetzt. Sie »kämpfen« gegeneinander in Form der Organismen, deren Eigenschaften sie bestimmen.

In Wahrheit »machen« Gene aber nichts, genauso wenig wie Texte von sich aus etwas machen. Allenfalls wird mit ihnen etwas gemacht, wenn sie »gelesen« werden. Biologische Systeme als die eigentlichen Akteure bedienen sich des Genoms, um ihre Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten und sich an äußere Umstände anzupassen, nicht umgekehrt. Sie können sogar, etwa durch »springende Gene«, den Evolutionsprozess aktiv vorantreiben und damit unter Umständen ihre Art retten.

Darwin würde diese moderne Sicht der Biologie wahrscheinlich begrüßen. Er selbst vermutete bereits, dass die natürliche Auslese nicht der einzige Evolutionsmechanismus bleiben wird, hielt sie aber für die entscheidende und treibende Kraft. Seine Entdeckung hat bis heute Bestand. Sie lässt sich in Experimenten nachvollziehen und sogar im Freiland beobachten. Weniger hätte es ihm wohl gefallen, dass sie mittlerweile mehr wie ein kräftiges Hintergrundrauschen der Evolution erscheint, während andere Mechanismen die Sprünge und wahrhaft großen Entwicklungsschübe auslösen.

Damit verliert ein weiterer Bereich der Theorie, auf den sich der Sozialdarwinismus stützt, an Bedeutung: Fortschritt sei vor allem ein Resultat der Konkurrenz unter Individuen. Heute wird in biologischen Systemen eher Kooperation als bestimmendes Prinzip angesehen, und zwar auf jeder Entwicklungsstufe: Moleküle bilden Zellen, die in Geweben und Organen zusammenarbeiten, die ihrerseits dem Organismus dienen, der sich als Teil seiner Gemeinschaft in Ökosystem und Biosphäre fügt.

Darwin verstand Kooperation nicht als Gegensatz zur natürlichen Auslese, sondern als ihr Resultat. In der ultradarwinistischen Lesart von Dawkins hat sich das Ganze nur auf die Stufe der Gene verlagert. Auch Zusammenhalt und Altruismus gehen in seinem Weltbild letztendlich auf egoistische Motive zurück. Dass sich seine Hypothese trotz zunehmender Kritik aus der Fachwelt weiterhin großer Popularität erfreut, hat wiederum mit einem Spiegelphänomen zu tun: In ihr erkennt sich jener Teil der Gesellschaft wieder, der sich aufseiten der Sieger sieht und das Gedankengut des Sozialdarwinismus als natürliche Rechtfertigung seiner Privilegien benutzt.

Vom längst noch nicht gängigen Gegenmodell, einem sozialen Darwinismus, in dem eher Entwicklungschancen über die Rolle im Leben entscheiden als die Herkunft, hat Barack Obama profitiert – und als Beteiligte an seinem Erfolg auch Gattin Michelle, die es aus ärmsten Verhältnissen über Harvard zur erfolgreichen Anwältin gebracht hat. Mit ihrem Sieg verkörpern die Obamas nicht nur eine Überwindung der Rassen-, sondern auch der Klassengrenzen. Zu Ende gedacht, wenn jeder vergleichbare Möglichkeiten erhielte wie sie, entstünde keine Gleichmacherei, sondern gleiches Recht für alle – und zwar durchaus mit Darwins Segen:

»Es muss für alle Menschen offene Konkurrenz bestehen«, schreibt er in der Abstammung des Menschen, »und es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder Gebräuche daran verhindert werden, den größten Erfolg zu haben und die größte Zahl von Nachkommen aufzuziehen.« Nur dass er mit den Fähigsten vor allem sich und seinesgleichen meint.

Barack Obama hat mit seinem Ruf nach change den evolutionären Wandel ins Zentrum seiner Kampagne gerückt. Gerade zwei Jahre war er alt, als Martin Luther King der Welt seinen Traum verkündete. Nicht einmal ein halbes Menschenleben später hat Obama ihn wahr gemacht – wie zum Beweis für die Durchschlagskraft der kulturellen Evolution. Seinen Sieg verdankt er nicht zuletzt einem von weltweiter Sympathie getragenen Kollektivgeist. Damit hat er auch dem ureigensten biologischen Prinzip der Kooperation zu einem Durchbruch verholfen – ein großer Schritt vom Ich zum Wir. Nicht »I can« heißt es bei ihm, sondern »we can«.

Jürgen Neffe ist Autor der Reise-Biografie »Darwin. Das Abenteuer des Lebens« (C. Bertelsmann Verlag, 2008)